Butscha? Das große Verbrechen vor zwei Jahren fand in Kiew statt.
Es ist sicher nötig, auf die alten Teile des Dramas zurückzugreifen. Schließlich sollen die Menschen im Westen nicht das Gruseln verlernen ob der „brutalen Russen“. Wenn man sich aber wirklich fragt, wo Anfang April 2022 ein großes Verbrechen begangen wurde, dann war das nicht in Butscha.
Von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 01.04.2024 auf RT DE
Im Rückblick, irgendwann, wenn der ukrainische Krieg weit genug zurückliegt, wird der Ort Butscha bestenfalls noch eine Fußnote liefern. Weil die wirklich entscheidenden Ereignisse in diesen Tagen Ende März/Anfang April ganz andere waren, weil sich hinter dem im Westen so hochgespielten „Massaker“ von Butscha der Beginn des wirklichen Massakers verbarg, und das eine das Hilfsmittel war, das andere zu verbergen – so, wie sich das Schwert eines Stierkämpfers hinter einem roten Tuch verbirgt.
Natürlich steigen alle deutschen Medien erneut auf die Erzählung ein, und reichen getreulich die Durchhalteparolen weiter, die der ukrainische Präsident Selenskij an diesem Tag verkündet. „Die Ukraine wird auf jeden Fall siegen“, soll er laut Spiegel gesagt haben. Auch die Tagesschau wird pathetisch: „Die Stadt Butscha ist für viele Menschen ein Symbol für die Gräuel des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.“ Und der deutsche Botschafter in Kiew konnte ebenfalls nicht darauf verzichten, dick aufzutragen: „Das Verbrechen von Butscha muss gesühnt werden.“
Wie gesagt, im historischen Rückblick wird das alles bedeutungslos. Nicht einmal, weil nach wie vor sämtliche Details des vermeintlichen Kriegsverbrechens unklar sind, und die einzigen je öffentlich bekannt gewordenen Obduktionsergebnisse auf ukrainische Granaten hindeuteten. Schon mit den ersten Aufnahmen, die bekannt wurden, war die ganze Geschichte eigenartig. Jetzt aber dürften, wegen Gaza, wesentlich mehr Menschen sehen, wie ungewöhnlich es war, dass nicht einmal die Gesichter der Toten bedeckt wurden, nach angeblich drei Tagen.
Nein, letztlich ist die ganze Frage, was tatsächlich in Butscha geschehen ist, nicht relevant. Auch wenn die Koinzidenz zu denken gibt. Denn in ebendiesen Tagen fand ein anderes Verbrechen von einer ganz anderen Dimension statt, und die beiden Ereignisse werden unauslöschlich miteinander verbunden bleiben.
Die wirkliche, unermessliche, bis heute anhaltende Gräueltat jener Tage vor zwei Jahren verbirgt sich hinter der damaligen Reise des britischen Premiers Boris Johnson nach Kiew und in seiner Botschaft an Selenskij, der Krieg müsse weitergehen. Es sind dieser Moment und Selenskijs Folgsamkeit, die ein Verbrechen von wirklich welthistorischem Format darstellen. All die unzähligen, vor allem ukrainischen, Toten gehen auf das Konto jener, die an diesem Moment beteiligt waren, Auftraggeber wie Ausführende.
Man darf im Westen noch immer nicht darüber reden, dass es um ein Haar zu einem Frieden gekommen wäre. Sicher auch, weil gerade dieser Punkt lebhaft illustriert, dass die Ukraine immer nur als Mittel zum Zweck gesehen wurde, um einen Angriff auf Russland vorzutragen; und dass diese Entscheidung, den möglichen Frieden zu sabotieren, eben nicht in der Ukraine, sondern in Übersee getroffen wurde. Und selbstverständlich redet man nicht darüber, dass der russische Vorschlag in diesen Verhandlungen die Ukraine immer noch nicht wesentlich schlechter gestellt hätte als die Minsker Vereinbarungen, die – eingestandenermaßen – ebenfalls von ihren westlichen Garantoren sabotiert wurden.
Nein, wenn es keine russischen Verbrechen in Butscha gegeben hat, so mussten sie erfunden werden. Weil die Schlagzeilen über jene „russischen Gräueltaten“ sich vorzüglich dazu eigneten, das abrupte Ende der bis dato erfolgreichen Verhandlungen in Istanbul aus der Wahrnehmung verschwinden zu lassen. Das westliche Publikum wurde von morgens bis abends mit den „schlimmsten Verbrechen, die man sich nur vorstellen kann“ (Außenministerin Annalena Baerbock), beschallt und noch Wochen danach immer wieder mit Bildern der Besuche westlicher Politiker in Kiew beglückt. Niemand, der bei klarem Verstand ist, hätte diesen plötzlichen Abbruch der Verhandlungen nachvollziehen können, wenn – ja, wenn man nichts geliefert hätte, das emotional aufpeitscht und den Verstand blendet. Eben das rote Tuch.
Das Schwert aber, das sich hinter diesem Tuch verbarg, zielte mitten ins Herz dessen, was man einmal für eine europäische Zivilisation hätte halten können. Dabei rede ich nicht von der Bandera-Ukraine. Dabei rede ich von den Staaten der EU, deren Bewohner seitdem mit den Geschichten vom bösen Russen des Morgens geweckt und des Nachts ins Bett gebracht werden; denen die Hymnen von der „Solidarität mit der Ukraine“ so laut und verzerrt ins Ohr gedrückt werden, dass sie nicht einmal bemerken, wie vor lauter Solidarität ebendiese Ukraine in den Untergang getrieben wird.
Wenn sich der Staub verzogen hat, wenn die Listen der toten ukrainischen Soldaten auf dem Tisch liegen, wenn die Archive der politischen Macht ihre Geheimnisse preisgegeben haben und die wirkliche Abfolge der Ereignisse nicht mehr zu leugnen ist – ein Zustand, der derzeit leider im Westen noch nicht abzusehen ist –, dann wird nicht nur klar werden, was damals in Butscha tatsächlich mit wem geschehen ist (es gibt ja auch die Vermutungen, dass das Nazibataillon, das nach dem russischen Abzug in Butscha einrückte, „Verräter“ gejagt hatte; oder dass gar andernorts ermordete ukrainische Oppositionelle zu Propagandazwecken auf die Straßen von Butscha gelegt wurden). Es wird vor allem absolut klar sein, worin das wirkliche Verbrechen jener Tage bestand.
Dieses ereignete sich unauffällig, in Besuchen und Telefonaten, irgendwo zwischen Washington und Kiew. Es blieb unauffällig, weil niemand eine Schlagzeile daraus machte, eine Sondersendung. Überall dort, wo man vom Abbruch dieser Verhandlungen hätte berichten müssen, ging es nur um Butscha. Ging es nur darum, die Phrasen in die Köpfe zu hämmern, vom „brutalen russischen Angriffskrieg“, von „solange es nötig ist“.
War Butscha real oder wurde es erfunden? Es hätte auf jeden Fall erfunden werden müssen. Denn sie alle, die damals mitspielten, die halfen, das rote Tuch zu schwenken, sind mitschuldig. An hunderttausenden von Toten, die den Donbass in ein Gräberfeld verwandelten. Die leben, tanzen, lachen würden, hätte es damals nicht dieses fatale Kommando des Westens gegeben, hätte der ukrainische Präsident Selenskij nicht gehorcht wie ein gut dressierter Hund, hätte nicht die gesamte politische Elite der EU, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten schauspielerische Glanzleistungen abgegeben, um mit dem falschen Massaker das wirkliche zu verdecken.
Ihrer aller Hände sind blutig. Nein, das ist noch untertrieben. In Wirklichkeit schwimmen sie in einem Meer aus Blut, das ohne sie nie vergossen worden wäre. Sie schwimmen darin und deuten immer noch auf die Kulisse ihrer Inszenierung und rufen: „Schaut dorthin! Ist das nicht entsetzlich?“
Doch langsam, ganz langsam bekommt die Erzählung des Westens Risse. Sie bricht unter anderem, weil die Mitleidlosigkeit, mit der die israelischen Verbrechen in Gaza nicht nur hingenommen, sondern, etwa im Falle Deutschlands, auch noch gefördert werden, viel zu offenkundig ist. Weil die öffentlich vergossenen Tränen nur für die nützlichen Opfer fließen, aber zehntausend palästinensische Kinder sie nicht zum Vorschein bringen. In Gaza gibt es das, was in Butscha geschehen sein soll, live und jeden Tag von Neuem, und das zur Schau getragene Mitgefühl in Butscha ist in den vergangenen zwei Jahren gewaltig im Kurs gefallen.
Irgendwann gibt es vielleicht ein Museum in Kiew, in dem in einer Vitrine das Telefon steht, über das Selenskij den Befehl erhielt, die Verhandlungen abzubrechen; oder in einer Ecke der Tisch, an dem Boris Johnson die schlechte Botschaft überbrachte. Auf irgendeine Weise müsste man ihn einfangen, sichtbar machen, jenen Moment, in dem das Schicksal so vieler junger (und inzwischen längst alter) Männer besiegelt wurde. Es gibt viele Momente, in denen der Westen das verraten hat, wofür zu stehen er so gern behauptet; unzweifelhaft war die Anweisung, die Friedensverhandlungen in Istanbul abzubrechen, einer der Schlimmsten in Jahrzehnten.
Dieses Jahr wird erneut einiges an Druckerschwärze aufgewendet, um die Geschichte von Butscha ins Gedächtnis zu rufen. Inzwischen wird das allerdings von Schlagzeilen wie jener in der Londoner Times begleitet: „Es ist Zeit, über den Fall von Kiew zu reden.“
Ja, die Opfer des wirklichen Verbrechens vor zwei Jahren sind für nichts gestorben, die Pläne, Russland zu bezwingen und auszuschlachten, sind gescheitert, und es wird keine neuen Verhandlungen geben, keine Rückkehr nach Istanbul oder nach Minsk. Unter ungeheuren Kosten und unter Zerstörung unzähliger ukrainischer Leben ist es dem Westen gelungen, ein russisches Friedensangebot durch einen russischen Sieg zu ersetzen.
Fast ist man versucht, jenen, die die Erinnerung an das vermeintliche russische Verbrechen zelebrieren, zuzurufen: Genießt es! Es ist das letzte Mal! Denn am Ende wird sich eure ganze Macht über die Medien, über Narrative als wirkungslos erweisen, und die ganze Welt, die Bevölkerung des Westens eingeschlossen, wird sehen, wessen Hände seit April 2022 wirklich blutbesudelt sind. Die Geschichte hält ihr Haus in Ordnung, wenn das Tuch fällt, wird das Schwert des Stierkämpfers sichtbar, und Butscha wird das sein, was es in Wirklichkeit immer war – eine Fußnote zu einem der großen Menschheitsverbrechen.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: Der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskij und der damalige britische Premierminister Boris Johnson in Kiew, 9. April 2022
Foto: Public Domain CC0 License
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