Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Südlibanon: Verbranntes Land

In den Süden des Libanon zu fahren, bedarf einiger Vorbereitungen. Libanon und Israel sind seit Jahrzehnten im Kriegszustand, eine offizielle Grenze gibt es nicht. Die Trennungslinie zwischen dem Gebiet, das Israel für sich reklamiert – was vom Libanon nicht anerkannt wird -, ist mit blauen Tonnen markiert, die von der UNO dort platziert wurden. Sie markieren die „Blaue Linie“, eine Waffenstillstandslinie, die von UNIFIL, einer UN-Interimstruppe für Libanon, kontrolliert wird.

von Karin Leukefeld

Die Reportage basiert auf Recherchen der Autorin im Südlibanon am 18. Juli 2024

Erstveröffentlichung am 31.07.2024 auf den NachDenkSeiten

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

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Seit dem 7. Oktober 2023 wird entlang der „Blauen Linie“ geschossen. Die libanesische Hisbollah bombardiert militärische Ziele und Überwachungsanlagen der israelischen Streitkräfte (IDF), die mit Drohnen, Kampfjets, Artillerie bis weit in den Libanon hinein bombardieren. Der Krieg begann mit dem Krieg gegen Gaza. Nach Angaben der Hisbollah werden die Angriffe gestoppt, sobald es in Gaza einen Waffenstillstand gibt.

In der Zeit vom 7. Oktober 2023 bis 21. Juni 2024 haben sich entlang der „Blauen Linie“ mindestens 7.400 Angriffe ereignet. Das ergibt eine Dokumentation des Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED), das entsprechendes Kartenmaterial veröffentlichte. 83 Prozent dieser Angriffe wurden demnach von Israel verübt, insgesamt 6.142. Dabei wurden mindestens 543 Personen im Libanon getötet. Hisbollah und andere bewaffnete Gruppen seien demnach für 1.258 Angriffe verantwortlich, heißt es in dem Bericht. Dabei seien mindestens 21 Israelis getötet worden.

Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) wurden auf libanesischer Seite mindestens 340.000 Tiere getötet, 47.000 Olivenbäume und 790 Hektar Agrarland zerstört, und zwar „während der Erntezeit“. Die Folge sei, dass die libanesischen Bauern mehr als 70 Prozent ihrer Ernte (2023/24) verloren und das Angebot von Nahrungsmitteln für die Bevölkerung sich verringert habe, heißt es in dem FAO-Bericht. In großem Umfang feuern die israelischen Streitkräfte weißen Phosphor auf libanesische Wälder und Agrarland. Ernten, Boden und Grundwasser werden verseucht, das Gift bedroht Menschen und Vieh gleichermaßen. Israel zerstöre absichtlich die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, sind Gesprächspartner im Libanon sich sicher. Niemand soll jemals wieder in das fruchtbare, wasserreiche Gebiet zurückkehren, das Israel seit seiner Gründung 1948 besitzen will. Tausende Familien haben ihre Lebensgrundlagen verloren.

Die Vorgeschichte

Die Bevölkerung der Region war nie an Kriegen und auch nicht an Grenzen interessiert, die sie und ihre Bewegungsfreiheit einschränken würden. Dass ihnen ihr Land genommen wurde, dass sie heute nicht mehr einfach aus Beirut für einen Tagesausflug nach Haifa fahren können, nicht mehr von Beirut nach Kairo oder von Bethlehem nach Damaskus oder Bagdad reisen können, dafür haben Großbritannien und Frankreich Anfang des 20. Jahrhunderts gesorgt. Entlang der heutigen „Blauen Linie“ zwischen dem Libanon und dem heutigen Israel zogen die beiden europäischen Kolonialmächte 1916 – auf einer Landkarte – eine Linie von Akka (Acre) nach Mosul und weitere Linien, die das Gebiet aufteilten. Diese Linien gingen als „Linien im Sand“ in die Geschichte ein, obwohl vieles keineswegs Sand, sondern seit Generationen bewirtschafteter Boden war. Es ging um die Kontrolle des gesamten Gebietes zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Persischen Golf.

Mark Sykes, Diplomat Großbritanniens, und George Picot, Diplomat Frankreichs, hatten sich 1916 – noch während des Ersten Weltkrieges – im geheimen Sykes-Picot-Abkommen auf eine Aufteilung der arabischen Provinzen des zerfallenden Osmanischen Reiches geeinigt; nicht, um diesen Provinzen eine staatliche Unabhängigkeit zu geben, wie man ihnen fälschlich versprach, sondern um sie zu kontrollieren und damit die eigenen, imperialen Interessen zu „sichern“.

1917 konkretisierte Großbritannien mit der Balfour-Erklärung seine außenpolitischen Pläne in der Region. Arthur James Balfour, damals britischer Außenminister, übermittelte der zionistischen Nationalbewegung die „Unterstützung der Krone“ zur „Errichtung einer jüdischen Heimstadt in Palästina“. Die zionistische Nationalbewegung verbreitete zur Umsetzung ihrer Pläne – im eigenen und im britischen Interesse – die Lüge von Palästina als einem „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“.

Zur Absicherung dieser Interessen entstand 1948 – gegen den Willen aller, die sich in der Region eine Stimme verschaffen konnten – der Staat Israel. Die damit verbundene Vertreibung der Palästinenser, die Nakba, wiederholte sich mit jedem Krieg, jeder Hauszerstörung, jedem neuen Siedlungsbau. Die Rolle der einstigen Kolonialmacht Großbritanniens zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Persischen Golf ging mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) an die USA über.

Die Rolle Israels, das sich als Wächter imperialer Interessen in einer der wichtigsten geostrategischen Regionen der Welt bis heute anbietet und entsprechend mit Geld und Waffen versorgt wird, erhielt durch die USA mehr Gewicht. Für die Region bedeutete das mehr Krisen und Kriege. Der Drang Israels nach Norden, in die fruchtbaren Gebiete des Libanon und nach Osten auf die fruchtbaren syrischen Golanhöhen hörte nicht auf.

Will man die Konflikte und Kriege der Region mit Israel verstehen, ist es hilfreich, die hier nur in Stichworten beschriebene Vorgeschichte zu kennen. Den Menschen der Region ist sie von ihren Vorfahren und deren Vorfahren vermittelt worden. Ob in Gaza, im Westjordanland, ob auf den Golanhöhen oder im Libanon – bis heute kämpfen die Menschen um ihr Land und um ihr Recht, ihr Leben und ihre Zukunft selbst zu gestalten.

Um die Folgen des Krieges entlang der „Blauen Linie“ zu sehen, bedarf es einiger Vorbereitungen. Wegen des Kriegszustandes zwischen Libanon und Israel ist der Süden des Libanon eine Militärzone, in der für Journalisten besondere Regeln gelten. Um dorthin zu fahren, zu filmen, zu fotografieren oder Interviews zu führen, bedarf es einer Genehmigung der libanesischen Streitkräfte. Wird diese erteilt, erhält man von der Pressestelle der Armee eine E-Mail:

„Wir informieren Sie, dass Sie die Genehmigung erhalten haben, in den Süden (des Libanon) zu fahren. Ihr Name steht auf der Liste „B“, Seriennummer ist „59“. Die Genehmigung ist bis zum 31. Juli 2024 gültig. Sie müssen sich beim Geheimdienst der Südlichen Region melden, bevor sie mit Ihrer Arbeit beginnen (Original: bevor sie anfangen zu filmen). Sollten Sie weitere Fragen haben, rufen Sie bitte die Nummer (…) an.“

„Wo wollen Sie hinfahren, wen wollen Sie treffen?“, fragt der Beamte der Südlichen Region in Saida. „Ich möchte mit der Bevölkerung sprechen“, so die Autorin. „Es geht um die Folgen der israelischen Angriffe auf die ländlichen Gebiete mit weißem Phosphor und die Folgen für die Bevölkerung. Sicherlich können doch die Mitarbeiter des Zivilschutzes darüber Auskunft geben.“ Ob es möglich sei, nach Naqura zu fahren? Aus der Umgebung gebe es viele Berichte über solche Angriffe. Der Offizier überlegt kurz und sagt dann, Naqura sei nicht sicher. Erst am Morgen habe Israel in der Umgebung wieder bombardiert. „Fahren Sie Richtung Marjayoun. In Ibil al Saqi finden Sie das Hotel Dana, wo viele Journalisten wohnen. Dort werden Sie Ansprechpartner finden.“

Rückblick

Zuletzt war die Autorin Mitte Oktober2023 an der „Blauen Linie“. Damals ging die Fahrt von Kfar Kila über Odayssa entlang der von Israel errichteten Mauer und Überwachungsanlagen bis zur Küstenstadt Naqura. Bei Aalma ech Chaab, nur knapp zehn Kilometer von Naqura entfernt, hatte eine Gruppe Journalisten – deutlich als „Presse“ gekennzeichnet – auf einer Anhöhe Position bezogen. Man tauschte sich aus, dann ging es weiter. Am nächsten Tag (13. Oktober 2023) feuerte mindestens ein israelischer Panzer gezielt auf Journalisten, die von der gleichen Anhöhe aus die Lage beobachteten. Issam Abdallah von der Nachrichtenagentur Reuters wurde getötet. Christina Assi, eine libanesische Fotografin, die für die Nachrichtenagentur AFP arbeitete, wurde schwer verletzt. Ein Bein mußte teilweise amputiert werden. Auch andere Journalisten aus der Gruppe wurden verletzt. Im November wurden bei Tayr Harfa die beiden Journalisten Farah Omar und Rabih al Mamaarih vom Nachrichtensender Al Mayadeen ebenfalls gezielt von der israelischen Armee getötet.

Die „Blaue Linie“ brennt

Heute ist es unmöglich, die Strecke entlang der „Blauen Linie“ zu fahren. Die Straße ist militärisches Sperrgebiet und eine Kampfzone. Odayssa, Meiss al Jebl, Blida, Bint Jbeil, Aalma ech Chaab und Naqura brennen. Tausende Familien mussten fliehen. In Marjayoun ist ein Stützpunkt des Zivilschutzes, also geht die Fahrt dieses Mal über Nabatieh in Richtung Südosten. Hinter Nabatieh wird die Straße schmal und schlängelt sich schließlich durch das Litani-Tal, das sich nach Osten hin öffnet. Kleine Pinienwälder ziehen sich die Hügel entlang, der schmale Flußlauf des Litani ist unter dichtem Buschwerk verborgen. Nach Westen, zum Meer hin, steigt allmählich eine steile Felswand empor, auf deren Höhe die Kreuzfahrerburg Beaufort liegt. Es sieht aus, als sei sie in den Felsen gebaut. Zuletzt hatten sich dort israelische Truppen verschanzt, die große Teile des Libanon (1982-2000) besetzt hielten.

Nur wenige Fahrzeuge sind unterwegs, das Gebiet ist weitgehend unbewohnt. Naturschützer wie die „Green Southerners“, was so viel heißt wie „Die grünen Leute aus dem Süden“, möchten das Litani-Tal und die umliegenden Wälder als „Kulturerbe“ für den Libanon erhalten und engagieren sich gegen eine Bebauung. Derzeit sorgen allerdings der Krieg und die Wirtschaftskrise (seit 2019) dafür, dass Baumaßnahmen nicht in Frage kommen. Die libanesischen Naturschützer dokumentieren seit Monaten die Verwüstung von Wäldern, Agrarland, von Obst- und Olivenhainen durch Brandbomben der israelischen Streitkräfte und durch Beschuss mit weißem Phosphor.

Unterhalb der Festung Beaufort überquert die Straße den Litani-Fluß über die Khardali-Brücke. Die Libanesische Armee unterhält hier einen Kontrollpunkt und kontrolliert ein- und ausfahrende Fahrzeuge. Unser Wagen ist mit einem „Presse“-Schild markiert und wird zur Seite gewunken. Der zuständige Offizier prüft die Papiere und findet den Namen der ausländischen Journalisten auf der B-Liste. Der Checkpoint ist über ihr Kommen informiert, der Wagen kann passieren. Anhalten ist nicht

Zwischen Felswänden schlängelt sich die Straße wieder hinauf in Richtung Marjayoun. An verschiedenen Stellen ist das Land bis tief hinunter in die Schlucht verbrannt. Es geht vorbei an einer Quelle, an der erst vor wenigen Wochen zwei Männer getötet wurden. Sie hatten angehalten, um sich mit Wasser zu versorgen, als eine israelische Drohne sie ins Visier nahm und tötete. Darum werden alle Fahrzeuge, die die Khardali-Brücke überqueren, angewiesen, bis Bourj al-Mouluk (Mulukkenturm), einem Ort auf der Höhe, nicht zu stoppen.

Die Bewohner der Region erzählen sich, dass die Kämpfer der Hisbollah, die früher im Litani-Tal und den umliegenden Hügeln jahrelang die israelischen Besatzungstruppen bekämpft hatten, an der Quelle immer Halt gemacht und getrunken hätten. Das Wasser habe ihnen Kraft gegeben, die israelischen Feinde schließlich zu verjagen, sagen die Leute. Darum sei das Wasser bei Vorbeifahrenden so beliebt.

Kurz vor Marjayoun auf einer Anhöhe stehen Pressefahrzeuge. Auf einem Feld sind zwei Stative für Kameras aufgestellt, im Schatten eines Baumes haben einige Männer sich auf Campingstühlen niedergelassen. „Hier sehen Sie Journalisten von Al Alam und Al Jazeera friedlich beieinandersitzen“, sagt einer der Männer, der für den iranischen Sender Al Alam arbeitet. „Und hier kommt unser guter Freund und Kollege, der für alle großen internationalen Medien arbeitet“, begrüßt er dann einen älteren Mann, der einen Safarihut trägt. Die Krempe hat er an beiden Seiten hochgeklappt. Man erkundigt sich nach dem Woher und Wohin, ein Kollege beschreibt den Weg zur Basis der Zivilschutzkräfte. Die Anhöhe gibt von Osten nach Westen einen weiten Blick frei. Im Tal unterhalb liegt die israelische Siedlung Matulla, die von der israelischen Mauer umgeben ist, die sich entlang der „Blauen Linie“ Richtung Westen bis Naqura zieht. Die Ortschaften auf der libanesischen Seite sind für Journalisten gesperrt, es ist Kampfzone.

Im Osten liegt der Ort Khiam auf einem Hügel. Dort hatten die israelischen Besatzungstruppen ein Gefängnis für politische Gefangene errichtet. Der Ort ist ein Museum geworden, wird heute aber wieder von Israel bombardiert. Hinter dem Hügel fließt der Hasbani-Fluß, der die Felder, Obst- und Olivenhaine wässert, die heute israelische Siedler ihr Eigen nennen. Die Familien im Südlibanon, vom syrischen Golan und aus Palästina haben die ausländische Teilung ihres Bodens nie akzeptiert: weder durch Großbritannien und Frankreich (1916, 1917) noch die weiteren Teilungspläne (1937, britische Peel Kommission) oder durch die UNO (1947) noch die gewaltsame Landnahme 1948 durch die zionistischen Milizen.

Marjayoun ist ein ruhiger Ort, während der israelischen Besatzung war hier die mit Israel kollaborierende Südlibanesische Armee (SLA) stationiert. Bei der Befreiung im Jahr 2000 zogen diese Freunde Israels mit den israelischen Truppen über Nacht über die „Blaue Linie“ nach Israel davon, wo sie neue Aufgaben zugewiesen bekamen oder in andere Teile der Welt auswanderten.

Hoffentlich ist der Krieg bald vorbei

Das Quartier der Zivilschutzkräfte liegt abseits der Hauptstraße. Zu erkennen ist es an dem großen Feuerwehrwagen, der auf dem Hof steht. Drei Jugendliche und zwei ältere Männer sitzen unter einem schützenden Sonnendach an einem niedrigen Tisch und trinken Kaffee. Rasch stehen sie auf, als die Fremden sich nähern. „Sie ist eine Journalistin aus Deutschland und möchte mit dem Zivilschutz über die Zerstörung von Agrarland sprechen“, erläutert H., der die Autorin im Libanon begleitet. Einer der Männer weist auf einen Nebenraum, wo der Leiter der Station sein Büro habe, mit dem müssten wir sprechen. „Haben Sie eine Genehmigung von unserem Hauptquartiert“, ist die erste Frage, die der Stationsleiter stellt. Die Genehmigung von Armee und Geheimdienst reiche nicht aus. H. bittet den Mann, mit dem Hauptquartier zu telefonieren und eine Genehmigung einzuholen. Doch leider sei nichts zu machen, sagt der Mann nach einer Weile telefonieren. Journalisten müssten mindestens eine Woche vorher eine Genehmigung in Beirut einholen.

Die drei Jugendlichen sind allerdings bereit, einige Fragen der Journalistin zu beantworten. George (20) und Elias (18) studieren, David (17) macht erst im nächsten Jahr sein Abitur. Die drei sind nicht aus Marjayoun, sondern aus Kleya, einem Ort in der Nähe, erzählen sie. Sie verbrächten die Ferien als freiwillige Feuerwehrkräfte mit dem Zivilschutz, die Situation erfordere es. Ja, auch Mädchen seien in ihrer Freiwilligengruppe, allerdings seien die in einem anderen Haus untergebracht. „Aber im Einsatz arbeiten wir alle zusammen.“ Viele Jungen und Mädchen in der Umgebung würden sich schon früh – neben dem Schulunterricht – zum Zivilschutz melden, berichten die drei. Es gäbe regelmäßige Übungen und auch längere Ausbildungsseminare. „Wir haben unsere Uniform, Stiefel, Helm – alles, was wir für einen Einsatz brauchen“, erzählt David, der Jüngste der drei. Erst am Vortag seien sie zu einem Einsatz am Litani-Fluß gerufen worden. „Ein großes Feuer“, meint George, sie hätten es löschen können.

Drei Freiwillige für den Zivilschutz Marjayoun. Links nach rechts Elias, George, David – Foto K. Leukefeld

Für alle drei ist es der erste Krieg, den sie erleben. Aber ihre Eltern haben ihnen schon von früheren Kriegen erzählt. Alle drei hoffen, dass der Krieg bald vorbei ist. „Wir verstehen die politischen Gründe nicht“, meint George. Aber vielleicht will er nur nicht darüber sprechen. „Wir wissen nur, dass wir nicht tun können, was wir möchten, dass wir nicht hinfahren können, wohin wir möchten, dass viele unserer Freunde nicht mehr hier sind, sondern in anderen Teilen des Landes, wo es sicherer ist“, zählen sie die Einschränkungen auf. Sie müssten zu Hause bleiben, wenn sie nicht im Einsatz seien, und niemand wisse, was die Zukunft bringe. Elias erzählt, dass er mit seinen Eltern erst vor sechs Jahren zurück in den Libanon gekommen sei. Damals war er zwölf, davor habe die Familie in Schweden gelebt. Für die Jugendlichen in Europa sei das Leben natürlich viel angenehmer, „es gibt alles“, meint Elias. Im Libanon sei das Leben sehr schwierig, und vielleicht würde er eines Tages doch wieder ins Ausland gehen, um zu arbeiten. Elias studiert Business Management, George studiert Mechanik (Physik), und auch er kann sich vorstellen, eines Tages ins Ausland zu gehen. David sagt, er wisse noch nicht, was er einmal studieren wolle. Er habe ja noch ein Jahr Schule und Zeit. Eins aber wisse er schon, fügt er dann verschmitzt hinzu: „Ich möchte auf jeden Fall hierbleiben, im Libanon.“

Die Schallmauer durchbrechen in Ebel as Saqi

Um wieder auf die Hauptstraße zu gelangen, muss H. einen Weg durch das Labyrinth von schmalen Gassen finden, die sich den Hang hinunter an niedrigen, einfachen Häusern vorbeischlängeln. Die Gebäude sind von Blumen und Bäumen umgeben, zwischen den Häusern sind Gärten angelegt. Alles liegt wie verlassen, niemand ist zu sehen.

Auf der Hauptstraße fahren zwei UN-Fahrzeuge vor uns in vorgeschriebenem Tempo, irgendwann biegen sie in die Hügel ab. „Hier ist eine spanische UNIFIL-Basis“, sagt H., der den Südlibanon wie seine Westentasche kennt. 49 UN-Staaten haben für die UNIFIL-Mission 10,031 Soldaten und Soldatinnen entsandt. Das größte Kontingent stellt aktuell Italien mit mehr als 1.000 Truppen, das die Mission leitet. Spanien hat 677 Truppen im Libanon, ihre Basis liegt nördlich von Marjayoun.

Wir biegen ab in Richtung Ebel al-Saqi. Der kleine Ort liegt abseits und wird von Drusen und Christen bewohnt. Mitten im Kriegsgebiet des südlichen Libanon ein Hotel zu finden, ist überraschend. Noch überraschender ist allerdings das große Schwimmbad, das direkt hinter dem Hotel liegt. Leise tönt Musik herüber, eine Familie mit Kindern genießt die gesamte Anlage für sich. „Normalerweise ist es im Sommer hier so voll, dass Sie keinen Platz mehr finden“, sagt der leitende Manager Riad Zeineddine. „Nun haben wir Krieg und die Gäste bleiben weg.“ Als die Autorin sich als Journalistin vorstellt, beginnt Herr Zeineddine, die Preise zu nennen: „Einzelzimmer 65 US-Dollar, Steuer und Frühstück inklusive. Doppelzimmer 80 US-Dollar, Steuer und Frühstück inklusive. Sollten Sie Vegetarierin sein, werden wir etwas für Sie zubereiten. Die libanesische Küche ist vielfältig, wie Sie wissen. Allein die Vorspeisen.“ Das Hotel habe 36 Zimmer, zehn davon seien für UNIFIL reserviert. Viele Medien hätten sich eingemietet, sagt der Manager und zählt nicht ohne Stolz auf: „Jazeera, sky news, Al Arabiya, Al Mayadeen, BBC, CNN, Jadeed“, um nur einige zu nennen.

Das DANA-Hotel sei etwa 1990 gebaut worden, berichtet er auf weitere Nachfrage. Damals sei eine UNIFIL-Basis der Norweger in dem Gebiet gewesen. Sie hätten den Bau des Hotels gefördert, damit Familienangehörige sie besuchen konnten. Damals habe das Hotel nur aus der Lobby und dem Schwimmbad bestanden. Eine Küche habe es gegeben, aus der auch die UNIFIL-Basis versorgt worden sei. Nur wenige Räume habe es für das Küchenpersonal gegeben. „Das eigentliche DANA-Hotel, wie sie es jetzt sehen, wurde 2020 eröffnet“, berichtet der Manager weiter. „Ende des Jahres 2024 läuft der Vertrag aus. Wir wissen nicht, was dann werden wird.“

Riad Zeineddin stammt aus Hasbaya, das knapp zehn Kilometer weiter nordöstlich liegt. Hasbaya ist ein Zentrum der libanesischen Drusen. Die Caza Hasbaya, das Haus Hasbaya liegt am Fuß des Berges Hermon, den die Araber Jbeil Scheich nennen, Berg des Scheichs. Hier liegt Khalawat Al Bayyada, eine bedeutende theologische Einrichtung der libanesischen Drusen.

Während wir uns unterhalten, unterbricht plötzlich ein lauter Knall das Gespräch. Die Fenster klirren und wackeln in den Rahmen, eine Druckwelle läßt das gesamte Gebäude erbeben. „Nichts“, lächelt Herr Zeineddin freundlich. „Es ist nichts, Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Die Israelis haben mit ihren Kampfjets die Schallmauer durchbrochen. Das machen sie immer, um uns Schrecken einzujagen.“

Herr Zeineddin entschuldigt sich, weil sein Handy klingelt. Auch das Handy von H., meinem Begleiter, klingelt. Es sei seine Tochter, signalisiert H., bevor er den Anruf beantwortet. „Sie war besorgt, weil bei ihnen die Schallmauer durchbrochen wurde“, erklärt H. später. Seine Familie lebt südlich von Saida, etwa 80 Kilometer von Ebel as Saqi entfernt.

Wir verabschieden uns, Herr Zeineddin gibt jedem von uns noch eine Flasche eisgekühlten Fruchtsaft mit. „Kommen Sie wieder“, sagt er freundlich. „Von hier bis Hasbaya ist alles ruhig, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“

Nur wenige Kilometer entfernt, entlang der Waffenstillstandslinie, ist verbranntes Land. Die Autorin kann nicht dorthin, es ist militärisches Sperrgebiet. Fotos der „Grünen Leute aus dem Süden“, der Green Southerners, dokumentieren die Verwüstung.

Wann können wir wieder in unsere Dörfer?

Die Fahrt geht zurück an die Küste nach Tyre, wo 27.000 Menschen aus den südlichen Dörfern in Schulen untergebracht sind. Die Inlandsvertriebenen werden von der örtlichen Verwaltung mit Hilfe der Gewerkschaft der städtischen Arbeiter in Tyre versorgt. Unterstützung gibt es von der UN-Organisation für Entwicklung (UNDP), lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen haben verschiedene Aufgaben übernommen.

Der Leiter der Behörde, Mortada Mhanna, stellt der Autorin Herrn Ali an die Seite. Er stammt aus Naqura und hat dort bei der örtlichen Polizei gearbeitet. Nun ist er für Herrn Mhanna eine Art „rechte Hand“, um die Versorgung der Familien in der Technischen Schule Tyre zu kontrollieren. „Es sind Ferien, die Familien sind im Erdgeschoss untergebracht“, sagt Herr Ali. Sollten sie noch immer da sein, wenn die Schule im Herbst wieder den Betrieb aufnehme, werde der Unterricht auf die zwei oberen Etagen verlegt. Herr Ali hat weißen Phosphor gesehen, als sein Dorf und die umliegenden Wälder damit angegriffen wurden. „Es hört nicht auf zu brennen“, sagt er. „Wenn Menschen damit in Berührung kommen, verbrennt ihre Haut und sie können von innen her brennen.“

Dann begrüßt er Herrn Ahmed, der seit vielen Jahren in der Technischen Schule angestellt ist und ebenfalls den Inlandsvertriebenen hilft. Die Familien, die in der Technischen Schule untergebracht seien, seien einfache Leute, erklärt Herr Ahmed. Es seien Bauern, nicht alle hätten eine gute Schulbildung gehabt. Für sie sei der Alltag in der Unterkunft sehr schwierig. Da Ferien seien, hätten die Kinder keine Schule und langweilten sich. „Die Leute haben keine Arbeit, sie haben kein Geld. Einmal am Tag bekommen sie eine warme Mahlzeit von einer Hilfsorganisation, die ihren ursprünglichen Essgewohnheiten nicht gerecht wird.“ Viele lehnten das Essen ab, das meist aus Reis und einer Gemüsesoße, manchmal mit Fleisch bestehe. Auch die hygienischen Verhältnisse einer Schule seien für so viele Menschen nicht geeignet, fährt Herr Ahmed fort. Es gäbe nicht immer genug Wasser.

Dann hellt sich sein Gesicht auf und er erzählt von einem Projekt, das ihm große Freude mache. Es richte sich an die Frauen und werde „von außen“ finanziert. „Von außen“ bedeutet, das Geld kommt von der UN-Organisation für Frauen (UN Women), die in Kooperation mit örtlichen Nichtregierungsorganisationen ein Frauenprojekt finanziert. „Es wurde Land um die Schule herum gerodet, sodass die Frauen dort pflanzen können“, erklärt Herr Ahmed. Sie arbeiteten morgens und nachmittags jeweils drei bis vier Stunden und erhielten für ihre Arbeit pro Tag 16 US-Dollar. Für die Kinder der Frauen werde in der Zeit von einer lokalen Organisation eine Kinderbetreuung angeboten. „Sie haben Glück, die Nachmittagsschicht beginnt um 17.00 Uhr, dann können Sie mit den Frauen sprechen.“

Tyre. Eine junge Bäuerin aus Blida. Sie möchte auf dem Foto nicht erkannt werden – Foto K. Leukefeld

Nach und nach kommen die Frauen aus dem Gebäude und versammeln sich um Herrn Ahmed, um eine Teilnahmeliste zu unterschreiben. Alle tragen lange Hosen und lange Blusen. Um sich vor der Sonne zu schützen, haben sie ihre Köpfe mit Tüchern umwickelt, darüber tragen sie Kappen oder Sonnenhüte. Ihre Hände schützen sie mit Handschuhen bei der Arbeit. Hüte, Handschuhe wie auch das notwendige Werkzeug, Dünger und Saatgut werden von der UNDP gestellt. Bis auf eine Frau weigern sich alle, von der Autorin fotografiert zu werden. Es schicke sich nicht, sagt eine junge Frau. „Was, wenn mein Bruder ein Foto von mir bei Facebook findet!“

Tyre. Manal Issa (42) aus Blida hat keine Scheu, fotografiert zu werden – Foto K. Leukefeld

Manal Issa ist nicht so scheu und lässt sich fotografieren. Die 42-Jährige stammt aus Blida, wo sie mit ihrem Mann und zwei Kindern gelebt hat. Ihre 14-jährige Tochter sei behindert, erzählt sie, daher könne sie nicht mit zur Arbeit kommen. Sie und ihr Mann hätten mit dessen Bruder zusammen im Gemüse- und Tabakanbau gearbeitet. Nachdem ihr Haus bei einem israelischen Angriff stark beschädigt worden sei, sei die Familie zum Bruder gezogen. Doch die Lage habe sich verschlimmert, und im November, einen Monat nach Beginn des Krieges, seien sie aus dem Dorf evakuiert worden. Zwölf Familien aus ihrem Dorf und aus benachbarten Dörfern um Blida seien nun hier untergebracht.

In Tyre, in der Schule sei das Leben schwierig, sagt Manal Issa leise. „Uns fehlt unser Zuhause, die Arbeit, der geregelte Alltag für die Kinder.“ Ihr Mann sei behindert und habe doch in der Landwirtschaft arbeiten können. Hier sei das nicht möglich, er habe nichts zu tun. „Wir warten, dass wir wieder nach Hause können.“

Die anderen Frauen rufen Manal, dass die Arbeit beginne. Lachend stehen sie beieinander und beobachten das Gespräch. Einige haken sich unter und gehen zum Feld hinüber. „Sind Sie gekommen, um uns zu sagen, dass wir wieder nach Hause in unsere Dörfer können?“, fragt eine ältere Frau, die sich mit Herrn Ahmed unterhalten hat. „Wir alle wollen nach Hause, so schnell wie möglich“, ruft sie den anderen Frauen zu. „Nirgends ist es schöner als in unserem Dorf“, ruft eine zurück. Und Manal lacht: „Mein Dorf ist das Schönste, es ist die Nummer 1“.

Karin Leukefeld ist Buchautorin und arbeitet als freie Journalistin im Mittleren Osten


Bild oben: Tyre. Frauen arbeiten auf dem Feld. Projekt der UNDP für Inlandsvertriebene
Foto K. Leukefeld