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Nord Stream: Reden wir doch über Bäume!

Ein Segelboot und fünf Amateure, das ist immer noch die Geschichte, die man in Deutschland zum Anschlag auf Nord Stream auftischt. Und die man in den Medien mit vielen bunten Blümchen ausschmückt. Das ist nicht nur Kumpanei. Das ist Komplizenschaft.

Von Dagmar Henn

Erstveröffentlichung am 28.08.2024 auf RT DE

Vorerst wird das nichts werden mit der Wahrheit zu Nord Stream. Jedenfalls nicht in Deutschland. Und das liegt nicht nur an der Gewohnheit deutscher Journalisten, das, was ihnen die Behörden vorlegen, kritiklos zu glauben.

Ein Kommentar, der vor einiger Zeit in der Berliner Zeitung erschien, machte genau das der Berichterstattung zum Vorwurf; er bezog sich dabei vor allem auf die Darstellung des deutschen Leitmediums überhaupt, der Tagesschau. Und erklärte, man müsse den Zweifel als Produktivkraft für eine aufgeklärte Gesellschaft nutzbar machen.

Dass die Nähe zum politischen Personal gerade für politischen Journalismus ein Problem ist, ist keine neue Erkenntnis. Das kann man schon in den Schriften von Franz Mehring aus dem vorvergangenen Jahrhundert finden. Mehring, sozialdemokratischer Journalist und in den Ursprüngen des späteren SPD-Presseimperiums so bedeutend, dass die Parteischule nach ihm benannt wurde, lehnte allzu große Nähe etwa zu den Parlamentsabgeordneten rigide ab. Der Preis, den die möglicherweise zu erhaschenden Bröckchen irgendwelcher Interna forderten, sei zu hoch; schließlich gehe es um Kritik, nicht um Mitwirkung.

Es ist immer und in jeder Umgebung eine große Versuchung, sich als einer der Eingeweihten empfinden zu dürfen, und einer der Hauptmechanismen, wie seitens der Politiker dafür gesorgt wird, sich die Presse gewogen zu halten, besteht darin, genau dieses Gefühl wohldosiert immer wieder mal zu vermitteln. Kumpanei jedenfalls ist der sicherste Weg zum Erfolg.

„Mittendrin statt nur dabei“ nennt das die Autorin der Berliner Zeitung, und das ist sicher auch ein Punkt. Sie belegt das etwa mit der kritiklosen Formulierung, die Ermittlungen gegen den aktuell von der Bundesanwaltschaft als schuldig Ausgegebenen beruhten „auf Hinweisen eines ausländischen Nachrichtendienstes“. Eine solche Formulierung „macht deutlich, dass sich die Journalisten in gewisser Weise mit im Boot sehen“. Wobei es technische Aspekte gibt, die eine solche Haltung begünstigen, denn die Kriterien, nach denen Informationen bewertet werden, unterscheiden sich nicht, und selbst die Arbeitsweise gerade im investigativen Journalismus ist ähnlich.

Was allerdings in der Kritik der Berliner Zeitungfehlt, ist, dass auch solche Informationen, eben jene „eines ausländischen Nachrichtendienstes“, wie alle anderen Informationen behandelt werden müssen – sprich die Frage, wer etwas warum sagt, also welches Ziel verfolgt wird, ist ein notwendiger und unverzichtbarer Teil der Bewertung. Mehr noch – ein Abgeordneter mag bei einem Glas Wein etwas erzählen, das für sich genommen keiner Absicht folgt. Eine Information aus einem „ausländischen Geheimdienst“ wird nie, unter keinen Umständen, absichtslos weitergegeben.

Genau diese Frage stellt sich im Zusammenhang mit Nord Stream öfter. In der ganzen Affäre rund um Nord Stream gibt es ja auch noch die angeblichen Warnungen aus den Niederlanden, noch ehe der Anschlag passierte. Der Ort des Anschlags selbst liegt in der Nähe der Zentrale des dänischen Marinegeheimdienstes. Dieser „ausländische Nachrichtendienst“, der zwei Ukrainer zu Tatverdächtigen machte, ist, ob er nun CIA oder MI6 heißt, nur Teilaspekt einer ganzen Buchstabensuppe, in der man meint, die Wahrheit finden zu können.

In dem Bericht der Tagesschau wird, ganz beiläufig, erwähnt, der laut Haftbefehl der Generalbundesanwaltschaft hauptverdächtige Ukrainer Wolodymyr Z. (Ist das ein reiner Zufall, dass man damit auch Wladimir Selenskij verknüpfen kann, dessen Name in der englischen Schreibweise mit einem Z beginnt?) habe telefonisch die Vorwürfe bestritten: „In einem kurzen Telefonat am Dienstag zeigte sich Z. überrascht von dem Vorwurf.“

Was die Berliner Zeitung mit hübschen Fragen garniert:

„Wer hat denn bitteschön wie mit dem Verdächtigen Z. gesprochen? Woher hatte man dessen aktuelle Telefonnummer? Obwohl der Mann doch kürzlich erst untergetaucht sein soll? Und dann nimmt diese Person im Untergrund einen Anruf an, von einer ihr vermutlich unbekannten Telefonnummer? Und spricht zudem, wenn auch angeblich nur ‚kurz‘, mit dem fremden Anrufer? Geht dabei sogar auf, sorry, hochexplosive Fragen ein?“

Vieles an den Vorhaltungen der Berliner Zeitung ist durchaus berechtigt. Auch die Vermutung, die deutschen Behörden hätten eigentlich die Hoffnung, „dass die ganze Sache weiter im (Ostsee-)Sande verlaufen möge“. Auch die Anmerkung, die von Seymour Hersh veröffentlichte Version ohne weitere Argumentation einfach vom Tisch zu fegen, entspreche nicht der nötigen journalistischen Sorgfalt, trifft zu.

„Wie kommen etablierte Redaktionen darauf, einerseits erfahrene Kollegen pauschal als ‚Verschwörungserzähler‘ abzuwerten, andererseits zugleich einer offenbar besonders skurrilen Verschwörungsannahme anzuhängen: Dass eine solch weitreichende Aktion inmitten mannigfacher Mächte auf dem Grunde der Ostsee von einigen patriotischen Tauchern aus der Ukraine auf eigene Faust durchgezogen worden sei?“

Aber in diesem Fall geht das, was geschieht, weit über schlichte Kumpanei hinaus, oder über Vernachlässigung journalistisch angebrachten Zweifels. Immerhin geht es bei der Sprengung von Nord Stream um ein Ereignis, das niemanden in Deutschland unbeeinträchtigt gelassen hat. Die Kumpanei, das, was die Berliner Zeitung mit „mittendrin statt nur dabei“ bezeichnet, besitzt noch eine gewisse Elastizität, lässt noch einen gewissen Freiraum.

Doch wer im Zusammenhang mit Nord Stream die Version von Hersh für schlüssig hält und vertritt, hat ein ganz anderes Problem als einen gekränkten Kumpel. Vieles an den harten technischen Daten (wie die Voraussetzungen für nicht nur einen Tauchgang, sondern noch dazu längere Arbeiten auf 80 Metern Tiefe, oder das Problem, eine halbe Tonne Sprengstoff von einem doch recht kleinen Gefährt auf offener See abzuladen) spricht sehr für eine mindestens staatlich unterstützte Handlung. Es sind die technischen Fragen, die die Andromeda-Hypothese in die größten Nöte bringen. Aber in solche Richtungen wird weitgehend gar nicht mehr recherchiert. Auch in anderen Zusammenhängen nicht.

Das wirkliche Problem sind nämlich die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Wenn ich zu dem Schluss komme, die Sprengung von Nord Stream sei durch die USA erfolgt, und nicht durch eine Truppe ukrainischer Aushilfsterroristen, was bedeutet das? Bin ich bereit, im Interesse der eigenen Karriere dazu zu schweigen? Kann ich dann noch entspannt mit dem Abgeordneten XY beim Wein sitzen und den Details lauschen, wie beispielsweise bei Fragen wie deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine die Fraktion bei der Stange gehalten wurde? Gibt es nicht Momente in der journalistischen Arbeit, in denen der Zorn über das Unrecht seinen Platz einfordert? Oder, andersherum, wenn das Schweigen der Bundesregierung in diesem Zusammenhang eine Form des Verrats ist, was ist es dann, dieses Schweigen zu decken?

Wie wären die letzten Jahre verlaufen, hätte der deutsche Mainstreamjournalismus nicht mit solcher Folgerichtigkeit unterlassen, die entscheidenden Fragen zu stellen? Die Position der Bundesregierung, weiter bedingungslos der US-amerikanischen Linie zu folgen, wäre kaum mehr zu halten gewesen. Nur, weil niemand laut genug dieses Ereignis als das benannt hat, was es war, eine Kriegshandlung durch einen vermeintlichen Verbündeten, konnte der Krieg in der Ukraine so weitergehen, wie es geschehen ist. Ja, wer weiß, hätte damals eine Bundesregierung aus diesem Anschlag die nötigen Schlussfolgerungen gezogen, womöglich hätte selbst das Gemetzel in Gaza so nicht stattfinden können. Es gibt auch im Journalismus Entscheidungen, die weitreichende Konsequenzen haben.

Die Kritik der Berliner Zeitung, die dennoch lesenswert bleibt, nutzt ein Gedicht von Bertolt Brecht als Leitmotiv, „Die Fragen eines lesenden Arbeiters“. Mir kommen da eher drei Zeilen aus einem Gedicht in den Sinn, das drei Jahre später entstanden ist: „An die Nachgeborenen“. „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“

Das ist ein harter Satz, aber er trifft das Gefühl, das solche Zeiten vermitteln; auch wenn es unmöglich ist, ständig den Blick auf das Entsetzliche zu richten, und das Gespräch über Bäume geradezu unverzichtbar ist, um den Blick auf die Wirklichkeit ertragen zu können, bleibt es dennoch „fast ein Verbrechen“.

Das, was nicht nur die Tagesschau betrieben hat und betreibt, ist aber, stets nur über Bäume zu sprechen, um von den Untaten nicht reden zu müssen. Das ist nicht nur fast ein Verbrechen. Das ist auch nicht nur die Kumpanei, die die Berliner Zeitung in diesem Verhalten sieht. Es gibt Momente, in denen das Verschweigen der Wahrheit zum Mittäter macht.

Das ganze Ablenkungstheater rund um Nord Stream, dieses Weiterspinnen an immer absurderen Geschichten, diese Nebelwerferei ist nur in genau dem Sinne „mittendrin statt nur dabei“, als dass die Verbrechen, die in den letzten Jahren begangen und geduldet wurden, an den Deutschen wie an den Ukrainern wie an den Russen und Palästinensern, ohne dieses freudige Mitwirken der Medien so nicht möglich gewesen wären.

Es gibt allein im Zusammenhang mit der Ukraine eine Reihe von Punkten, an denen die Bereitschaft zu schweigen hilfreich war, um die Voraussetzungen für die heutige Lage zu schaffen. Dass man über die Nazis auf dem Maidan schwieg, dass man den Text der Minsker Vereinbarungen nie zitierte, sondern jede Behauptung der deutschen Politiker darüber blind glaubte. Alles nicht unschuldig, alles Momente, in denen entscheidende Fragen nicht gestellt wurden.

Aber für die deutsche Beteiligung an der westlichen Aggression gab es genau einen entscheidenden Moment, in dem die oft nur behauptete Kontrollmacht der Medienmacher real war: beim Anschlag auf Nord Stream. Das ist der Moment, an dem eine ordentliche Berichterstattung, selbst wenn sie nur rigide die nötigen Fragen gestellt hätte, die Richtung hätte ändern können. Doch selbst in einem solchen Moment erwies sich in der Breite das Rückgrat als zu schwach und der Wunsch nach Karriere als zu stark.

Wobei man noch hinzufügen sollte, dass die alte deutsche Ausrede des „ich habe davon nichts gewusst“ für eine Gruppe bestimmt nicht gilt: für die, deren Beruf es ist, Fragen zu stellen. Da gibt es keinen Weg, die Verantwortung abzustreiten.

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes


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