Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Deutsche Verantwortung: gegen Völkermord, für die Menschen in Palästina

Aus Faschismus und Holocaust resultiert auch eine besondere deutsche Verantwortung für das Schicksal der Palästinenser

von Joachim Guilliard

Redebeitrag auf der Demonstration „Für einen gerechten Frieden im Nahen Osten ‒ Waffenstillstand und Versorgung der Zivilbevölkerung jetzt sofort! Keine weiteren Waffenlieferungen an Israel!“ am 8. Juni 2024 in Darmstadt

Erstveröffentlichung am 13.06.2023 im Blog des Autors „Nachgetragen

Über den fürchterlichen Krieg gegen den Gazastreifen und die unbeschreiblichen humanitären Verhältnisse dort, die von UN-Vertretern schon lange als „Hölle auf Erden“ bezeichnet werden, wurde heute von den Vorrednern und Vorrednerinnen schon viel Eindrückliches gesagt. Die flächendeckenden Zerstörungen und die Ermordung Zigtausender Menschen, mehrheitlich Frauen und Kinder, dazu das Aushungern der Bevölkerung sowie die von Regierungsmitgliedern offen geäußerten Ziele ihrer Vertreibung, ihrer ethnischen Säuberung, lassen den Vorwurf, Israel sei dabei, Völkermord zu begehen, absolut gerechtfertigt erscheinen. Der IGH hat diesen Vorwurf daher zurecht für gut begründet und plausibel erklärt.

Der IGH-Entscheid verpflichtet aber nicht nur Israel ‒ wenn auch vergeblich ‒ alle Handlungen einzustellen, die als Völkermord gewertet werden können. Aus der Völkermordkonvention ergibt sich auch für die Verbündeten Israels eine völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung, alles in ihrer Macht zu tun, um auch nur die bloße Möglichkeit eines Völkermords auszuschließen. Dennoch hat Berlin eine Zeitlang, wie einige andere westlichen Staaten, sogar die Zahlungen an das UNO-Hilfswerk UNRWA ausgesetzt. Da dieses für die Versorgung der Palästinenser zentral ist, beteiligte sich Deutschland damit an Israels Hungerblockade. In Art II der Völkermordkonvention, zählt, einer Bevölkerungsgruppe „vorsätzlich Lebensbedingungen aufzuerlegen, die darauf abzielen, ihre physische Zerstörung im Ganzen oder in Teilen herbeizuführen“, jedoch zu den Handlungen, die als Völkermord gewertet werden.[1] Im globalen Süden sprach man in Bezug auf die UNRWA-Boykotteure von einer „Achse des Völkermords“.[2]

Berlin unterstützt nun zwar diverse Aktivitäten, um etwas mehr Lebensmittel in die abgeriegelte Enklave zu bringen, auch aus der Luft und übers Wasser. Diese aufwendigen, teuren und teils aber völlig unzureichende Bemühungen erfüllen aber bei weitem nicht die Forderungen von IGH und UN-Sicherheitsrat, nach „Aufhebung aller Hindernisse für die Bereitstellung humanitärer Hilfe in großem Umfang“. Da der Gazastreifen keine Insel ist, pochen Hilfsorganisationen auf Lieferungen auf dem Landweg. Dringend nötig wäre also, die israelische Regierung endlich zu zwingen, eine ausreichende Versorgung darüber zuzulassen.

[Die „einzige Möglichkeit, den beispiellosen humanitären Bedarf in der Enklave zu decken“ bestehe zudem darin „einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand zu sichern und einen vollständigen, sicheren und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe über alle Landübergänge zu gewährleisten.“ Insbesondere die Staaten, die Waffen liefern, könnten „sich nicht hinter Luftabwürfen und Bemühungen um die Öffnung eines Seekorridors verstecken, um die Illusion zu erzeugen, sie würden genug tun, um die Bedürfnisse im Gazastreifen zu befriedigen.“ Die Hauptverantwortung dieser Staaten bestehe darin, „Gräueltaten zu verhindern und wirksamen politischen Druck auszuüben, um die unerbittlichen Bombardierungen und die Beschränkungen, die die sichere Lieferung humanitärer Hilfe verhindern, zu beenden.] [3]

Der Rest der Welt sieht bei der Durchsetzung einer ausreichenden Versorgung, wie beim Stopp der israelischen Angriffe, vor allem die USA und Deutschland in der Verantwortung, da sie den größten Einfluss auf Israel und dessen Kriegsführungsmöglichkeiten haben.

Nahezu alle Waffen, die Israel importiert, werden von den beiden Ländern geliefert. Den Daten des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI zufolge lag der deutsche Anteil zwischen 2019 und 2023 bei 30 %, der der USA bei 69 %, zusammen also 99%. Letztes Jahr für sich betrachtet, stieg der deutsche Anteil sogar auf 47 Prozent, dicht hinter den USA mit 53 Prozent. [4]

Die deutschen Waffen sind auch voll im Einsatz: So bombardieren die beiden Kriegsschiffe, die letztes Jahr geliefert wurden, von der Küste aus Ziele im Gazastreifen und helfen die Seeblockade gegen das Elendsgebiet durchzusetzen. Mit den Schulterraketenwerfern „Matador“, von denen 3000 nach Kriegsbeginn geliefert wurden, schießen die israelischen Truppen palästinensische Häuser samt Insassen zusammen. [5]

Damit unterstützt die BRD direkt Israels Gemetzel. Völkerrechtler und auch Amnesty International werten solche Waffenlieferungen als klare Beteiligung am israelischen Krieg und damit als Beihilfe bei den vielfältigen dokumentierten Kriegsverbrechen oder gar an Völkermord.

International hat sich Deutschland längst völlig isoliert. Der überwiegende Teil der Welt ist empört über die fortgesetzte Unterstützung Israels und fassungslos angesichts des Schweigens der großen Mehrheit der Deutschen über die Ermordung Tausender Kinder. So wirft Namibias Präsident Hage Geingob Deutschland Unfähigkeit vor, „Lehren aus seiner grausamen Geschichte zu ziehen“

Dabei wird hierzulande die nahezu bedingungslose Unterstützung Israels ja gerade mit der deutschen Geschichte gerechtfertigt, mit der besonderen deutschen Verantwortung für Juden aus dem Holocaust, der die Unterstützung Israels zur „Staatsräson“ mache.

Selbstverständlich ergibt sich aus dem von Deutschen unterm Faschismus systematisch betriebenen Völkermord an Juden eine besondere Verantwortung. Natürlich müssen wir als Deutsche dafür eintreten, dass Juden in Sicherheit leben können, überall. Und natürlich müssen wir entschieden Antisemitismus bekämpfen, allerdings echten Antisemitismus, als eine Form von Rassismus, der sich gegen Juden richtet, nur weil sie Juden sind.

Es ist aber verfehlt, dies gleichzusetzen mit der Unterstützung des Staates Israel, genauer der Politik dessen Führung, ungeachtet ihres rassistischen, menschenverachtenden Charakters.

Die ständige Gleichsetzung Israels mit dem Judentum ist nicht nur eine eklatante Missachtung der Vielzahl von Juden in der Welt, die sich keineswegs mit diesem Staat identifizieren, sondern trägt dazu bei, dass Juden allgemein für die israelische Politik mitverantwortlich gemacht werden, sich der Hass auf den Staat, der einen fürchterlichen Krieg führt, der als Apartheidstaat und Besatzungsmacht wahrgenommen wird, auf sie übertragen kann.

[[Die bekannte Autorin Charlotte Wiedemann schrieb dazu:

Deutschland ist auf die abschüssige Bahn eines falsch verstandenen Exzeptionalismus geraten: Indem die Verantwortung für den Holocaust und die daraus folgenden außergewöhnlichen Verpflichtungen verengt wurden auf ein Bekenntnis zur israelischen Staatsverfasstheit und Politik. … Der Widerstand gegen gleiche Rechte für alle verbindet die AfD mit dem Trump-Lager in den USA und dem Radikalzionismus in Israel. Wer zu dieser Strömung gehören möchte, sollte es sagen und sich dann besser nicht auf eine Lehre aus der Schoah berufen.[6]]]

[Von Beginn an basierte die Unterstützung Israels durch die BRD in erster Linie aus eigennützigem Interesse. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es der Adenauer-Regierung um das dringend nötige Aufpolieren des deutschen Images, um ein „Weißwaschen“, wie es Historiker Daniel Marwecki nennt. Wenn heute die Unterstützung Israels weithin als „Staatsräson“ geheiligt wird, so dient dies vorwiegend der Pflege eines positiven, identitätstiftendem Selbstbild, als „Ersatznationalismus“. Daneben ging und geht es auch um starke geopolitisch und militärischen Interessen. Israel spielt eine zentrale Rolle als potenter militärische Verbündeter in einer geopolitisch äußerst bedeutenden Region und als Partner in der Rüstung. [7]]

Die nahezu vorbehaltlose Förderung der israelischen Politik trägt auch keineswegs zum Schutz der jüdischen Bevölkerung bei, da sie nicht hilft, die Ursachen der Gewalt zu beseitigen ‒ im Gegenteil. Denn das Unrecht, das der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas bei der Gründung Israels angetan wurde, wirkt nicht nur bis heute fort, es wurde und wird immer weiter verschärft. Vom größten Teil ihres Landes vertrieben, leben sie zum großen Teil in Flüchtlingslagern und unter israelischer Besatzung.

Die Palästinenser sind dadurch durchgängig verschiedenster Formen von Gewalt ausgesetzt.

Wenn die Unterstützung Israels Vernichtungskrieg mit dessen Recht auf Selbstverteidigung und der Ungeheuerlichkeit der von der Hamas begangenen Massakers gerechtfertigt wird, werden die an sich allgemein bekannten Ursachen des Gewaltausbruchs am 7. Okt. von Politik und Meiden konsequent ausgeblendet. Mehr noch: Verweise darauf werden sogar massiv bekämpft. Wer darauf beharrt, wird sofort mit dem Vorwurf von Antisemitismus und Terror-Rechtfertigung diffamiert, obwohl natürlich die Nennung von Ursachen von Taten keineswegs diese auch rechtfertigen. Der Antisemitismus-Begriff wurde mittlerweile seiner eigentlichen Bedeutung völlig entleert. In beispielloser Weise werden pro-palästinensische Stimmen unterdrückt, kriminalisiert ‒ auch jüdische und israelische. Grundrechte werden dabei von Behörden und Institutionen ohne Hemmungen ausgesetzt und müssen gerichtlich eingeklagt werden.

Dabei lässt sich das Geschehen vom 7. Okt und danach ohne den geschichtlichen Hintergrund selbstverständlich überhaupt nicht begreifen, weder die brutale palästinensische Offensive, noch Israels vernichtender Krieg gegen die Bevölkerung Gazas.

Alain Gresh, langjähriger Chefredakteur von Le Monde diplomatique, fasste dies in einem Kommentar zum Angriff der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen am 7. Okt. so zusammen:

Im Gegensatz zu dem, was viele Israelis behaupten (…) ist dies kein ‚einseitiger‘ und ‚unprovozierter‘ Angriff. Der Schrecken, den die Israelis, mich eingeschlossen, gerade jetzt erleben, ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was die Palästinenser jeden Tag unter dem Militärregime erleben, das seit Jahrzehnten im Westjordanland wütet, und unter der Belagerung und den wiederholten Angriffen auf Gaza.

Solange diese Formen der Gewalt nicht beseitigt werden, wird es auch für die Menschen in Israel keine Sicherheit geben. Dies hat der 7. Oktober erneut eindrücklich gezeigt.

Israel in dem Bemühen zu unterstützen eine solche Sicherheit militärisch durch physische Vernichtung seiner Gegner zu erreichen, ist nicht nur völlig illusorisch, eine solche Unterstützung negiert auch völlig die Rechte der Palästinenser und zeigt angesichts des Leids und der hohen Zahl von Opfern, die dies zwangsläufig für sie bedeutet, wie gering deren Leben geschätzt wird. Man kann das jeden Tag auch in den Nachrichten sehen, wo jüdische Todesopfer als Individuen gewürdigt werden, palästinensische jedoch nur in Statistiken erscheinen. [Oder wenn hierzulande die Befreiung von vier israelischen Gefangenen gefeiert wird, bei der mehr als 270 Menschen getötet wurden.[8] Man stelle sich die Reaktion vor, wenn palästinensische Kämpfer bei der Befreiung palästinensischer Gefangener aus israelischen Lagern ein ähnliches Massaker an Israelis anrichten würden.]

Dabei trägt Deutschland auch für das Schicksal des palästinensischen Volkes eine besondere Verantwortung. Ohne die Judenverfolgung in Europa hätte es keine so massive Auswanderung nach Palästina gegeben, ohne den Holocaust wäre eine derart unfaire Teilung Palästinas, wie sie 1948 vorgenommen wurde, nicht denkbar gewesen. Die Palästinenser wurden dadurch zu späten Opfern des deutschen Faschismus. Sie müssen seither für ein Verbrechen zahlen, das sie nicht begangen haben und für das sie in keiner Weise verantwortlich waren.

Man kann dies nicht mehr rückgängig machen, Israel ist auch nicht der einzige Staat, dessen Gründung mit massivem Unrecht an der indigenen Bevölkerung einherging, man denke nur an die USA.

Deutsche Staatsräson aber müsste sein, sich dafür zu engagieren, dass im historischen Palästina alle Menschen zu ihren Rechten kommen, frei leben können, eine Perspektive haben ‒ sei es in einem oder zwei Staaten. ‒ vom Fluss bis zum Meer, from the River to the Sea!

Im Moment erleben wir das Gegenteil. Die israelische Haaretz Kolumnistin Amira Hass klagt dies mit deutlichen Worten an:

„Ihr Deutschen habt eure Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt, längst verraten. Ihr habt sie verraten durch eure vorbehaltlose Unterstützung eines Israels, das besetzt, kolonisiert, den Menschen das Wasser wegnimmt, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen in einen überfüllten Käfig sperrt, Häuser abreißt, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und die Gewalt der Siedler fördert“. Und nun wurde aus dem Gaza-Käfig auch noch ein Friedhof!

Nach der erneuten ungeheuren Eskalation des Nahost-Konflikts reden alle wieder von der Notwendigkeit einer stabilen Friedenslösung. Im Blick bleibt nachwievor vorwegend die Zweistaatenlösung, d.h. die Etablierung eines palästinensischen Staates neben Israel. Das Festhalten daran hat den Vorteil, dass dies auch der durch UN-Resolutionen vorgezeichnete Weg ist, also auf Völkerrecht basiert und von der überwiegenden Mehrheit der Staaten, auch des Südens, unterstützt wird. Anderseits lassen die Realitäten vor Ort, insbes. die Zerstückelung der verbliebenen palästinensischen Gebiete durch die illegalen Siedlungen, einen lebensfähigen palästinensischen Staat als kaum noch vorstellbar erscheinen. Viele plädieren daher für eine Einstaatenlösung, für einen binationalen, föderalen Staat auf dem gesamten Gebiet des historischen Palästina, in dem perspektivisch alle Menschen die gleichen Rechte genießen.

Auch dies ist kaum vorstellbar und nach dem aktuellen Krieg noch weniger.

Daher kann es zunächst nur darum gehen, den Krieg, den Völkermord zu stoppen und auch die Siedlergewalt im Westjordanland. Anschließend muss der Kampf der Palästinenser in den besetzen Gebiete und in Israel um ihre Rechte, um ihre Selbstbestimmung, gegen die Apartheid unterstützt werden, auf allen Ebenen, auf internationaler Ebene, z.B. durch Anerkennung als Staat, in Palästina durch Druck auf Israel.

Dort sind aktuelle keine nennenswerte Kräfte in Sicht, die sich für konkrete Schritte aus der Gewaltspirale einsetzen würden.

Eine Änderung der israelischen Politik kann daher nur durch Druck von außen erzwungen werden. Dieser müsste natürlich vor allem aus Washington kommen, in zweiter Linie aber auch aus Deutschland und der EU. Vor allem selbstverständlich durch Einstellung der militärischen Unterstützung und der Zusammenarbeit mit Israel in der Rüstung, aber auch z.B. durch Aussetzung des Assoziierungsabkommens der EU mit Israel.

Dafür müssen wir uns einsetzen und dabei auch die besondere deutsche Verantwortung für die Palästinenser einfordern.

Joachim Guilliard koordiniert das „Friedensbündnis Heidelberg“ und ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes


[1] Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948, 4

[2] s. meinen Artikel, „Achse des Völkermordes“ ‒ USA und Deutschland unterstützen offen Israels Vernichtungskrieg, Nachgetragen,  20.2.2024

[3] Gaza: Hilfsgüter aus der Luft und über den Seeweg sind keine Alternative zu Hilfslieferungen auf dem Landweg, Amnesty International, 13. März 2024

[4] Studie zu Waffenexporten: Deutsche Panzerfäuste in Gaza ‒ Deutschland ist Israels zweitgrößter Waffenlieferant, sagt eine neue Studie. Taz, 5. 4. 2024,

[5] German Arms Exports To Israel 2003-2023, Forensis, 02.04.2024

[6] Charlotte Wiedemann, Die Glocke von Gaza ‒ Das aktuelle Staatsräson-Verständnis schadet unserem Land, taz, 18. 4. 2024

[7] Daniel Marwecki, „Germany and Israel: Whitewashing and Statebuilding“, dt. „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“, Wallstein Verlag, Deutschland, Israel und der Gaza-Krieg: „Es ist ein Ersatznationalismus“, taz, 25. 5. 2024,

[8] Belén Fernández, Collateral genocide in Nuseirat — In yet another Israeli massacre in Gaza, Palestinians are killed en masse and then summarily erased from the story, Al Jazeera , 9.6.2024


Bild oben: Demonstration am 4 November 2023 in Berlin
Foto: Streets of Berlin, CC BY-SA 2.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=140511150