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„Delegitimierung des Staates“ – ein Begriff, der das Programm der Annexion umschrieb

Es ist das neue Übel, das dringend verfolgt werden muss und das sich vor allem in despektierlichen Äußerungen über die Obrigkeit manifestiert: die „Delegitimierung des Staates“. Aber der Begriff ist nicht nur lächerlich, er hat auch eine überraschende Geschichte.

Von Dagmar Henn

Erstveröffentlichung am 21.04.2024 auf RT DE

Es ist ein eigenartiger Begriff, dieser neue Vorwurf in den Verfassungsschutzberichten, die „Delegitimierung des Staates“. Schon allein, weil es gar nicht so einfach ist, einen Staat zu „delegitimieren“, der seiner Verantwortung seinen Bürgern gegenüber nachkommt. Was im Grunde jeder Staat in einem gewissen Maße tun muss, auch wenn er nur im Interesse einer bestimmten Klasse handelt, selbst wenn das Ergebnis nur „Brot und Spiele“ lauten sollte.

Denn die letztlich entscheidende Stütze staatlicher Macht sind nicht die „Banden bewaffneter Männer“, wie Friedrich Engels einst die Sicherheitsorgane beschrieb, sondern die Kooperationswilligkeit der Beherrschten. Je geringer diese wird, desto größer der Bedarf an Repression. Wie groß oder klein sie ist, hängt aber sehr stark davon ab, ob jene Aufgaben, die im übergreifenden Interesse sind, wie Straßen, funktionierende Stromnetze oder das nötige Bildungswesen, noch erfüllt werden oder nicht.

Allein das Stichwort Stromnetze ruft schon in Erinnerung, wo das Problem liegt. Und demonstriert, wie absurd dieser Vorwurf ist, da schließlich vor allem einer einen Staat delegitimieren kann – der Staat selbst.

Aber jüngst machte mich ein Freund darauf aufmerksam, dass diese Formulierung eine Vorgeschichte hat, und die ist ziemlich interessant. Sie taucht nämlich in einer wichtigen Rede des Jahres 1991 auf, die der damalige Justizminister Klaus Kinkel (FDP) auf dem Deutschen Richtertag gehalten hatte. Und man möge mir die Länge des Zitats nachsehen, sie ist nötig, um den Zusammenhang sichtbar zu machen:

„Sie, meine Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte bei dem, was noch auf uns zukommt, eine ganz besondere Aufgabe. Es wird sehr darauf ankommen, wie die in allen Rechtsbereichen auf die Gerichte zukommenden Fragen behandelt werden, ob es vor allem auch gelingen wird, die für die Einheit so wichtige Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidungen bei den Menschen zu erreichen. Davon hängt ab, ob der Rechtsstaat in den Augen der Bevölkerung in der Lage ist, mit dem fertig zu werden, was uns das vierzigjährige Unrechtsregime in der früheren DDR hinterlassen hat. … Ich weiß sehr wohl, daß die Gerichte nicht allein leisten können, was aufzuarbeiten ist. Aber einen wesentlichen Teil müssen Sie leisten, alternativlos. Ich baue auf die deutsche Justiz. Es muß gelingen, das SED-System zu delegitimieren. … Politische Straftaten in der früheren DDR dürfen nicht verjähren. … Der Gesetzgeber kann aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Problems der Rückwirkung nicht tätig werden.“

Es ist schon interessant, dass er überhaupt diese Frage aufwirft. Denn angeblich war das, was in der DDR stattgefunden hat, ja eine Revolution, und nach einem derartigen historischen Ereignis erübrigt es sich üblicherweise, die Staatsmacht, die davor bestand, überhaupt noch „delegitimieren“ zu müssen. Und natürlich sind diese Sätze auch unter dem Gesichtspunkt interessant, dass die Linie, die Kinkel vorgibt (und die dann tatsächlich praktiziert wurde), nichts, rein gar nichts mit einer „Wiedervereinigung“ zu tun hat. Schon deshalb, weil eine Vereinigung im Gegensatz zu einer Übernahme eine Gleichheit voraussetzt, die Kinkel durch seine sehr propagandistischen Formulierungen, wie „vierzigjähriges Unrechtsregime“, vollkommen negiert.

In dieser Aufforderung an die Richter und Staatsanwälte, bei der gerade die Letzteren ja ihm, dem Justizminister, unterstellt waren, geht es im Kern um Rechtsbeugung. Nachdem 1990 auf durchaus zweifelhafte Weise, siehe den Anschlag auf Oskar Lafontaine und die Morde an Alfred Herrhausen und Detlev Rohwedder, sichergestellt worden war, dass alles unterblieb, was tatsächlich eine Vereinigung kennzeichnet, insbesondere ein Verfassungsgebungsprozess, lautete die nächste Aufgabe, alle Strukturen des anderen deutschen Staates zu kriminalisieren.

Was bei Weitem nicht so einfach war, wie das manchen scheinen mag, die nur die Propaganda seit 1989 kennen. So war die Streichung des Paragrafen 175 StGB, der Homosexualität zur Straftat machte, ebenso ein Nebenprodukt der Tatsache, dass man nicht in allen Punkten hinter das Recht der DDR zurückfallen konnte, wie die Liberalisierung des Paragrafen 218. Das Strafgesetzbuch der DDR war dem bundesdeutschen weit voraus. Und auch wenn es die Westbürger meist ignorierten, waren sich jene der DDR sehr wohl der Tatsache bewusst, dass sich die Voraussetzungen, unter denen die beiden deutschen Staaten sich entwickelt hatten, an vielen Punkten sehr unterschieden. Beispielsweise in den Möglichkeiten der Energieversorgung, die im Westen jahrzehntelang auf der Ruhrkohle beruhte, für die auf dem Gebiet der DDR aber nur die wesentlich energieärmere Braunkohle vorhanden war.

Wäre es zu einer Vereinigung gekommen, man hätte die DDR als historische Tatsache einfach stehen lassen können. Man hätte wahrnehmen können, dass die Frontstellung des Kalten Krieges die Entwicklung beider deutscher Staaten massiv beeinflusst und verzerrt hat. Die Bundesrepublik war beispielsweise der einzige westeuropäische Staat, der keine Diktatur war (wie Portugal und Griechenland bis 1974, Spanien bis 1976), und in dem die kommunistische Partei trotzdem verboten war. Wenn man weiß, wie sehr die französische KP die Nachkriegsgeschichte prägte, oder die italienische (schon einmal „Don Camillo und Peppone“ gesehen?), Nachbarländer, mit denen diese Bundesrepublik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ständig zu tun hatte, dann sieht man, dass die bundesdeutsche Geschichte ein Sonderfall ist. Nicht nur wegen der Hemmungslosigkeit, mit der die Nazielite in den Apparat integriert wurde, sondern auch wegen der Fortsetzung des für die faschistische Ideologie zentralen Antikommunismus.

Ende der 1960er, als sich die Adenauer-Ära endlich auflöste, ging auch dieser Antikommunismus langsam zurück. Wer sich mit der Geschichte der politischen Verfolgung unter Adenauer beschäftigt, weiß, dass diese westliche Republik nur eingeschränkt demokratisch war. Das lockerte sich nun langsam, und erreichte seinen Höhepunkt in der Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler – der aber ziemlich bald selbst mit Berufsverboten dafür sorgte, dass diese Demokratisierung nicht zu weit ging.

Wenn man es historisch betrachtet, hatte die Teilung in zwei deutsche Staaten die intellektuellen und politischen Traditionen tatsächlich räumlich voneinander getrennt, wie eine moderne Reinszenierung der konfessionellen Teilungen früherer Jahrhunderte. In dem Moment, in dem diese beiden Teile aufeinanderprallten, gab es zwei Möglichkeiten: eine wirkliche Vereinigung, die die mühsame Aufgabe gestellt hätte, den Bürgerkrieg von 1918 endlich zu beenden, die aber mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem neutralen Deutschland geführt hätte; oder aber eine feindliche Übernahme, bei der selbst die Erinnerung an den Übernommenen ausgelöscht werden muss.

Ein Teil der Blindheit gegenüber den Prozessen in der Ukraine beruht auch darauf, dass es in Deutschland nach 1989 völlig normal war, die geschichtliche Erinnerung, die in der DDR gepflegt wurde, auszulöschen. Das Ziel lautete, die DDR mit dem Hitlerfaschismus gleichzusetzen; ein Unterfangen, das allein mit Blick auf die ungeheuren Verbrechen des Letzteren sofort als Monstrosität durchschaubar hätte sein müssen. Dafür musste man selbstverständlich auch die Erinnerung daran tilgen, dass nicht die Bonner, sondern die Berliner Republik von Menschen aufgebaut wurde, die dem Nazismus widerstanden, die ihn bekämpft hatten. Genau aus diesem Grund musste man aus durch die welthistorische Situation bedingten Entscheidungen wie dem „Mauerbau“ Geschichten persönlicher Schuld konstruieren und eine Argumentation ständiger moralischer Verfehlung ins Spiel bringen. Und genau aus diesem Grund war es so wichtig, Aufbau und Betrieb dieses anderen deutschen Staates in jedem Aspekt wie ein Vergehen zu behandeln, bis zur völligen Absurdität.

Wie war das beim ersten Pisa-Test, als plötzlich das finnische Schulsystem zum großen Vorbild wurde? Die Finnen hatten nur abgeschaut, das Original war 1990 entsorgt worden, das war nämlich das DDR-Schulsystem. Was sichtbar macht, wie groß die Möglichkeiten gewesen wären, wäre es eine Vereinigung geworden und keine Annexion. Hätte man es zugelassen, dass auf Grundlage der Erfahrungen in beiden Staaten etwas Neues entsteht, und nicht auch noch in der Bundesrepublik des Jahres 1990 die Uhr auf die Adenauer-Jahre zurückgestellt.

Der einzige Grund, „das SED-System delegitimieren“ zu wollen, war, dass es legitim war und diese Legitimität auch durch die Annexion nicht einfach verschwand. Was Kinkels Aussage erkennen lässt, ist, dass eine gerichtliche Verfolgung der DDR-Eliten das klitzekleine Problem hatte, dass diese keineswegs willkürlich, sondern nach dem geltenden Recht der DDR gehandelt hatten. Im Endeffekt wurde dann eine Hilfskonstruktion versucht, um gewissermaßen den Geltungsbereich des BRD-Rechts in die DDR hinein auszudehnen – die Angeklagten hätten erkennen müssen, dass das Recht, nach dem sie handelten, Unrecht war.

Aber wir reden schließlich nicht von den Nürnberger Rassegesetzen, deren Urheber Hans Globke es in der BRD zum Chef des Bundeskanzleramts brachte. Wir reden auch nicht von dem Nazirichter Hans Filbinger, der wenige Tage vor Kriegsende noch einen Deserteur zum Tode verurteilte, und der später viele Jahre Ministerpräsident von Baden-Württemberg war. Nicht von einem Theodor Oberländer, der zusammen mit dem Bataillon Nachtigall am Pogrom von Lemberg beteiligt war und später Minister im Kabinett Adenauer wurde. Was auch immer der DDR vorgeworfen werden konnte, war Pillepalle im Vergleich zu diesen Großverbrechern, die die Bundesrepublik geprägt hatten.

Im Umgang mit den Naziverbrechern galt allerdings in der westlichen Republik lange ein Zitat eben jenes Hans Filbinger: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Kein Nazirichter wurde jemals wegen Rechtsbeugung verurteilt. Übrigens wurden auch all jene Richter, die in der BRD Nazitäter laufen ließen, niemals vor Gericht gestellt. Im Umgang mit der DDR machte man allerdings aus jenen Nazitätern, die es nicht in den Westen geschafft hatten und dort vor Gericht gestellt wurden, ganz schnell politisch Verfolgte. Schließlich wäre ihnen im Westen nichts passiert.

Eine ganze Reihe der Prozesse, die auf Kinkels Aufforderung folgten, scheiterten, weil doch nicht alle Richter sich auf eine übergeordnete Geltung der westlichen Rechtsordnung einlassen wollten und feststellten, dass nach dem Recht der DDR schlicht keine Straftat vorlag. Schließlich ging es in diesen Fällen eben nicht um Verstöße gegen das Völkerrecht, ganz im Gegensatz zu den Naziverbrechen. Auch das gibt Kinkel in seiner Rede zu, dass es eben kein höheres Recht gibt, auf das man zurückgreifen könne. Und dass „der Gesetzgeber aus rechtsstaatlichen Gründen nicht tätig werden“ könne. Der „rechtsstaatliche Grund“ nennt sich Rückwirkungsverbot.

Die Prozesse gegen Mitarbeiter des staatlichen Apparats waren nur ein Teil dessen, wobei Kinkel die Unterstützung der Richter und Staatsanwälte benötigte. Auch Dinge wie die Strafrenten, also die pauschalen Rentenkürzungen bei allen Staatsbediensteten, waren durchaus heikel, unter anderem, weil selbst Angehörige der SS, die vor der Strafverfolgung geflüchtet waren, lebenslang von der Bundesrepublik eine völlig ungekürzte Rente erhalten hatten. Da war also ein Vorgehen nötig, das mit „kreativer Rechtsprechung“ noch sehr vorsichtig bezeichnet ist.

In Wirklichkeit wurde, im Interesse der reinen, unverfälschten Westbindung, deren Früchte das heutige Deutschland genießen darf, das Recht weit über die Schmerzgrenze hinaus gebeugt, als wäre eine zügellose Verfolgung der „zweiten deutschen Diktatur“ irgendwie eine Kompensation dessen, dass man die Täter der „ersten deutschen Diktatur“ zumeist gar nicht erst vor Gericht gestellt hatte. Es erfolgte das Gegenteil. Beabsichtigt oder nicht, das Resultat war eine gewaltige Stärkung der noch vorhandenen Reste besagter „erster deutscher Diktatur“, und hier rede ich nicht von den Neonazigruppen, die von westdeutschen Behörden im Osten aufgebaut wurden. Ich rede vom Antikommunismus, der hätte überwunden werden können, der überwunden werden muss, wenn eine echte deutsche Einheit möglich sein soll.

Diese Delegitimierung des „SED-Regimes“ beinhaltete nämlich ganz nebenbei auch die Auslöschung der Erinnerung an den wirklichen antifaschistischen Widerstand in Deutschland, über den man nicht mehr reden kann, weil die Kommunisten ein bedeutender Teil davon waren. Man kann nicht mehr von den Verhaftungen nach dem Reichstagsbrand sprechen, nicht mehr sagen, wer die ersten Opfer der Nazis waren (nämlich die Kommunisten). Man kann nicht mehr von den Spanienkämpfern sprechen, und auch nicht mehr von den Bemühungen um eine antifaschistisch-demokratische Ordnung nach 1945 – noch so ein Moment, an dem ohne gewisse westliche Machenschaften eine ganz andere Entwicklung möglich gewesen wäre. Wenn man liest, wie heute beispielsweise in Berlin die Debatte um das Thälmann-Denkmal in Pankow geführt wird, merkt man, dass es noch immer nicht möglich ist, einen Deutschen zu ehren, der zwölf Jahre lang allen Versuchen der Nazis widerstand, ihn zu beugen, weil er als Kommunist notwendigerweise der Böse sein muss. Kein Wunder, dass das dann im nationalen Nihilismus endet.

Die hemmungslose rechtliche Manipulation, die Kinkel damals einforderte und die er „Delegitimierung des SED-Regimes“ nannte, steht heute Pate beim Umgang, den die aktuelle Bundesregierung mit den Bürgerrechten an den Tag legt. Kinkel und Faeser teilen das gleiche Rechtsverständnis, das hemmungslos auf den Erhalt der eigenen Macht zielt. Wenn nun der Begriff der „Delegitimierung des Staates“ auf Menschen angewandt wird, denen kein Apparat folgsamer Juristen zur Verfügung steht, die nicht die staatliche Macht kommandieren, wie einst Herr Kinkel, ist das dann die unbewusste Furcht, dass das alte Unrecht sie noch einholen könnte? Oder ist es die Langzeitfolge dessen, dass die Legitimität eines deutschen Staates seitdem nichts mehr mit Erfüllung der Verantwortung zu tun hat, die auf hundertfache Weise nicht erfüllt wird, sondern nur noch mit dem, was der Apparat aufzuzwingen imstande ist?

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes


Bild oben: Klaus Kinkel während eines Besuches von Bundespräsident Karl Carstens beim BND in Pullach,1981
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F063645-0027 / Wienke, Ulrich / CC-BY-SA 3.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5470867