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EU: Griff nach der Staatsmacht über die Industriepolitik

Der Italiener Mario Draghi ist einer derjenigen, die die Zentralisierung der EU stetig weiter vorantreiben. Der unter seiner Ägide erstellte Bericht „Die Zukunft europäischer Wettbewerbsfähigkeit“ ist gewissermaßen der Speiseplan der kommenden Entwicklungen.

Von Dagmar Henn

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Teil 1

Erstveröffentlichung am 16.11.2024  auf RT DE

Wenn versucht wird, größere politische Veränderungen durchzusetzen, erfolgt das in den letzten Jahren immer nach dem gleichen Schema: erst gibt es irgendwelche, sich unschuldig wissenschaftlich gebende Papiere, die dann kurz in der Öffentlichkeit auftauchen, mit einer relativ oberflächlichen Behandlung. Dann, mit einigem Zeitabstand, tauchen einzelne Aspekte daraus wieder auf, dann schon in Gestalt einer politischen „Debatte“. Und zuletzt wird das Ganze umgesetzt, wobei zu diesem Zeitpunkt der Inhalt des Papiers bereits als „wissenschaftlich“ gilt.

Der Draghi-Report, der im September veröffentlicht wurde, befindet sich gerade auf der zweiten Stufe, die Vorstellungen, die darin enthalten sind, werden in die Öffentlichkeit geschoben, wenn auch vorerst noch in Medien wie der Financial Times. Aber die Verbreitung in popularisierter Form, mit der davor gesetzten Behauptung „wir müssen“ wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Tatsache, dass die beiden zentralen EU-Länder Frankreich und Deutschland politisch wie ökonomisch deutlich geschwächt sind, bietet eine allzu gute Gelegenheit für die Brüsseler Pläne.

Auch wenn Friedrich Merz, der wohl ab 2025 den Bundeskanzler geben dürfte, sich noch im September gegen EU-Bonds ausgesprochen hatte, die Teil der Draghi-Pläne sind, einige andere Punkte dürfte er gerne unterschreiben; sein Widerstand gegen eine weitere Entwicklung der EU in Richtung eines europäischen Staatsapparats ist eben kein prinzipieller. Schließlich hat er selbst zwei der Stichworte aus dem Draghi-Papier aufgegriffen – Europa wettbewerbsfähiger zu machen und den Binnenmarkt zu vereinheitlichen. Und beim EU-Gipfel vor wenigen Tagen in Budapest waren die Ergebnisse dieses Berichts ebenfalls Thema.

Der Report, der unter Leitung des italienischen ehemaligen EZB-Chefs erstellt wurde, trägt den Titel „Die Zukunft europäischer Wettbewerbsfähigkeit“ und soll eine „Strategie für Europa“ liefern. Soweit überhaupt bisher darauf eingegangen wurde, beschäftigte sich das mit den vorgeschlagenen Schlussfolgerungen; aber das wirkliche Problem mit diesem Bericht liegt in den Vorstellungen, von denen die Überlegungen ausgehen.

Ein kleines Beispiel: es wird ausführlich beklagt, dass die hohen Energiepreise in Europa die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie beeinträchtigen. Dabei wird – das ist man ja aus der europäischen Presse schon so gewöhnt – so getan, als wäre diese Entwicklung vom Himmel gefallen. Bezogen auf die russischen Erdgaslieferungen steht dort etwa:

„Aber diese Quelle relativ güstiger Energie ist nun, unter enormen Kosten für Europa, verschwunden. Die EU hat mehr als ein Jahr Wachstum des GDP verloren und musste dabei enorme fiskalische Ressourcen in Subventionen für Energie und den Bau neuer Infrastruktur für den Import von LNG-Gas umlenken.“

Womit die EU selbst natürlich rein gar nichts zu tun hat; ebensowenig wie mit dieser hübschen Grafik zur Volatilität von Erdgaspreisen:

Volatilität des Erdgaspreises (EU-Kommission, Draghi-Report)

Wie man sehen kann, die Ausschläge hielten sich bis weit ins Jahr 2019 in Grenzen. Und dann werden sie größer. Die Voraussetzungen dafür wurden allerdings im Jahr 2011 geschaffen – durch die EU, durch die Einführung des Spotmarkts für Erdgas, der, das ist nun einmal das Wesen derartiger Märkte, jede Form krisenhafter Entwicklung vervielfacht, die sich andernfalls, bei den klassischen langfristigen Verträgen, wenn überhaupt nur mit großer Verzögerung abgebildet hätte.Das ist schon der erste Punkt, den man wissen muss, und er taucht im Zusammenhang mit diesem Bericht immer wieder auf – was auch immer die Konsequenz des Handelns der EU selber ist, wird, selbst wenn die Ergebnisse kritisiert werden, nie als solches benannt. Denn die Option, irgendeine dieser Entwicklungen umzukehren oder die erkannten Fehler zu korrigieren, wird nie auch nur gedacht, und soll auch vom Leser nicht gedacht werden.

Und dann gibt es die Grundbedingungen, von denen alle Überlegungen ausgehen. Die erste ist, dass die europäische Wirtschaft unbedingt im Wettbewerb mit den USA und China bestehen müsse. Wobei auch diese Überlegung inkonsequent umgesetzt wird, denn falls beide gleichermaßen Konkurrenten sind, müsste man sich bei beiden die gleichen Sorgen machen. Aber es gibt ja durchaus andere Konzepte globaler Wirtschaftsbeziehungen; die berühmte Vorstellung von wechselseitig vorteilhaften Beziehungen ist bis in die EU allerdings noch nicht vorgedrungen.

Die nächste Grundvorstellung, die an entscheidenden Stellen deutlich in die falsche Richtung führt, ist die, das GDP der Vereinigten Staaten so zu akzeptieren, wie es da steht. Es gibt eine einzige Stelle, beim Vergleich der Entwicklung des GDP in den USA und in Europa, an dem zumindest auch ein Vergleich nach Kaufkraftparität stattfindet; wobei dadurch statt eines Abstands von 30 Prozent nur noch ein Abstand von 12 Prozent besteht.

Das ist schon allein deshalb problematisch, weil ein zentrales Argument des Berichts lautet, Europa sei in der Entwicklung der Produktivität hinter die USA zurückgefallen, bei dieser „Produktivität“ aber auch Immobilien- und Finanzmarkt mitgezählt werden, was dann, welch Überraschung, zu der Forderung führt, wieder zu deregulieren; es sich dabei aber um Tätigkeiten handelt, die wenig mit der Realwirtschaft zu tun haben. Ebenso wenig wie das, was ein weiteres Hauptargument ist:

„Nur vier der führenden 50 Technologieunternehmen sind europäisch, und die globale Position der EU in Technologie hat sich von 2013 bis 2023 verschlechtert, ihr Anteil am globalen Technologieertrag fiel von 22 Prozent auf 18 Prozent, während der Anteil der USA von 30 Prozent auf 38 Prozent stieg.“

Dazu gehören natürlich die berühmten IT-Unternehmen wie Google, Meta und Amazon; aber deren vermeintlicher Unternehmenswert, der ebenfalls als Argument für den europäischen Rückstand angeführt wird, beruht darauf, dass sie den Staubsauger bilden, der all die von der FED geschaffene Liquidität aufsaugt. Sicher, im Allgemeinen wird immer so getan, als redeten wir hier von realen Werten; letzten Endes beruhen sie aber auf der Fähigkeit der USA, Geld nach Belieben aus dem Nichts zu schaffen, die wiederum ihre Grundlage in genau jener politisch-militärischen Hegemonie hat, die gerade zerfällt. Es ist vor allem diese Eigenschaft, die die EU vielleicht gerne für sich beanspruchen würde, aber nicht kann.

Was sich natürlich auch bei einem weiteren Kernargument bemerkbar macht:

„Langsameres Produktivitätswachstum wiederum wird mit dem langsameren Anstieg der Einkommen und schwächerer Binnennachfrage in Europa assoziiert: pro Kopf berechnet, ist das Einkommens seit 2000 in den USA beinahe doppelt so stark gewachsen wie in der EU.“

Bezogen auf die Lebensgrundlage der breiten Bevölkerung ist das reiner Unfug. Denn wenn es eines gibt, in dem die EU und die USA sich fast identisch entwickeln, dann darin, dass Einkommenszuwächse maximal die obersten 10 Prozent der Bevölkerung erreichen, aber vor allem an das oberste Promille gingen; die normale Bevölkerung aber weitgehend leer ausgeht.

Ein Detail, das in Bezug auf Innovation höchst auffällig ist, wenn man die industriepolitische Debatte vor mehr als einem Jahrzehnt im Blick hat, ist, dass das damals dominante Konzept vollautomatisierter Produktion, bekannt unter dem Schlagwort Industrie 4.0, so gut wie nirgends umgesetzt wurde. In der dafür erforderlichen Technik, der Robotik, sind EU-Länder bis heute führend.

Aber wer die entsprechenden Studien der UN gelesen hat, die damals veröffentlicht wurden, weiß auch, warum an dieser Stelle, die eigentlich einen Kernbereich von Innovation betrifft, nichts passiert ist: die Prognosen lauteten auf 50 Prozent weniger Arbeitsplätze in den Industrie- und 80 Prozent weniger in den Entwicklungsländern. Weil dadurch die produzierten Waren nicht mehr absetzbar wären, ist an diesem Punkt seitdem Stillstand angesagt. Der Draghi-Bericht weiß davon nichts.

Interessant ist, dass ein Mangel an Industriepolitik beklagt wird. Das ist tatsächlich ein Umschwung – ohne dass er als solcher erwähnt wird. Als Ziel der EU galt bisher der maximale Wettbewerb zwischen den einzelnen Mitgliedsländern, und im Interesse eben dieses Wettbewerbs wurden viele Dinge untersagt, die klassische Industriepolitik im Sinne einer gezielten Industrieentwicklung ausgemacht haben. Von Zollpolitik muss man gar nicht erst reden (obwohl mit politischen Ausreden seit einigen Jahren wieder allerlei Schutzzölle eingeführt werden, seit die westliche Dominanz abnimmt); aber auch Industrieförderung über Bildung, Forschung und staatliche Nachfrage wurde gerade durch die Wettbewerbsvorgaben der EU auf staatlicher Ebene geradezu sabotiert.

Ebenso, wie die Probleme, die der Bericht auf der Ebene der Infrastruktur feststellt, auch ein Ergebnis der Privatisierungen sind, die auch Teil der EU-Ideologie sind:

„Die EU fällt zurück in der Bereitstellung modernster Infrastruktur, die nötig ist, um die Digitalisierung der Wirtschaft zu ermöglichen.“

In Momenten technologischer Umbrüche, wie dem Bedarf nach hochleistungsfähigen Datennetzen, ist es weit eher als zwanzig konkurrierende Privatunternehmen der staatliche Monopolist, der für den nächsten technologischen Schritt sorgen kann. Nicht umsonst waren die großen Netzentwicklungen der Vergangenheit, ob Eisenbahn oder Strom und Straße, Motoren von Verstaatlichung und nicht von Privatisierung.

Nun stellt also ein Bericht im Auftrag der EU-Kommission fest, dass Europa hier an einigen Punkten hintendran ist, aber dreht diese Tatsache sofort in eine ganz andere Richtung: um dieses Problem zu lösen, brauche die EU unbedingt wesentlich mehr Macht und Geld.

Dabei wird die weitreichendste der Vorbedingungen sichtbar: der gesamte Wirtschaftsraum der EU wird betrachtet, als handele es sich dabei tatsächlich um einen einzigen Staat. Was, selbst wenn man die äußerst hässlichen Nebenwirkungen übergeht, die eine Entwicklung der EU zu eigener Staatlichkeit anstelle der Nationalstaaten mit sich brächte, noch auf ein ein weiteres kleines Problem stößt – die Wirklichkeit ist nicht so.

Allein eine gemeinsame Zollgrenze und in Teilen eine gemeinsame Währung ergeben noch lange keine wirtschaftliche Einheit; und wenn man die Forderung aufstellt, genau auf eine derartige wirtschaftliche Einheit zu zielen, sollte man zuvor die Frage zulassen, zu welchem Zweck? Weil man in einer von Kolonialismus beherrschten Welt entweder Kolonialherr ist oder Kolonie? Und ist die geopolitische Imitation der klassischen Comicfigur Isnogud („Ich will Kalif sein anstelle des Kalifen“) wirklich eine sinnvolle ökonomische Perspektive für die Menschen Europas?

„Industrielle Strategien heute kombinieren – wie man an den USA und China sehen kann – viele Ebenen der Politik und reichen von Steuerpolitik, um heimische Produktion zu ermutigen, über Handelspolitik, um wettbewerbswidriges Verhalten zu strafen, bis zur Wirtschaftsaußenpolitik, um Lieferketten zu sichern. (…) Im Kontext der EU erfordert es eines hohen Grads der Koordination zwischen den nationalen und den EU-Bemühungen, um diese Verbindung der politischen Ebenen zu erreichen. Aber aufgrund ihres langsamen und zergliederten politischen Entscheidungsprozesses ist die EU weniger im Stande, eine solche Antwort zu liefern.“

Dieses Argument kann man auch als eine ganz simple Erpressung zusammenfassen: schluckt den von uns angestrebten EU-Metastaat oder geht wirtschaftlich unter. Schließlich ist der entscheidende Unterschied zwischen China, den USA und der EU, dass die beiden ersten Staaten sind, wenn auch die historische Zeitspanne bei den USA vergleichsweise kurz ist – die EU allerdings keiner ist. Und selbst wenn die Brüsseler Bürokratie mit ihrem Streben den Willen der europäischen Bevölkerung erfüllte, statt ihre Krönungswünsche gegen deren Widerstand durchzusetzen, selbst wenn formal gesehen, unter Zuhilfenahme eines konstruierten externen Feindes, daraus technisch betrachtet ein Staat würde, wäre das dennoch nicht mit einer bereits etablierten Staatlichkeit vergleichbar.


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Teil 2

Erstveröffentlichung am 17.11.2024  auf RT DE

Der Drang in der EU und insbesondere in der EU-Kommission, sich von einem Verwaltungszentrum für einen Staatenbund in eine neue Form Staat zu verwandeln, ist noch lange nicht verwirklicht. Das hindert nicht daran, in Konzepten wie Draghis Strategiepapier sehr weitgehend staatliche Kompetenzen einzufordern:

„Gegenwärtig ist die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen eine nationale Zuständigkeit, und die Mitgliedsländer müssen nur Benachrichtigungen und Informationen austauschen. Diese Fragmentierung hindert die EU daran, ihre kollektive Macht in Verhandlungen über ausländische Direktinvestitionen zu nutzen und verkompliziert die Formulierung einer gemeinsamen Politik zu ausländischen Direktinvestitionen.“

Auch ohne diesen blinden Fleck gegenüber den USA – hier reden wir von einem weiteren Aspekt der Außenpolitik, den sich die EU aneignen will. Welche Konsequenzen es hat, derartige Kompetenzen abzugeben, dürften eigentlich die Folgen der Sanktionspolitik zu Genüge demonstriert haben. Wobei man sich im Zusammenhang mit der EU auch die Frage stellt, ob da nicht schlicht eine Konkurrenz um eventuelle freundliche Gaben am Werk ist; schließlich hat die EU-Kommission bereits hinlänglich bewiesen, Korruption weniger zu bekämpfen als zu zentralisieren.

Wie wenig die Analyse (an der, wie die Danksagung belegt, so ziemlich jeder größere Konzern in der EU beteiligt war), auf tatsächliche Kenntnisse über die Hintergründe wirtschaftlicher Prozesse zurückgreifen kann, bestätigt folgende Beschwerde:

„Europa tritt in die erste Phase in der modernen Geschichte ein, in der das Wachstum des GDP nicht durch ein anhaltendes Nettowachstum der Erwerbsbevölkerung gestützt wird.“

Bevölkerungswachstum ist nicht notwendigerweise eine Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum; Innovationsprozesse werden historisch eher durch einen Mangel an Arbeitskräften ausgelöst. Das klassische Beispiel hierfür ist die Entstehung des Fließbands. Es wurde im Schlachthof von Chicago erfunden, weil nicht genug Arbeitskräfte gefunden werden konnten. Tatsächlich beruhte der Vorsprung, den die Vereinigten Staaten bei industriellen Verfahren in bestimmten Bereichen besaßen, genau auf diesem Faktor, während man andererseits durchaus berechtigt davon ausgehen kann, dass ein Wachstum der Erwerbsbevölkerung durch Migration gleich aus zwei Gründen eher innovationsfeindlich ist – zum einen, weil damit der Druck zur technologischen Fortentwicklung vermindert wird, und zum anderen, weil der dadurch ausgelöste Druck auf die Löhne die potentielle Nachfrage verringert.

Die EU, so der Bericht, könne eben durch ihre Fragmentierung nicht mit der Förderung für Forschung und Entwicklung mithalten, wie sie die USA liefern könnten:

Hier sind gleich zwei Kernaussagen enthalten. Die erste lautet, die EU-Bürokratie sieht sich als Gegenstück zur US-amerikanischen Bundesregierung. Da möchte man gleich zum Texaner werden. Die zweite behauptet, ohne Beleg, es hätte einen qualitativen Vorteil, wenn diese staatlichen Mittel über die EU verteilt würden statt über die Nationalstaaten.

Eines der wichtigsten Argumente ist die Größenordnung. Es käme eben nicht genug Geld auf einem Haufen zusammen, und die nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen den nationalen Märkten würde es unnötig erschweren, dass neue Unternehmen wirklich groß werden könnten.

Nun, sicher, abgesehen von den unzähligen unterschiedlichen Regelungen gibt es eben auch materielle Unterschiede in den Konsumgewohnheiten, und die letztlich nicht unerhebliche Tatsache, dass nach wie vor verschiedene Sprachen gesprochen werden. Aber das, was heute einen einheitlichen Markt China bildet, entstand im Zeitraum von Jahrtausenden, während der einheitliche Markt USA das Produkt einer Siedlerkolonisation ist, die das zuvor vorhandene Unterschiedliche schlicht weitgehend ausrottete und durch eine anglo-germanische Mischkultur ersetzte.

Nachdem die EU bekanntlich Zwänge so liebt: auf welche Weise sollen dann die europäischen Völker zu einer einheitlichen Sprache genötigt werden? Schließlich sprechen wir hier nicht von einer Lingua Franca, die im Handel oder der Wissenschaft genutzt wird, diese Rolle erfüllten historisch bereits mehrere Sprachen. Aber für den einheitlichen Markt, der vorzuschweben scheint, müssten sämtliche bestehenden Unterschiede planiert werden, tief in die Bevölkerung hinein. Ist dann womöglich die bizarre Sprachpolitik der baltischen Staaten ein Probelauf?

Europa müsse, heißt es, unbedingt im Bereich der Künstlichen Intelligenz mitspielen. Noch ein Beispiel dafür, wie wenig Bewusstsein für die materiellen Voraussetzungen vorhanden ist:

„Vor allem wegen der erforderlichen Rechnerleistung wird geschätzt, dass die Kosten für die Ausbildung eines fortgeschrittenen KI-Modells in den letzten acht Jahren sich jährlich verdoppelt bis verdreifacht haben, was nahelegt, dass die Ausbildung von KI-Systemen der nächsten Generation bald 1 Milliarde US-Dollar kosten und bis Ende des Jahrzehnts 10 Milliarden US-Dollar erreichen könnte. Gleichzeitig wird der Einsatz von KI schnellere und sicherere Verbindungen mit geringeren Wartezeiten erfordern. Die EU bleibt aber hinter ihrem Ziel der Digitalen Dekade für Glasfaser- und 5G-Einsatz für 2030 zurück. Die Investitionen, die erforderlich sind, EU-Netzwerke zu unterstützen, werden auf etwa 200 Milliarden Euro geschätzt, um eine volle Abdeckung im Gigabit-Bereich und mit 5G in der ganzen EU zu erreichen. Aber die Pro-Kopf-Investitionen in Europa liegen deutlich niedriger als in anderen größeren Volkswirtschaften.“

Da ist die erste Randbemerkung, die einem durch den Kopf schießt, dass man für die Entwicklung von KI-Systemen eines nicht gebrauchen kann – unzuverlässige und teure Stromversorgung. Das zweite Problem: die tatsächliche Arbeit, diese gigantischen Rechner mit Informationen zu füttern, übernehmen überwiegend Arbeitskräfte in Indien. Was für die USA funktioniert, weil beide Enden der Leitung Englisch sprechen. Deshalb war es auch möglich, alle möglichen Hotlines dorthin zu verlagern. Selbst wenn man derartige Systeme auf europäischer Ebene entwickeln wollte, das erste zu bewältigende Problem heißt Sprachvielfalt. Das zweite nennt sich „Energiewende“ oder „Dekarbonisierung“; etwas, das auch dieser Bericht propagiert, aber das leider ganz und gar nicht mit den Fantasien über künstliche Intelligenz vereinbar ist.

„Es ist zu spät für die EU, es zu versuchen und systematische Herausforderer für die größeren Cloud-Dienste der USA zu entwickeln; die Investitionen dafür sind zu groß, und sie würden Ressourcen von Sektoren und Unternehmen abziehen, in denen die Innovationsaussichten der EU besser sind.“

Wenn man denn schon meint, mit den USA und China konkurrieren zu müssen, und in diesem Zusammenhang allerlei Sicherheitsanforderungen etwa an Rohstofflieferungen stellt, dann müsste man auf jeden Fall die gleichen Sicherheitsanforderungen im Datenbereich stellen. Was bedeutet: Cloudspeicher in den USA sind ein fundamentales Sicherheitsrisiko. Was sie tatsächlich sind. Man muss nur einmal betrachten, was Google mit den Daten treibt, die auf den verschiedensten Wegen anfallen.

Diese Frage ist alles andere als nebensächlich, denn gleichzeitig fordert dieser Bericht, beispielsweise die Digitalisierung sämtlicher Gesundheitsdaten voranzutreiben, und das auf einer europaweit einheitlichen Basis. Vor allem, um diese Datenquelle nutzen zu können. Allerdings, nachdem die Cloudspeicher eben nicht heimisch sind, würde die einheitliche Digitalisierung nur bedeuten, all diese Daten ebenso einheitlich aus der Hand zu geben. Wie war das noch mal mit der Konkurrenz?

Nun, das macht nichts, dem macht die Dekarbonisierung sowieso den Garaus. Schließlich ist „die Ausbildung und der Betrieb von KI-Modellen und der Betrieb von Datenzentren sehr energieaufwändig. Datenzentren stehen derzeit für 2,7 Prozent des Stromverbrauchs in der EU, aber bis 2030 soll ihr Verbrauch um 28 Prozent zunehmen.“ Nebenbei, das Land mit dem absolut höchsten Stromverbrauch für die Datenverarbeitung ist Deutschland, also gerade das Land, dessen Versorgungssicherheit am stärksten gefährdet ist.

Wobei, logische Brüche prägen die gesamte Argumentation. Die Diagnosen stimmen, aber nicht die Therapievorschläge:

„Während energieintensive Industrien in anderen Regionen weder die gleichen Dekarbonisierungsziele erfüllen müssen noch ähnliche Investitionen erfordern, profitieren sie von großzügigerer staatlicher Unterstützung. China beispielsweise sorgt für mehr als 90 Prozent der globalen Subventionen für den Aluminium-Sektor in Höhe von 70 Milliarden US-Dollar, wie auch für große Subventionen für Stahl.“

Was bedeutet es nun, wenn diese „Dekarbonisierungsziele“, die von der EU verhängt wurden, sich als Wettbewerbsnachteil erweisen, und dann die gleiche EU als Folge daraus fordert, zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen, um diese Wettbewerbsnachteile auszugleichen? Auf der einen Seite wird getrickst, um einen zusätzlichen Bedarf für öffentliche Zuschüsse zu schaffen (ein Schachzug, der im Sektor der Erneuerbaren Energien dominiert), auf der anderen die Forderung erhoben, das müsse aber über die EU geschehen und nicht über die Nationalstaaten…

Man könnte fast auf den Gedanken kommen, dieser Zugriff auf die staatlichen Budgets sei der wirkliche Hintergrund für das ganze Dekarbonisierungstheater, schließlich könnte man besagten Wettbewerbsnachteil wörtlich mit einem Federstrich beseitigen. Ein erweitertes Haushaltsrecht ohne Haushaltskontrolle, ausgeübt von einer der undemokratischsten und korruptesten Exekutiven in der europäischen Geschichte, das ist wahrlich, was das Herz begehrt.

Übrigens findet sich im ganzen Text nichts über eine Entwicklung des Binnenmarktes. Es wird zwar festgestellt, dass die gesamte EU anteilig weit mehr exportiert als die USA oder China, und es wird von Vereinheitlichung des Marktes geschrieben, aber dass Innovation und Wachstum auch etwas mit Binnenkonsum zu tun haben könnten, und die Frage, was sich die Durchschnittsbevölkerung leisten kann, durchaus eine Rolle spielt, scheint völlig unbekannt – außer, man will Bemerkungen zur Demografie loswerden, die sich dann wieder in die Formulierung umsetzen, die EU bräuchte Zuwanderung.

Der Aberglauben, dass so etwas wie Google oder Facebook nicht in Europa entstanden wären, weil hier nicht genug Geld zur Verfügung stünde, ist Begründung dafür, warum unbedingt ein Zugriff auf die Pensionskassen erfolgen müsse. Genauer, die in mehreren europäischen Ländern vorhandenen Pensionsfonds sollen über die EU für Investitionen genutzt werden (und, ein weiterer Wunsch, die bisherigen steuerfinanzierten Systeme sollen in kapitalgestützte überführt werden).

Das ist ziemlich genau das Gegenteil dessen, was die Finanzmarktkrise 2008 ff. gelehrt hat, in deren Verlauf mehrere große Pensionsfonds, z.B. jener der Lehrer im US-Bundesstaat Illinois, den Weg alles Irdischen nahmen. Aber der Draghi-Bericht klagt darüber, dass so viel Geld in Europa ungenutzt gespart würde, das unbedingt in die Kapitalmärkte geschaufelt werden müsse. 2009 ließ man in Irland die Rennpferde auf den Wiesen verhungern, und der internationale Seehandel stand drei Monate lang fast völlig still. Seitdem wurden immer wieder gigantische Mittel aufgewandt, um das Finanzsystem zu stützen, wenn auch meist verdeckt, aber im Grunde weiß alle Welt, dass das irgendwann demnächst platzen muss, und der wirkliche Absturz seit 2008 nur hinausgezögert wurde. Nur die Autoren dieses Berichts scheinen das nicht zu wissen, oder sie tun zumindest, als wüssten sie das nicht.

Der unterhaltsamste Widerspruch des Berichts mit der Wirklichkeit ist übrigens die Forderung, gerade kleine und mittlere Unternehmen dürften nicht mit Bürokratie überfordert werden. Das muss EU-Humor sein. Stichwort Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz; da verrät der Name bereits die bürokratische Qual, die sich dahinter verbirgt. Diese Forderung seitens der EU, das ist, wie wenn Al Capone aufruft, die Mafia zu bekämpfen. Wenn eines bei allem garantiert ist, an dem EU steht, ist es eine wild wuchernde Schlacht aus Berichten und Anträgen und Kontrolle.

Wie man es dreht und wendet – das Ziel dieses Berichts ist es – und das wurde teils auch zutreffend berichtet – einen bedeutenden Schritt auf dem Weg des EU-Staats voranzukommen. Zu diesem Zweck sollen die wirtschaftspolitischen Kompetenzen an die EU übergehen, europäische Schuldverschreibungen ausgegeben, die wirtschaftlichen Reserven der Bevölkerungen abgeschöpft oder beliehen und Entscheidungen innerhalb der EU in den meisten Bereichen auf Mehrheitsprinzip umgestellt werden.

Doch so groß, wie dieser Bericht tut, in seiner vermeintlichen Darstellung einer Industriestrategie für Europa, so schwach ist seine Argumentation, und so irreal ist es, auf diese Weise das vermeintlich angestrebte Ziel zu erreichen. Das sollte man wissen, wenn er in den kommenden Jahren immer wieder auftauchen und als Referenz angeführt werden wird. Übrig bleibt dann wirklich nur das, was angeblich die logische Schlussfolgerung sein soll, die Ausweitung der Brüsseler Macht.

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

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Bild oben: Das Volkswagenwerk in Wolfsberg aus der Luft gesehen(Symbolbild)
Foto: Carsten Steger, CC BY-SA 4.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=153478899