Warum wird Palästina das Recht auf Widerstand verweigert?
Empathie und Trauer nur für Juden?
Kommentar vom Hochblauen
Von Evelyn Hecht-Galinski
Erstveröffentlichung am 10.10.2024 im Blog Sicht vom Hochblauen
Es ist erschütternd zu erleben, wie Deutschland am Leid der Palästinenser vorbei gedenkt. Ein Jahr deutscher Komplizenschaft und anhaltender medialer Einseitigkeit zeigte seinen Höhepunkt in dem einseitigen Gedenken Deutschlands. Als der Bundestag am 10. Oktober 2024 der „Opfer des Hamas-Angriffs“ gedachte, war es eine traurige und einseitige Veranstaltung, die sich dem Bürger bot. Einseitig wurde die israelische Seite als Opfer dargestellt, weder die Vorgeschichte, die zum 7. Oktober führte, noch die völkerrechtswidrige Besatzung, noch die illegale Besiedlung und Vertreibung der Palästinenser waren ein Thema. Aber als Bundeskanzler Scholz auch noch aufstand, um sich neben den SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich zu stellen und den nach Angriffen von Oppositionsführer Merz in Schutz zu nehmen und eilfertig zu versichern: „Waffen werden und wurden weiter geliefert“, da hatte sich Deutschland endgültig auf die falsche Seite der Geschichte gestellt und klar gemacht, dass es nicht gewillt ist, das heuchlerische „nie wieder“ ernst zu nehmen, sondern sich weiter mitschuldig zu machen. (1)(2)
Empathie für Völkermord?
Was erwartet man von einem Präsidenten des Zentralrats der Juden eigentlich angesichts der seit 7. Oktober über 42.010 getöteten und 97,720 (09.10.2024) verwundeten Palästinenser in Gaza, davon 16,756 Kinder, 11,946 Frauen (zusammen 69 Prozent)? Empathie! Doch Fehlanzeige! Die weltweit führende medizinische Fachzeitschrift The Lancet hält es für plausibel, dass 186.000 Todesfälle im aktuellen Gaza Krieg zu beklagen sind. Das sind unvorstellbare Zahlen und Zerstörungen in Gaza, das weitgehend dem Erdboden gleich gemacht wurde. Kein Wort von den offiziellen Vertretern dazu. Es ist fast wie ein Hohn, wenn sich Präsident Schuster am Limit fühlt und Empathie für die Juden und Israel vermisst. Wie kann man Empathie für Völkermord, grausame Massaker und enthemmte israelische Soldaten empfinden, die zum Teil aus „Langeweile“ töten oder „freies schießen auf alle“ (3) Diese entsetzliche Enthemmung und Verrohung verdeutlicht, wie entmenschlicht die „jüdische Verteidigungsarmee“ – gestützt von „oben“ – gegen Palästinenser in Gaza oder jetzt im Libanon vorgeht – mit auch schon 2.119 Toten und 1,2 Millionen Vertriebener auf der Flucht.
Nicht Antisemitismus ist das wirkliche Problem, sondern es ist die Diffamierung jede Israel-Kritik, als „Israel-Hass“ oder schlimmer noch als Judenhass zu verunglimpfen. Tatsache ist, dass der „jüdische Staat Israel“, der seit Staatsgründung darauf zielt Palästinenser zu vertreiben, ethnisch zu säubern oder zu töten, hat es immer bewusst darauf angelegt den Opferstatus zu erhalten, der nichts will, außer mit der „ausgestreckten Hand“ in Frieden mit seinen Nachbarn zu leben. Nichts davon entspricht der Wahrheit, man kann und muss es immer wieder wiederholen, Israel war und ist immer der Besatzer und uneingeschränkte Herrscher über die Palästinenser, mit dem „Endziel“ der Judaisierung. Das dieses Vorgehen auf Dauer nicht unwidersprochen hingenommen werden konnte, war abzusehen und eingeplant. Ach ja, wenn man von Trauma spricht, dann betrifft das doch wohl eher die Palästinenser, die ihr zionistisches Trauma schon seit Jahrzehnten erleben. Während traumatisierte Israelis, wenn sie denn aus ihren Besatzungs-häuschen müssen, Bunker haben, wo sie Trauma entspannt pflegen können. Besatzung und Unterdrückung fordern einen Preis und das haben auch Israelis schmerzhaft erfahren müssen. Merke, nicht Besatzung und Unterdrückung schafft ein friedliches Miteinander, sondern ein Zusammenleben auf Augenhöhe unter Gleichgestellten.
Verurteilung des verzweifelten Schreis im Kampf um Freiheit?
Der 7. Oktober hat die Vorgeschichte des Ausbruchs aus dem Freiluftgefängnis, aus der totalen Überwachung, Kontrolle und Isolierung heraus, der verzweifelte Schrei und ein Entkommen im Kampf um Freiheit. Sofort erschallte der westliche Chor, angeführt von Israel: „Terroristen“ und schlimmster Judenmord seit dem Holocaust. Dabei kam der 7. Oktober keineswegs so überraschend, wie es scheint. So berichtete der israelische Fernsehsender KAN TV von einem Dokument, das Gaza-Division erstellt hatte und das den geplanten Ablauf der Geiselnahme durch die Hamas schildert und zitierte eine israelische Sicherheitsquelle mit den Worten, dass das Dokument auch dem israelischen Geheimdienst bekannt sei. Die Zahl der bei der Operation gefangenen Israelis entsprach fast genau der Zahl, die in dem veröffentlichten Dokument vorausgesagt wurde. Am 7. Oktober wurden auch Hunderte durch die tödliche „Hannibal Richtlinie“ oder durch „“friendly fire“ getötet. (4)(5) Nichts davon in deutschen Medien, geschweige denn bei den heuchlerischen Gedenkfeiern an der „Seite Israels stehend“. Ja, in der Tat es gibt einen Flächenbrand, der sich inzwischen von Gaza, dem Westjordanland, bis tief in den Libanon zieht. (6) Es könnte der Eindruck entstehen, als ob alles sorgfältig im Voraus geplant wurde. Von Hamas bis Hisbollah, und als Krönung kommt der Angriff gegen den Iran. Was für ein Vernichtungs-Plan! Auch dort sind inzwischen mehr als 2000 Libanesen getötet worden und mehr als eine Million auf der Flucht. Es ist wie eine Kopie von Gaza, scheint es doch unter Netanjahus tödlicher Regie nach Vorbild von Gaza abzulaufen. Gezielte Morde, zügellos, geradezu entfesselt im „Eliminierungsrausch“. Netanjahu scheint sich seiner Macht so sicher, dass er fern von Justiz und Bestrafung herrscht wie der ungekrönte „Melech Israel“ in einem „Groß-Israel“ vom Meer bis zum Fluss ohne die Palästinenser. Von einem Palästinenserstaat ist er weiter entfernt denn je, schließlich war dieser für Netanjahu und sein Regime nie ein Thema.
Eine israelische Schriftstellerin, die ich sehr schätze, Lizzie Doron, sagte genau die Worte in der FAZ vom 7. Oktober 2024, die mich auch hier bewegen. „Ich bin eine Feindin im eigenen Land“. Ich zitiere: Auf die Frage der Verantwortung für die Bundesregierung, sagte Lizzie Doron:“ Ich würde mir wünschen, dass die deutsche Regierung kritischer mit dem Vorgehen der israelischen Regierung ins Gericht geht. Ich denke, Deutschland ist eben aufgrund der Vergangenheit moralischen Werten verpflichtet und nicht der israelischen Regierung. Es sollte sich gegen Krieg einsetzen, gegen die Besatzung, gegen die Entmenschlichung, es sollte sich dafür einsetzen, dass alle Menschen die gleichen Werte genießen. Dass Deutschland Israel auf alle Ewigkeit in die Opferrolle steckt, ist falsch. Die Schuldgefühle für die Vergangenheit sollten nicht das heutige Handeln bestimmen. Aus ihnen sollte eine Verantwortung erwachsen. Ich würde mir wünschen, dass die deutsche Regierung für die liberalen Israelis spricht, die heute völlig isoliert sind.“ Zitat Ende (7)
Empathie für ein faschistoides, zutiefst rassistisches und gewalttätiges Regime?
Auch die Geiseln scheinen Netanjahu nicht sonderlich wichtig, warum sonst schaffte er ständig neue Bedingungen, wenn ein Abkommen mit der Hamas so greifbar nahe schien. Inzwischen finden sich die Angehörigen der Geiseln von der Regierung nicht nur nicht sonderlich gut behandelt, sondern sie fühlen sich mit „Phrasen“ abgespeist. Netanjahu steht sein politisches Überleben über allem, da stehen die Geiseln nicht auf der Prioritätslinie. Ist es überhaupt noch nachvollziehbar, dass westliche „Werte“-Länder, die sich als Verfechter von Demokratie und Menschenrechten bezeichnen, den Völkermord in Gaza, gezielte Morde und kriegerische Aggressionen des zionistischen Regimes aktiv mit Waffenlieferungen unterstützen?
Dieser zionistische Staat – entstanden aus der Nakba, gegründet mit dem Mythos der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“, dem „moralischen und sozialem Leuchtfeuer“, dem „Licht unter den Völkern“, biblisch (Jesaya) – betreibt Missbrauch mit der universellen Bestimmung der Israeliten als Mentoren für die moralische Führung für die ganze Welt. Dieser „jüdische Staat“ ist zu einem dunklen westlichen Kolonialstaat mit einem zionistisch-faschistoid, zutiefst rassistisch und gewalttätig herrschenden Staatsterror-Regime verkommen – zu einem völlig von USA-Gnaden abhängender Völkermord- und Apartheidstaat. Ein Staat hat nur ein Recht auf Existenz, wenn er ein Staat in seinen Grenzen für alle Ethnien und Religionen mit gleichen Rechten und Pflichten ist. Nur so ein Staat darf Unterstützung finden. Diese westliche Komplizenschaft, die diesen Völkermord und die Judaisierung erst straffrei ermöglichte und jahrzehntelang medial begleitete, muss endlich ein Ende finden. Warum wird jeder Widerstand, wie der des Warschauer Ghetto oder in der ehemaligen DDR gefeiert, während muslimischer, palästinensischer Widerstand als Terror bekämpft und verdammt wird?
Recht auf Widerstand!
Das Recht auf Widerstand gilt auch für Palästinenser! Die Tausenden getöteten Palästinenser, die unschuldig als Zivilisten oder im Widerstand für ein freies Leben in Palästina starben, haben meine Empathie, und ich trauere um sie. Das sind für mich die Lehren, die ich aus dem 7. Oktober gezogen habe. (8) Ich rufe alle, die noch ein Gespür für Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit haben auf, jeden Abend eine Kerze ins Fenster zu stellen.
Evelyn Hecht-Galinski ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Eure Toten – Die Palästinenser an die Zionisten
Von Erich Fried
Eure Toten
eure toten Eltern und Großeltern
eure toten Brüder und Schwestern
auf die ihr euch immer beruft
eure Toten die euer Trumpf sind
eure Toten für die ihr euch Geld bezahlen lasst
als Wiedergutmachung
sie sind nicht mehr eure Toten
Ihr habt eure Toten verloren
denn eure Toten
das waren die Opfer der Mörder
die Gerechten die Unterdrückten:
Die Machtlosen die Verfolgten
die ermordeten Widerstandskämpfer
und ihre Kinder
das waren eure Toten
Jetzt aber seid ihr Machtanbeter und Mörder geworden
und werft Bomben auf eure Opfer wenn sie sich wehren
Ihr vertreibt die Machtlosen aus ihren niederen Hütten
Ihr kommt rasselnd in rasenden Panzern
Ihr lasst das Sprühgift
aus euren Flugzeugen regnen
nieder auf unsere Felder
und euer Napalm auf unsere Frauen und Kinder
Glaubt ihr denn eure Toten würden euch wiedererkennen
versteckt in eure Panzer und Kampfflugzeuge?
Eure Toten sind übergegangen zu uns
Opfer zu Opfern
Verfolgte zu Verfolgten
denn die Ermordeten sind der Ermordeten Brüder und Schwestern
und nicht die der Mörder
Eure Toten wollen euch nicht mehr kennen
Darum beruft euch lieber nicht mehr auf eure Toten
um die Welt schweigen zu machen jedes Mal wenn ihr tötet
Darum tut lieber nicht mehr
als wären sie das gewesen was ihr seid
als wäret ihr wirklich noch ihre echten Kinder und Enkel
denn ihr habt Verrat begangen an ihrem Leben und Sterben
als ihr eingetreten seid in die Dienste derselben Ordnung
die eure Toten gequält und getötet hat
Eure Toten sind nun zu Gast bei unseren Toten
die versuchen sie zu beruhigen dass ihr vielleicht nur
aus Unwissenheit und aus Dummheit tut was ihr tut
Doch eure Toten sagen ihr seid immer so klug gewesen
die klügsten Kinder der Welt
und sie können euch nicht mehr verstehen
Und unsere Toten wollen sie trösten und sagen
dass nur die Macht der Mächtigen euch so verlockt und verwirrt hat
und dass ihr vielleicht es noch sehen und doch noch umkehren werdet
statt so zu sterben dass eure Toten euch nicht mehr kennen
Fußnoten:
3 https://www.972mag.com/israeli-soldiers-gaza-firing-regulations/
4 https://www.palestinechronicle.com/israeli-army-intelligence-knew-of-october-7-plan-kan/
5 https://electronicintifada.net/content/how-israel-killed-hundreds-its-own-people-7-october/49216
Auch veröffentlicht in der Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ) in Ausgabe 837 vom 11.10.2024 unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29257
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