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Das Märchen von der Unabhängigkeit – Eine Meisterleistung deutscher Propaganda

Seit dem Beginn des aktuellen Ukraine-Krieges wird den Menschen in Deutschland die Botschaft vermittelt, man müsse sich unabhängig von Russland machen. Um „Putins Kriegskasse“ nicht zu füllen. Dabei ist schon der Begriff Unabhängigkeit absurdes Theater.

Von Tom J. Wellbrock

Erstveröffentlichung am 14.08.2024 auf RT DE

Russlands Gas kommt nach Deutschland. Auf Umwegen zwar, aber es kommt. Allein diese Tatsache sollte Grund genug sein, die alberne Verweigerung russischen Gases nicht weiter aufrechtzuerhalten. Es widerspricht der Logik, dem gesunden Menschenverstand und einer strategischen Herangehensweise, so zu tun, als würde man auf etwas verzichten, worauf man nicht verzichtet. Es ist die traurige Wahrheit, dass deutsche Politiker eine Erzählung aufrechterhalten können, die – zoomt man nur ein paar Zentimeter heran – einfach nicht stimmt.

Hinter dieser vollständig dummen Herangehensweise stecken US-Interessen, so viel ist klar. Man muss kein Genie (mehr) sein, um zu verstehen, dass den USA jedes Mittel recht ist, um so etwas wie eine Zusammenarbeit oder gar Freundschaft zwischen Deutschland und Russland zu verhindern bzw. zu zerstören. Aus egoistischen Erwägungen heraus handeln die USA also durchaus logisch und folgerichtig. Schwieriger wird es bei der Motivation deutscher Politiker und Journalisten. Doch vermutlich schwingen vor ihren Nasen schlicht dicke Karotten, sodass sie sicher sind, nach ihrer politischen bzw. journalistischen Zeit wohlgenährt an irgendwelchen Schreibtischen irgendwelcher Unternehmen oder Thinktanks zu sitzen. Es ist die Tragik der deutschen Gegenwart, dass die Entscheidungsträger mit so billigen Mitteln bei der Stange gehalten werden können, es zeugt von armseligen Charakteren ohne Rückgrat und Eigenständigkeit.

Und ausgerechnet diese ferngesteuerten Karotten-Clowns sprechen von Unabhängigkeit. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man in schallendes Gelächter ausbrechen.

Das Märchen von der Unabhängigkeit

Wörter wie Demokratie, Freiheit, Solidarität und eine Reihe weiterer sind politisch und gesellschaftlich positiv konnotiert. Mit in diese Liste gehört die Unabhängigkeit. Das Wort suggeriert Freiheit und die Möglichkeit, ohne Einflussnahme Entscheidungen zu treffen. Wer unabhängig ist, begibt sich – es steckt ja im Wort – nicht in Abhängigkeiten. Dem Volke diese vermeintliche Freiheit als erstrebenswert zu verkaufen, ist daher ganz weit oben auf der politischen Handlungsskala.

Dumm nur, dass es Unabhängigkeit nicht gibt, nirgends, und erst recht nicht in Deutschland. Am dichtesten dran ist wohl Russland, das über so viele Ressourcen verfügt, dass es im schlimmsten Fall als Selbstversorger bestehen könnte. Dennoch verhält es sich nicht so, als wolle es diese Selbstversorgung auch durchziehen. Vielmehr betreibt Russland auf der ganzen Welt Handel, zumindest dort, wo es gewünscht ist. Und die meisten Länder – sieht man vom isolierten Deutschland einmal ab – betreiben gern Handel mit Russland.

Man sollte also im hier genannten Zusammenhang den Begriff „Abhängigkeit“ durch „Handel“ ersetzen, und schon rückt er in ein neues Licht. Handel kommt zustande, wenn A etwas hat, über das B gern verfügen will, weil B es braucht oder aus anderen Gründen haben will. Es kommt zu Preisverhandlungen. Wie der Preis entsteht, ist in einer globalisierten Welt von zahlreichen Faktoren abhängig, aber über allem steht natürlich das alte Gesetz von Angebot und Nachfrage. Ist die Nachfrage größer als das Angebot, steigt der Preis.

Doch an der deutschen Wirtschaftspolitik lässt sich beispielhaft ablesen, wie man den Preis außerdem in die Höhe treiben kann. Im konkreten Fall dadurch, dass man auf das, was A hat (russisches Gas) als B (potenzieller Käufer) verzichtet. Ein solches Verhalten zeigt einmal mehr die Dummheit, die Deutschlands Politik antreibt. Denn indem man auf russisches Gas verzichtet, verzichtet man ja nicht auf Gas. In Anlehnung an den alten Geld-Spruch könnte man sagen: Das Gas ist ja nicht weg, es hat nur ein anderer.

Wie kann man auf die Idee kommen, sich unabhängig zu machen, wenn man auf einen Rohstoff verzichtet, den man braucht? Und wie kann man bei der Behauptung dieser Unabhängigkeit bleiben, wenn man doch weiß, dass man das benötigte Gas nun von jemand anderem oder sogar vom eigentlichen Lieferanten über teure Umwege bezieht? Wir sprechen hier vom Gegenteil von Unabhängigkeit.

In einem durch die öffentlich-rechtlichen Sender produzierten Video sagte der Moderator vor ca. einem Jahr, dass Russland zahlreiche wirtschaftliche Probleme habe. Er zählte einige auf und wies dann auf sein finales Argument hin, das die Schwäche Russlands belegen sollte: Russland sei einfach zu abhängig von den eigenen Rohstoffen. Der Autor dieses Textes musste sich die Stelle im Video mehrmals ansehen, um sicherzustellen, sich nicht verhört zu haben. (Leider existiert das Video heute nicht mehr, allerdings wohl aus guten Gründen). Die abstruse Logik dieser Herleitung muss dann wohl bedeuten, dass Deutschland sich glücklich schätzen kann, kaum Rohstoffe zu besitzen, denn so macht sich das Land von diesen nicht unnötig abhängig.

Deutschland: So abhängig wie lange nicht mehr

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland von den Entscheidungen der Siegermächte abhängig. Es schien, als habe man als deutscher Politiker überhaupt nichts zu sagen, die Alliierten waren es, die sagten, wohin die Reise nun gehen werde. In der Nachbetrachtung stimmt diese absolute Annahme wohl nicht: Zwischen Deutschen und US-Amerikanern begannen schon früh Kooperationen, die auch den Schutz oder die Wiederverwendung ehemaliger Nazis beinhalteten, die nun neue Aufgaben übernahmen und Posten besetzten.

Offiziell aber war Deutschland von der Gnade der Siegermächte abhängig. Faktisch ist die heutige Abhängigkeit Deutschlands von den USA aber auf einem Niveau angekommen, das mit dem damaligen vergleichbar ist. Diesmal wird das Land jedoch nicht vom schlechten Gewissen angetrieben, sondern von der empfundenen Sicherheit, das moralisch reinste Gewissen der Welt vor sich herzutragen. Man kann davon ausgehen, dass die politisch Verantwortlichen sehr wohl wissen, dass sie gewissenlos, skrupellos und zutiefst zerstörerisch arbeiten. Da es sie aber nicht interessiert (vor allem wegen der oben genannten späteren Weiterverwendung in weichen Sesseln), sind die Folgen nicht weniger gravierend.

Die in Deutschland vorgetragene wirtschaftliche Unabhängigkeit von Russland bedeutet eben auch ein Maximum an Abhängigkeit von den USA. Das wird freilich öffentlich nicht erzählt, denn so positiv das Wort Unabhängigkeit besetzt ist, so negativ gilt das für Abhängigkeit. Erneut muss man die Kombination aus grandioser Propaganda und herzzerreißend dominanter Dummheit hervorheben. Diese Erzählung einer von vorn bis hinten konstruierten und faktisch nicht vorhandenen Unabhängigkeit ist nur möglich, wenn Politik und Medien in intimer Eintracht das Märchen verbreiten. Sie tun das, und die Maschine der Propaganda läuft wie geschmiert.

Auf die Spitze getrieben

Diese verdammte Abhängigkeit von den eigenen Ressourcen bringt Russland einmal mehr in Schwierigkeiten. Nachdem ukrainische Soldaten der Meinung waren, russischen Boden angreifen zu müssen, ist die Gaslieferung in Teile Europas in Gefahr. Von Kursk aus werden Länder wie Ungarn, die Slowakei, Moldau und Österreich beliefert. Von Kursk aus geht es über die Ukraine in diese Länder. Käme es zu einem durch die Ukraine verschuldeten Ausfall der Gaslieferungen, wären die betroffenen Länder in einer unangenehmen Situation. Speziell die Slowakei und Österreich wären wohl gezwungen, sich nach Alternativen umzusehen, und die wären Flüssiggas, das aus Europa gekauft werden müsste, natürlich zu den entsprechend höheren Preisen.

All das und die weiteren möglichen Folgen des Angriffs von Kiew auf Russland schert die Europäische Union (EU) nicht. Der allgemeine Tenor ist, dass es schon in Ordnung sei, auf Russen zu schießen, man verteidige sich ja nur. Sollte es aber zu einer Unterbrechung des Transits von Gas über die Ukraine kommen, wäre die EU der Dumme. Die Preise würden erneut steigen. Es wäre ein erneuter Schock, nachdem die Ukraine erst kürzlich den Transit nach Ungarn und die Slowakei unterbrochen hatte. Die EU schwieg damals, und sie schweigt auch heute.

Wir wissen jetzt also etwas genauer, wie die sogenannte Unabhängigkeit Deutschlands von russischem Gas aussieht. Um das Bild zu vervollständigen, muss aber noch erwähnt werden, dass die USA, dessen Flüssiggas in Deutschland als Heilsbringer angekündigt wurde, längst die Richtung geändert haben und ihr Gas zu Teilen nach Asien umleiten. Die Amerikaner sind halt Partner, die ihren eigenen Kopf und vor allem ihre eigenen Interessen haben.

Im Winter könnte es in Deutschland zu einer prekären Lage kommen, sollten die Transits aus der Ukraine weniger werden, die USA weiterhin ihr Flüssiggas zu hohen Preisen anbieten und Petrus entscheiden, den Deutschen mal wieder eine romantische Winterlandschaft zu gönnen.

Dann heißt es womöglich für die Menschen in Deutschland: Frieren in Unabhängigkeit ist doch immer noch am schönsten.

Tom J. Wellbrock ist Texter und Sprecher und betrieb gemeinsam mit Jens Berger den Blog Spiegelfechter. Aktuell betreibt er gemeinsam mit Roberto J. De Lapuente den Blog Neulandrebellen.de sowie den Telegram-Kanal „Randnotizen aus der Mitte


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