Demokratie – Medien – Aufklärung

Eine Million Menschen auf der Flucht

Israel tötet Hassan Nasrallah. In einer Woche mehr als 1.000 Tote im Libanon durch israelische Luftangriffe.

von Karin Leukefeld

Erstveröffentlichung am 01.10.2024 in der „Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek

Das Morden im Nahen Osten geht weiter. Mit gezielten Luftangriffen hat die israelische Luftwaffe am Wochenende Dutzende hochrangige Mitglieder der libanesischen Hisbollah, der palästinensischen Hamas und der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) im Libanon und in Gaza gezielt getötet. Mit einem massiven Luftangriff bombardierte die israelische Luftwaffe die jemenitische Hafenstadt Hodeidah und setzte Öltanks und mindestens ein Kraftwerk in Brand. Am Montagmorgen wurde ein Angriff auf die syrische Hauptstadt Damaskus gemeldet.

Im Libanon, im Gazastreifen, im Westjordanland, in Syrien und im Jemen werden täglich Hunderte Menschen von Israel ermordet. Die Opfer stehen nicht als bewaffnete Kämpfer an der Front der israelischen Armee gegenüber, sondern werden von Piloten in Kampfjets, mit Artillerie, Raketen und mit Drohnen getötet, Es trifft sie in ihren Autos, Häusern, Notunterkünften oder in Schutzräumen tief unter Hochhäusern in der Erde.

Am vergangenen Freitag, am späten Nachmittag, wurden sieben mehrstöckige Wohnhäuser in einem südlichen Vorort der libanesischen Hauptstadt Beirut von israelischen Kampfjets attackiert. Augenzeugen berichteten von zwölf Einschlägen. Videoaufnahmen zeigen gigantische Feuerbälle und Rauchentwicklung über dem Wohnviertel.

Nach Darstellung der »New York Times«, die nach eigenen Angaben einen Videofilm der Israelischen Armee ausgewertet hat, sollen 15 »mehrere 2000 Pfund schwere Bomben« eingesetzt worden sei, so genannte »Bunker buster«, bunkerbrechende Bomben, die Israel von den USA geliefert bekam. Bunkerbrechende Bomben sind mit abgereichertem Uran gehärtet und werden auf ein Gebäude gefeuert, das sie geradezu durchschneiden. Sie dringen tief ins Erdreich ein, wo sie dann explodieren und alles über sich zum Einsturz bringen.

In dem Video der israelischen Armee, das – laut »NYT« – auf dem offiziellen Telegram-Kanal der Armee veröffentlicht worden war, seien mindestens acht israelische Kampfjets in einer Reihe geflogen, heißt es in dem »NYT«-Bericht. Die Geschosse seien demnach mit Präzisionslenksystemen ausgerüstet gewesen, einer so genannten JDAM Ausstattung, mit der »einfache« Bomben in präzisionsgelenkte Bomben umgewandelt werden können.

Die israelische Armee äußerte sich nicht zu Fragen der »New York Times«. Allerdings gab ein Armee-Sprecher fast unmittelbar nach dem Anschlag an, das Ziel sei das Hauptquartier der Hisbollah, ein Bunker, gewesen, in dem sich Hassan Nasrallah befunden habe.

Netanjahu: »Wir sind die Guten«

Der Angriff ereignete sich nahezu zeitgleich mit der Rede, die der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in der UNO-Generalversammlung in New York hielt. Zahlreiche Delegierte hatten den Raum schon vor dem Auftritt Netanjahus verlassen. Bei seiner Rede wurde Netanjahu von einer großen Gruppe von Claqueuren unterstützt, die sich gegenüber der Rednerbühne versammelt hatten. Netanjahu zeigte zwei Landkarten der Region, ein »Reich des Bösen« (Iran, Irak, Syrien, Hisbollah, Jemen) und ein »Reich des Guten« (Israel, Saudi Arabien, Ägypten, Sudan).

Nach seiner Rückkehr in Tel Aviv meldeten auf dem Ben Gurion Flughafen Sirenen Luftalarm. Netanjahu und seine Begleiter wurden in einen Schutzraum gebracht. Der Tod Nasrallahs sei »historisch«, so Netanjahu. Er werde die ganze Region verändern. In Richtung Iran gewandt warnte er, wer immer sich gegen Israel auflehne müsse wissen, daß »der lange Arm Israels« ihn jederzeit und überall erreichen werde.

Libanon: Mehr als 1.000 Tote in einer Woche

Die Hisbollah bestätigte am Samstagnachmittag den Tod von Hassan Nasrallah. Mit ihm wurden demnach zwölf weitere Angehörige der Hisbollah getötet. Der Iran bestätigte, daß sich unter den Toten auch Abbad Nilforoushan, der stellvertretende Kommandeur der Iranischen Revolutionsgarden befunden habe. Der Iran forderte eine Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates zu den israelischen Angriffen auf den Libanon und andere Länder der Region. Der Iran werde »nicht zögern seine grundlegenden Rechte entsprechend dem Internationalen Recht in Anspruch zu nehmen, um seine nationalen und Sicherheitsinteressen zu verteidigen«, hieß es in einem Schreiben des iranischen Botschafters bei der UNO, Amir Saeid Iravani.

Das libanesische Gesundheitsministerium gab am Samstag die Zahl der Toten durch den Angriff auf Hassan Nasrallah und seine Gefährten mit 33 an, 195 Personen wurden verletzt. Die israelischen Angriffe auf Libanon setzten sich das ganze Wochenende fort. In einem Fall zerstörten die israelischen Bomben ein Gebäude in unmittelbarer Nähe des Internationalen Flughafens von Beirut. Die Starts und Landungen seien auch während der Angriffe fortgesetzt worden, teilte der Geschäftsführer der libanesischen Fluglinie Middle East Airlines (MEA) mit. Bis auf wenige haben internationale Fluglinien ihre Flüge nach Beirut bis auf weiteres ausgesetzt. Da der Andrang von Ausreisenden sehr groß ist, hat MEA viele der ausgesetzten Flüge übernommen.

Am Sonntag gab der libanesische Gesundheitsminister Firas Abiad vor Journalisten bekannt, daß seit Beginn der Kämpfe mit Israel am 8. Oktober 2023 im Libanon 1.640 Tote gezählt worden seien, darunter 104 Kinder und 194 Frauen. 8.404 Verletzte wurden gemeldet, darunter auch rund 3.000 Personen, die durch den israelischen Angriff mit manipulierten Personenrufgeräten und Walkie-Talkies am 18. und 19. September teilweise schwer verletzt und für ihr Leben verstümmelt wurden. Allein seit Beginn der massiven israelischen Luftangriffe am 23. September sind mehr als 1.000 Menschen getötet worden.

Die Zahl der Inlandsvertriebenen gab Minister Abiad mit mehr als 1 Millionen Menschen an. Nach den Hunderttausenden, die aus dem Südlibanon mit israelischem Bombenterror aus ihren Dörfern und Häusern vertrieben wurden, verließen weitere Hunderttausende am vergangenen Wochenende die südlichen Vororte von Beirut und liefen, meist zu Fuß, in Richtung der westlichen und nördlichen Beiruter Wohnviertel. Viele kampieren auf öffentlichen Plätzen, in Parks und an der Uferpromenade.

Mehr als 500.000 Menschen flohen über die Grenze nach Syrien, darunter auch viele Syrer, die in den letzten Jahren vor dem Krieg im eigenen Land im Libanon Zuflucht gesucht hatten. Angesichts der großen Armut von vielen dieser Menschen setzte die syrische Regierung für die zurückkehrenden Syrer den bisher geltenden Zwangsumtausch bei Einreise von 100 US-Dollar in Syrische Landeswährung aus. Die Schulen in Syrien wurden angewiesen, libanesische Schüler in die Klassen aufzunehmen, damit sie ihren Unterricht fortsetzen können. Allerdings unterscheiden sich die Schulsysteme in beiden Ländern massiv, so daß die libanesischen Schüler den ausfallenden Unterricht in ihrer Heimat, der dem französischen Schulsystem folgt, nicht wirklich ausgleichen können.

Biden hat »nichts gewußt«

Wie schon bei vorherigen gezielten Tötungen durch die Armee Israels zeigte sich die USA-Administration »überrascht« und erklärte, man habe von den mörderischen Angriffsplänen Israels auf Hassan Nasrallah »nichts gewußt«. Washington trete angeblich weiterhin für eine Verhandlungslösung nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Libanon ein.

Gleichwohl seien Hassan Nasrallah und die »Terrorgruppe«, die er anführte, die Hisbollah, »für Hunderte von Morden an Amerikanern verantwortlich«. Vier Jahrzehnte dauere deren »Terrorherrschaft«, ließ USA-Präsident Biden in einer Erklärung über das Weiße Haus mitteilen. »Sein Tod durch einen israelischen Luftangriff ist eine Maßnahme der Gerechtigkeit für seine vielen Opfer, darunter Tausende von Amerikanern, Israelis und libanesischen Zivilisten«, erklärte der greise Präsident. Der Angriff auf Nasrallah sei »im größeren Kontext« entstanden, hieß es in der Biden-Erklärung.

Einen Tag nach dem 7. Oktober 2023 habe Nasrallah »die verhängnisvolle Entscheidung« getroffen, eine »Nordfront« gegen Israel zu eröffnen, um die Hamas zu unterstützen. Die USA unterstützten »uneingeschränkt das Recht Israels, sich gegen die Hisbollah, die Hamas, die Houthis und alle anderen von iran unterstützten Terrorgruppen zu verteidigen«. Der USA-Kriegsminister wurde angewiesen, »die Verteidigungsposition der USA-Streitkräfte in der Nahostregion« weiter zu verbessern. Das Ziel der USA sei »letztlich, die anhaltenden Konflikte im Gazastreifen und im Libanon mit diplomatischen Mitteln zu deeskalieren«.

Der noch amtierende EU-Außenbeauftragte Josep Borrell lud die Außenminister der EU für Montagnachmittag zu einem Treffen per Video-Schaltung ein, um sich über die Situation im Libanon und die eskalierenden Luftangriffe Israels zu beraten. Nach Angaben seines Büros sollte versucht werden, die unterschiedlichen Positionen der EU-Staaten in eine gemeinsame Erklärung zu fassen. Der französische Außenminister hat ein sofortiges Ende der israelischen Luftangriffe auf Libanon gefordert. Er flog am Montag nach Beirut, um sich dort zu beraten.

Der Kampf geht weiter

Weite Teile der Bevölkerung im Libanon zeigten sich schockiert über die Ermordung von Hassan Nasrallah. Westliche Medien richteten Mikrophone und Kameras eher auf seine Gegner und spekulierten über mögliche Machtkämpfe, die den Libanon nun destabilisieren könnten.

Die militärischen Einheiten der Hisbollah setzten ihre Angriffe auf den Norden Israels weiter fort. Ziele waren militärische Einrichtungen am Rande von Tel Aviv, entlang der Mittelmeerküste, nördlich von Haifa und auf den besetzten Golanhöhen. Die Hisbollah bleibt bei ihrer Entschlossenheit, militärische Ziele in Israel so lange zu attackieren, bis Israel seinen Angriffskrieg gegen das Volk von Palästina beendet.

Der stellvertretende Generalsekretär der Hisbollah, Scheich Naim Qassem sagte am Montag in einer ersten offiziellen Stellungnahme, man habe mit Hassan Nasrallah »einen Bruder, Vater und großartigen Führer verloren«. Er sei der »Führer des langen Marsches der freien Kämpfer« gewesen. Palästina und Jerusalem hätten immer oben auf seiner Agenda gestanden. Die Hisbollah werde ihre Ziele nicht aufgeben und den Kampf fortsetzen, so Qassem weiter. Das Kommandosystem sei intakt, die Kämpfer würden die alternativen Pläne umsetzen. Alle Hisbollah-Kämpfer seien auf eine mögliche Bodeninvasion Israels vorbereitet.

Iran, Irak, Syrien und Libanon haben für die kommenden Tage staatliche Trauer erklärt. Weltweit protestierten Hunderttausende gegen die Ermordung von Hassan Nasrallah.

Karin Leukefeld ist Buchautorin und arbeitet als freie Journalistin im Mittleren Osten

Quelle: https://www.zlv.lu/db/1/1447909634759/0
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin


Bild oben: Eine Boeing AH-64 Apache der israelischen Luftwaffe startet eine AGM-114 Hellfire-Rakete (Aufnahme vom Gaza-Israel-Konflikte November 2018).
Foto: MinoZig, CC BY-SA 4.0,
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74364134