Die vergessene Aufklärung: Wie in Deutschland Kants 300. Geburtstag instrumentalisiert wird
Kant wäre heute gegen Friedensverhandlungen, behauptet Kanzler Scholz und bekommt Zustimmung auch von Philosophen. Der deutsche Umgang mit Kant zeugt von einem unglaublichen Ausmaß geistiger Verflachung im deutschen Mainstream, in der Politik aber auch in den Geisteswissenschaften.
Von Gert Ewen Ungar
Erstveröffentlichung am 23.04.2024 auf RT DE
Immanuel Kant hatte Geburtstag. Würde er noch leben, hätte er gestern (22.04.2024) seinen 300. Geburtstag feiern können. Er ist jedoch tot, feiert daher nicht mehr, kann sich aber vor allem nun auch nicht mehr gegen Vereinnahmung wehren. Kant wurde anlässlich seines Geburtstages massiv instrumentalisiert. Einer, der ihn für seine Zwecke missbrauchte, ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Eine Rechtsordnung, in der alle Staaten nach innen republikanisch und demokratisch verfasst sind und nach außen die Rechte aller anderen Staaten respektieren – darin lag für den Philosophen Immanuel Kant, geboren heute vor 300 Jahren, das anzustrebende „Heil der Welt“. 1/5
— Bundeskanzler Olaf Scholz (@Bundeskanzler) April 22, 2024
Dass dieses Scheitern nicht zu Ende ist, machen die Einlassungen von Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich des Geburtstages des Philosophen deutlich. Kant wäre heute gegen Friedensverhandlungen in der Ukraine, behauptet der Bundeskanzler.
Ein Angegriffener „soll nicht gezwungen sein, sich auf einen Frieden einzulassen, den der Aggressor mit dem ‚bösem Willen‘ abschließt, den Krieg bei ‚erster günstiger Gelegenheit‘ wieder aufzunehmen“,
zitiert Scholz Kant.
Scholz legitimiert damit seine Ablehnung von Friedensverhandlungen, denn er unterstellt Russland, an einem echten Friedensschluss nicht interessiert zu sein. Damit täuscht Scholz nicht nur seine Wähler, sondern auch gleich noch einen Kant-Experten. Scholz bekommt im ZDF Unterstützung von dem Philosophen Marcus Willaschek, der die bizarre Interpretation von Scholz stützt und damit auf ein Problem in Deutschland aufmerksam macht.
Das Denken ist in Deutschland inzwischen massiv verflacht und von großer geistiger Provinzialität. Die Ursache für diese Verflachung liegt unter anderem in der umfassenden Zensur, die in Deutschland wieder herrscht. Sie geht einher mit der Koordination der Narrative. Der Beitrag im ZDF zum Geburtstag Kants ist ein Beispiel dafür, denn natürlich bedient er antirussische Klischees. Putin wolle Kant russifizieren, ist da zu lesen. Das ZDF behauptet eine Gleichmacherei, die zwar in Deutschland verbreitet, in Russland aber fremd ist. Russland schätzt und pflegt die Vielfalt. Vor allem aber schätzt es an sich selbst, dass es unterschiedlichen Kulturen, unterschiedliche Weisen des Denkens und ganz unterschiedlichen Traditionen Raum bietet.
Zum anderen liegt die Verflachung des Diskurses sicherlich auch an der gesellschaftlichen Atmosphäre. Der Konformitätsdruck ist in Deutschland enorm. Das wird auch im Wissenschaftsbetrieb deutlich. Das Regierungsnarrativ legt in Deutschland wieder fest, was an den Universitäten gesagt und in welche Richtung geforscht und gelehrt werden darf. Professuren sind wieder daran gebunden, politische Vorgaben zu beachten. Wer von der vorgegebenen Linie abweicht, bekommt in Deutschland keinen Platz am Katheder, musste neulich die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser feststellen, die wegen Israel-Kritik von einer Gastdozentur an der Universität zu Köln wieder ausgeladen wurde.
Nein, Kant wäre nicht für Aufrüstung, er wäre nicht für eine neue Militärarisierung, er wäre nicht für die Konfrontation. Er wäre vor allem nicht gegen Friedensverhandlungen, zumal es eben entgegen den Behauptungen von sowohl Scholz als auch Willaschek nicht um Verhandlungen zur Vorbereitung eines weiteren Krieges geht. Die von Russland immer wieder angebotenen Verhandlungen haben zum Ziel, eine neue Sicherheitsordnung in Europa zu implementieren, in der die Sicherheitsinteressen aller Länder einschließlich Russlands berücksichtigt werden.
Das aber wiederum ist ein durchweg kantischer Ansatz, der jedoch von den Ländern der EU und von Deutschland zurückgewiesen wird. Dort strebt man nach einem Sieg über Russland und fordert die Unterordnung russischer Interessen unter die des Westens. Scholz hat Kant eben nicht verstanden. Er will es auch gar nicht. Kant ist ihm zu friedliebend – sein Denken passt nicht ins gegenwärtige Deutschland. Kant muss daher radikal gegen sich selbst interpretiert werden.
Dass man mit Kant in Deutschland gerade wenig am Hut hat, wird auch an der deutschen Gesprächsverweigerung deutlich. Scholz redet nicht mit Putin, Baerbock nicht mit Russlands Außenminister Lawrow. Die Preisgabe von Diplomatie ist der deutlichste Rückfall nicht nur Deutschlands, sondern des gesamten kollektiven Westens hinter das Denken Kants.
Dass der Westen weit hinter Kant zurückgefallen ist, wird aber noch an anderer Stelle deutlich:
“Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen“,
steht gleich im ersten Abschnitt von Kants kleiner Schrift „Zum ewigen Frieden“.
Dieses Prinzip der Nichteinmischung fand Eingang in die UN-Charta. Es ist eines der zentralen Prinzipien des Völkerrechts. Der Kollektive Westen verstößt gegen dieses Prinzip permanent. Eine ganze Einmischungsindustrie von Organisationen, die nur der Bezeichnung nach von Regierungen unabhängig sind, dient vorrangig dem Zweck der Einflussnahme in anderen Ländern und der Durchsetzung der westlichen Agenda. Ohne westliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine würde es den Ukraine-Krieg nicht geben.
Der aktuelle Trend westlicher und auch der deutschen Regierung, nicht die Länder, sondern deren Regierungen je nach Gefallen wahlweise anzuerkennen oder auch nicht, ist ein weiterer Beleg dafür, wie sehr sich Kant auf der einen und Deutschland und der Kollektive Westen auf der anderen Seite inzwischen fremd geworden sind.
Kant war Universalist. Er glaubte, dass es universelle, allzeit gültige Werte gibt. Was er nicht sah, ist, dass das Wissen um diese Werte vergessen werden kann. Das ist in Deutschland passiert – wohlgemerkt nicht zum ersten Mal. Die Aufklärung ist inzwischen weitergewandert. Das wird an dem Umgang mit dem Gedenken an Immanuel Kant anschaulich.
Die Deutschen sehen in ihm einen deutschen Denker. Eine Kooperation mit Russland zur Pflege seines Andenkens kommt jedoch nicht infrage. Das Kant-Haus in Kaliningrad war eine Ruine. Russland suchte die Zusammenarbeit. Deutschland wand sich, zögerte hinaus, stellte Forderungen und Bedingungen. Schließlich stellte Putin aus dem Reservefonds der Russischen Föderation 42 Millionen Rubel zur Renovierung und Einrichtung eines Museums zur Verfügung. Es war ihm ein persönliches Anliegen. Anlässlich des Geburtstages von Kant wurde in Kaliningrad ein Kongress veranstaltet. Das offizielle Deutschland blieb fern.
In Deutschland wird nun unterstellt, Russland und Putin würden Kants Vermächtnis instrumentalisieren. Derartige Unterstellungen, verbunden mit der Behauptung, man habe Einblick in die Maximen der Handlungen von Dritten, zeigen ebenfalls, wie sehr man sich in Deutschland von Kant und seinem Denken entfernt hat. Es regiert die Missgunst und die Selbstüberschätzung. Große geistige Entwürfe sind aus Deutschland daher gerade nicht zu erwarten.
Deutschland bekommt eine anständige Erinnerungskultur nicht hin. Wenn das deutsche Versagen von einem anderen Land kompensiert wird, werden böse Absichten unterstellt. Angesichts der aktuell regierenden Kleingeistigkeit in Deutschland, würde Kant wohl heute schon aus ganz grundlegenden ethischen Erwägungen lieber in Russland begraben liegen.
Gert-Ewen Ungar studierte Philosophie und Germanistik und schreibt regelmäßig für die Neulandrebellen
Bild oben: Inschrift von Immanuel Kants Grabmal am Königsberger Dom in Kaliningrad (Russland)
Foto: Felipe Tofani, CC BY-SA 2.0 Deed
Quelle: https://www.flickr.com/photos/gastaum/44965531381