Arbeit & Soziales

Wie J.D. Vance „Jehova“ gesagt hat – und deshalb bei Medien in Ungnade gefallen ist

Das ganze Durcheinander, das inzwischen mit den Begriffen „links“ und „rechts“ angerührt wurde, ist das Ergebnis eines Kampfes gegen Wahrnehmungen, Selbstwertgefühle und Begriffe, der schon länger andauert. Und der eine plötzliche Wendung genommen haben könnte, durch ein einziges Wort.

von Dagmar Henn

Erstveröffentlichung am 26.07.2024 auf RT DE

Es ist ein Ereignis, das der Logik geradezu widerspricht. Unmittelbar nach der Nominierung von J.D. Vance zum Vize von Donald Trump nimmt der deutsche Ullstein-Verlag (der zum Springer-Konzern gehört) die deutsche Übersetzung seiner Autobiografie aus dem Programm. Gerade zu einer Zeit, da bereits Bücher mit zwei-, dreitausend verkauften Exemplaren als Bestseller gelten, eine Entscheidung, die schwer nachzuvollziehen ist, weil das jetzt geradezu ein garantierter Verkaufsschlager ist. Und nebenbei – das Buch ist gut. Ullstein hat den Lizenzvertrag aus ideologischen Gründen gekündigt, und erklärt das offen.

So lautet die Begründung, die der Spiegel zitiert: „Zum Zeitpunkt des Erscheinens lieferte das Buch einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Auseinanderdriftens der US-Gesellschaft.“ Damals war Vance ein erklärter Gegner von Donald Trump. „Inzwischen agiert er offiziell an dessen Seite und vertritt eine aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik.“

Nun, man kann seine Rede auf dem Nominierungskongress der Republikaner anhören. Auf Deutsch gibt es nur kleine Schnipsel daraus. Auf Englisch kann man auch sein Buch „Hillbilly Elegy“ nach wie vor lesen. Man kann also überprüfen, ob dieselbe Person spricht, oder ob aus ihm jemand völlig Anderer geworden ist. Das ist nicht der Fall.

Die Nominierungsrede war etwas, was man früher, und hier rede ich von einem Zeitraum von vor mindestens 40 Jahren, in Deutschland von sozialdemokratischen Politikern erwartet hätte. Und damit nähert man sich dem wahren Grund, warum Vance unerwünscht ist. Ja, Trump ist bei den Neoliberalen nicht beliebt, er gehört nicht zu ihrem Projekt. Aber Vance ist ein junger Mann, gerade 39, und mit dieser Nominierung im Falle eines Wahlsiegs von Donald Trump, mehr oder weniger automatisch der Präsidentschaftskandidat der Republikaner für 2029, und Vance jagt ihnen einen heiligen Schreck ein.

Dafür müssen wir einen kleinen Ausflug in ein ganz anderes Thema machen. Oder eben kein ganz anderes. In der Antwort auf eine kleine Anfrage, die Überwachung der Zeitung Junge Welt (JW) durch den Verfassungsschutz betreffend, aus dem Jahr 2021, heißt es unter anderem, „revolutionäre marxistische Grundüberzeugungen“ richteten sich „gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“. Und dann:

„Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum „bloßen Objekt“ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der Einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.“

Nun, der Autor dieser Zeilen hat offenkundig noch nie die Ergebnisse einer Marktforschungsstudie gesehen, die die ganze Gesellschaft in Gruppen wie „junge urbane Aufsteiger“ oder „statusorientierte Konsumenten“ einteilt. Täglich, hundertfach. Was dann eigentlich auch verfassungsfeindlich ist – ja, noch weit mehr als bei der JW, weil diese Einteilung tatsächlich Handlungskonsequenzen hat, bei Produktdesign und Werbekampagnen, bis hin zur Preisgestaltung, im Gegensatz zu Zeitungsartikeln, deren Wirksamkeit selten derart fleischliche Qualität annimmt.

Aber das ist es nicht. Die Verwendung des Begriffs Arbeiterklasse – so wurde das auch im Prozess wiederholt, den die Junge Welt gegen die Beobachtung angestrengt hatte und der erst vor wenigen Tagen stattfand – ist bereits verfassungsfeindlich.

Und wie stellte sich J.D. Vance in der Nominierungsrede vor?

„Ich bin ein Junge aus der Arbeiterklasse, aus einer armen weißen Familie.“

Übrigens, die Antwort des Bundesinnenministeriums zum Thema JW und die Verbotsbegründung zu Compact sind sich an vielen Punkten so ähnlich, dass man annehmen muss, ein entsprechendes Verbot für die JW liegt bereits in einer Berliner Schublade. Das gilt auch für das sehr eigenartige Bild von Menschenwürde, das im Falle der JW durch den Klassenbegriff verletzt wird, im Falle von Compact aber durch eine Beschränkung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft (die allerhöchstens in einem Moment überhaupt etwas mit diesem Thema zu tun hat, wenn nämlich Menschen, die seit Generationen in einem Staat leben, Nichtbürger sind; aber aus der Menschenwürde allein leitet sich keinerlei Anspruch auf Staatsbürgerschaft ab). Klasse ist ein ebenso verbotener Begriff wie Volk.

Und dann stellt sich dieser US-Senator hin und sagt einfach „ich bin ein Junge aus der Arbeiterklasse.“ Klar, es ist im Grunde nur in Deutschland so, dass man diese Begriffe nicht nutzen darf oder nicht nutzt. Das war übrigens auch unter den Nazis so. Unter Adenauer wurde viel Energie darauf verwandt, den Begriff der Klasse aus der Sozialforschung zu verbannen; man sollte stattdessen von der „nivellierten Gesellschaft“ schreiben, und bestenfalls von „Schichten“. Allerdings war selbst die Bundesrepublik unter Adenauer für heutige Verhältnisse ungeheuer egalitär. Aber gerade in einem Moment, zu dem die Klassenzugehörigkeit an den Zähnen ebenso sichtbar ist wie an der Kleidung, so zu tun, als gäbe es sie nicht, und als wäre es nicht die Ungleichheit, sondern ihre Benennung, die gegen die Menschenwürde verstößt, das ist schon von besonderer Dreistigkeit.

Natürlich, auch eine Regierung Trump ist mit Oligarchen verbandelt, und in keiner Hinsicht eine Garantie auf Besserung, man denke nur an die Haltung zum israelischen Genozid. Vielleicht kann man etwas mehr Pragmatismus erwarten, was angesichts der Tatsache, dass die Ideologen, die derzeit die Washingtoner Außenpolitik bestimmen, ständig mit dem Atomkrieg spielen, schon ein Fortschritt wäre. Und auch Vance ist keine Garantie für irgendwas. Selbst, wenn er in seinem Buch wie in seiner Rede den Eindruck erweckt, ein Mensch mit starken Loyalitäten zu sein, also jemand, dem man nicht nur einen Geldschein vor die Nase binden muss wie dem Esel die Möhre.

Wie tief die politische Kultur in Deutschland gesunken ist, wie weit sich dieses Land von sich selbst entfernt hat, kann man leicht erkennen, wenn man nur auf die Schwingungen lauscht, die dieser eine Satz auslöst. „Ich bin ein Junge aus der Arbeiterklasse“. Das ist in der deutschen Politik inzwischen ebenso rar wie in der US-amerikanischen. Gerhard Schröder, auf den diese Beschreibung eigentlich zutraf, versteckte sich lieber hinter dicken Zigarren und Brioni-Anzügen; dass seine Mutter alleinerziehend war, lancierte er zwar gelegentlich in Personality-Artikeln, aber es war nicht zentraler Bestandteil seiner Reden, seiner Selbstbeschreibung (das hätte es vielleicht auch schwer gemacht, anderen Alleinerziehenden mit seinem Hartz IV die größte Verschlechterung seit Jahrzehnten zuzufügen).

Wirklich, das war eine Rede, in der es um stagnierende Löhne ging. Um zerfallende Städte. Ein Thema, das auch die Demokraten bespielt haben, mit Obama. Der allerdings war der Sozialarbeiter, der aus einer doch recht elitären Familie stammt. Vance ist „Betroffener“. In seinem Buch beschreibt er zerfallene Familien, geprägt von Gewalt und Drogen; er romantisiert nicht; aber es bleibt ein Eindruck übrig, bei seiner Rede wie bei seinem Buch – wichtiger als Wohlfahrtsleistungen ist die Würde. Selbst was er als Schwäche beschreibt, setzt eine Stärke voraus, von der die „Schneeflöckchen“ nicht einmal träumen können; aber es ist wahrnehmbar, wie groß dabei die Wirkung nicht nur der materiellen Tatsache ist, dass die klassischen Fabrikjobs verschwunden sind und ein halbwegs gesichertes Familienleben einen College-Abschluss voraussetzt, sondern wie tief die Wunden sind, die der Verlust des gesellschaftlichen Ansehens geschlagen hat.

Man kennt das aus Deutschland. „Sozial Schwache“ gegen „Leistungsträger“. Die Tatsachen haben sich nicht geändert – die Gesellschaft funktioniert nach wie vor nicht ohne Müllmänner, Putzfrauen auf Intensivstationen, Lastwagenfahrer, Kanalarbeiter und Klempner, während man auf Investmentbanker und Wirtschaftsberater problemlos monatelang verzichten könnte, aber mit den Leistungsträgern sind immer Letztere gemeint. Die ganze Lohnstruktur, die in Deutschland ohnehin viel weiter gespreizt war als in anderen europäischen Ländern (ein Blick auf die Lohntabellen der Schweiz ist da sehr lehrreich), hat sich in den letzten Jahrzehnten noch weiter zu Gunsten der leitenden Angestellten verschoben, und auch einer der Zensoren, die mit Stiftungs- oder gar Steuergeldern bezahlt bei Correctiv oder Ähnlichem sitzen, dürften mehr verdienen als der Müllmann, der ihren Dreck wegräumt.

Dabei ist es letzten Endes nicht das Geld, das glücklich macht. Warum will denn keiner mehr Klempner lernen und wird eher Zensor bei Correctiv? Weil die gesamte Wahrnehmung von Sinn und Unsinn verschoben wurde, um zu verhindern, dass sich die Mitglieder der unteren Klassen als solche begreifen. Und vor allem, dass sie begreifen, wie wichtig sie sind, und verlangen, dass diese Bedeutung anerkannt wird. Glück aber, und das kann man von den Statistiken über psychische Erkrankungen ablesen, hängt an Sinn und Nützlichkeit; auch wenn der Zensor bei Correctiv es bewusst nicht begreift, unbewusst begreift er es, weiß er, dass die Putzfrau und der Müllmann mehr zur menschlichen Gesellschaft beitragen.

In Deutschland stagnieren die Löhne seit 30 Jahren. Eine ganze Generation hat ihr gesamtes Arbeitsleben in einer Lage verbracht, die sich kontinuierlich weiter verschlechterte. In der sie immer schlechtere Aussichten hatten und von Politik und Öffentlichkeit behandelt wurden wie Dreck, beispielsweise, indem die früher einmal gute Erwerbsminderungsrente, die sich die meisten im Doppelsinne erarbeitet hatten, fast völlig verschwand, und nicht nur die Elendszahlungen von Hartz IV an ihre Stelle traten, sondern gleich auch noch die Diffamierung als „Langzeitarbeitsloser“ (die Bürger der DDR traf das gleich doppelt).

Genau an der Stelle liegt auch der Grund, warum die Politik der offenen Grenzen und die Begeisterung, mit der viele Kinder der Mittelschicht so gerne jeden, der in Deutschland aufschlägt, alimentieren wollen, weil das so ein tolles Gefühl der Menschlichkeit verleiht, bei den weniger Besitzenden einen tiefen Groll auslöst. Weil vielleicht doch gerne mehr Menschen mehr Kinder hätten, aber genau wissen, dass die Grundlagen dafür fehlen und es ihnen zum Vorwurf gemacht wird, wenn sie es dennoch tun. Und dann sehen, dass es bei völlig Fremden ganz in Ordnung ist, als wären die geborenen Kinder im einen Fall Freßfeinde und im anderen niedliche Hundewelpen, und nicht einfach in beiden Fällen Kinder. Wobei das mit den Freßfeinden sogar stimmen könnte, wenn man sich an die Vehemenz erinnert, mit der die etwas besseren Kleinbürger in Hamburg sich gegen eine längere gemeinsame Schulzeit wandten.

Wenn Vance vorgeworfen wird, er sei gegen Abtreibung (was bei ihm so simpel nicht der Fall ist, der Mann versteht Widersprüchlichkeiten), dann darf man nicht übersehen, dass die Wirklichkeit heute eine andere ist als in den 1970ern. Gerade in den USA. Während es damals in der Auseinandersetzung darum ging, dass jährlich viele Frauen aus Not einen illegalen Eingriff vornahmen, der auch tödlich ausgehen konnte, ist da heute eine regelrechte Industrie, die embryonales Gewebe vermarktet und Nachschub braucht. Und die Tatsache, dass Abtreibungen einfach möglich sind, verwandelt sich schnell in eine Universalausrede, um gesellschaftliche Verantwortung für die Lebensumstände von Kindern zu verweigern. Die Mütter hätten ja abtreiben können.

Ein Argumentationsmuster, das in Deutschland mittlerweile auch zu finden ist. Weil grundsätzlich Kinder eher als Schaden denn als Gewinn gesehen werden, eher als Luxus denn als Voraussetzung der Zukunft. Schließlich kann man Fertigmenschen importieren. Letztlich könnte der Grund, warum man im Bürgertum Migration so viel toller findet als eine bessere Absicherung von Familien der Arbeiterklasse, weitaus zynischer sein – bei jenen, die neu ins Land kommen, kann man sicher sein, dass sie für die nächsten zwei Generationen ganz am Ende der Nahrungskette bleiben und nicht zur bösen Konkurrenz der eigenen Brut um Gymnasialabschlüsse und Studienplätze werden.

„Ich bin ein Junge aus der Arbeiterklasse“. Wie groß das Bedürfnis ist, die verlorene Würde wiederzugewinnen, zeigte sich im letzten Jahr, als das Video eines einfachen Lieds plötzlich im Internet geradezu explodierte. „Rich Men North of Richmond“, das war binnen Tagen beinahe eine Hymne. Dabei geht es nicht nur um das Ansehen der Arbeit, da geht es auch darum, das Widerstehen mehr zu schätzen als die Unterwerfung, das Schaffen mehr als das Verwalten, Loyalität mehr als Käuflichkeit (oder „Flexibilität“) und Zusammenhalt mehr als Individualität.

Das, was mit Konstrukten wie dem Trans-Hype gestopft wird, ist die Leerstelle, die die Löschung der Arbeiterklasse aus der offiziellen, also vor allem der kommerziellen Kultur hinterließ. Es ist mehr als sichtbar, dass eine Gesellschaft, die dies tut, auf Dauer nicht funktionieren kann; die Skala der Nebenwirkungen reicht vom Mangel an Lastwagen- und Busfahrern in Deutschland über Kriege, die angefangen werden, ohne auch nur daran zu denken, dass Granaten irgendwo produziert werden müssen, bis hin zu den US-Städten, die in der Opiatsucht versinken wie in Treibsand.

Man hat es tatsächlich geschafft, die gesamte Kultur der Arbeiterklasse für reaktionär zu erklären, vom Kleingarten bis zum Fleischverzehr. Wie hieß das schöne Wort? „Modernisierungsverlierer“. Und weil diese aufgeräumte, falsche bürgerliche Welt (mit ihrer nicht mehr ganz so subtilen Panik vor dem Abstieg) aufgeräumt in Gut und Böse geteilt ist und Status nur zu haben ist, wenn man sich nicht nur als Guter, sondern als Gutester inszeniert, wachsen Abstand zur und Verachtung für die proletarische Kultur kontinuierlich.

Oliver Anthonys Lieder erzählen nicht nur von dem Leben, das vergessen gemacht werden sollte. Sie greifen auch stilistisch auf eine Tradition zurück, die aus der Arbeiterklasse stammt. Und gleich, ob sich in der Politik in den USA in Zukunft tatsächlich etwas ändert oder nicht, dieser eine Satz von J.D. Vance und seine glaubwürdige Loyalität zu seiner Herkunft ist das genaue Gegenteil der „reichen Männern nördlich von Richmond“ auf der politischen Ebene. Ein notwendiges, ein ersehntes Aussprechen einer einfachen Wahrheit, ein Moment der Befreiung. Wofür sie ihn hassen werden; die Kündigung des Buchvertrags ist erst der Anfang.

Denn da wird ein Tabu gebrochen, in das alle Neoliberalen mehr als 30 Jahre investiert haben, da wird das Unaussprechliche ausgesprochen, als hätte er „Jehova“ gesagt.

„Ich bin ein Junge aus der Arbeiterklasse.“

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes


Bild oben: – J. D. Vance
Foto: Gage Skidmore / Surprise (AZ, USA) , CC BY-SA 2.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=149633354