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Vasallen und Tributpflichtige

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 1-24, März 2024, S. 23-27, 83. Jahrgang

von Prof. Dr. Dr. Ernst Woit

Erstveröffentlichung in FREIDENKER Nr. 2-99, Mai 1999, S. 41-44, 58. Jahrgang

 

Es ist nun fast ein Jahrzehnt vergangen, seit­dem die Sowjetunion und der von ihr geführte Warschauer Vertrag zu existieren aufgehört haben. Doch nicht alle Erwartungen, die die Sieger des Kalten Krieges daraufhin ent­wickelten, haben sich inzwischen als reali­sierbar erwiesen. Im Zusammenhang mit dem Golfkrieg II wähnten sich die USA bereits im endgültigen Besitz der „Weltführerschaft“.

Aber seit Ende 1997 bemühte sich die USA-Regierung vergeblich, eine ähnliche Anti-Irak-Koalition zustandezubringen wie 1991. Dieses Beispiel macht schlaglichtartig klar, daß die USA zwar zweifellos die stärkste imperialistische Macht, aber nicht omni­potent sind. Ihre Konkurrenten und Gegner in der weltpolitischen Arena verfolgen die eigenen Interessen inzwischen wieder stärker als unmittelbar nach der Auflösung der Sowjetunion und des von ihr geführten Paktsystems.

Damit verbunden ist für die USA die Ge­fahr, daß sich das 1991 neu entstandene in­ternationale Kräfteverhältnis zu ihren Un­gunsten verändert. Deshalb hat der Krieg gegen Jugoslawien eine zentrale Bedeutung für das Streben der USA nach unumschränk­ter Weltherrschaft: Mit der Verpflichtung der europäischen NATO-Staaten auf diesen Feldzug ist es erneut gelungen, diese „Verbündeten“ für US-Ziele dienstbar zu machen. Welche Rolle die USA ihren Verbündeten beim Streben um die eigene Weltherrschaft zubilligen, zeigt nicht zuletzt die dort geführte Strategie-Diskussion.

Einer der ersten US-amerikanischen Stra­tegen, der unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges den Weltherrschaftsanspruch der USA zu begründen suchte, war Francis Fukuyama mit seinem scheinphilosophischen Theorem vom „Ende der Geschichte”.

Fukuyama rechtfertigte nicht nur nach­träglich noch „die Bombardierung Dresdens und Hiroshimas … „die man früher als Völkermord bezeichnet hätte”.[1]

Er stellte auch die UN-Charta und das ge­samte UNO-System wegen des darin fest­geschriebenen Prinzips der souveränen Gleichheit aller Mitgliedstaaten in Frage und behauptete, „daß das amerikanische Volk die Vereinten Nationen immer mit Argwohn betrachtet hat”. Offen forderte er, man müsse sich „mehr an der NATO orientieren als an der UNO. Es ginge dann um einen Bund wirklich freier Staaten… Ein solcher Bund wäre vermutlich viel eher zu einer mili­tärischen Aktion fähig, um seine kollektive Sicherheit gegen Bedrohungen aus dem nichtdemokratischen Teil der Welt zu schützen.”[2]

Im Kampf um die Majorisierung und schließliche Beseitigung der UN durch die Weltherrschaft der USA-dominierten NATO bewertet Fukuyama Kriege durchaus positiv: „Krieg übt einen besonders starken Zwang zur sozialen Modernisierung aus, und er ist ein eindeutiger Test, ob sie erfolgreich war.”[3]

Schließlich macht Fukuyama, der damals stellvertretender Planungs-Chef im US- ame­rikanischen Außenministerium war, kein Geheimnis daraus, um welche ökonomischen Interessen es bei diesen Kriegen nach dem „Ende der Geschichte“ z.B. gehen könnte: „Für die absehbare Zukunft wird die Welt in zwei Teile zerfallen, in einen posthistorischen Teil und in einen Teil, der immer noch in den Lauf der Geschichte eingebunden ist… Die Erdölförderung konzentriert sich in der historischen Welt, doch das Erdöl spielt eine entscheidende Rolle für das wirtschaftliche Wohlergehen der posthistorischen Welt.“[4] Soweit Fukuyama 1992.

Fünf Jahre später legte Zbigniew Brzezinski sein Buch „Die einzige Weltmacht” vor, in dem er faktisch den gleichen Weltherr­schaftsanspruch wie Fukuyama propagiert, den er jedoch nicht geschichtsphilosophisch, sondern geostrategisch zu begründen ver­sucht. In seiner Sicht ist Eurasien „das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft ab­spielen wird”, und es ist das erklärte Ziel seines Buches, „im Hinblick auf Eurasien eine umfassende und in sich geschlossene Geostrategie zu entwerfen”.[5]

Brzezinski betont die Bedeutung Eurasiens, weil seiner Auffassung nach „eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist”.[6]

Diese Dominanz sieht er für die USA vor allem durch eine beispiellose militärische Stärke gegeben: „Nicht nur beherrschen die Vereinigten Staaten sämtliche Ozeane und Meere, sie verfügen mittlerweile auch über die militärischen Mittel, die Küsten mit Amphibienfahrzeugen unter Kontrolle zu halten, mit denen sie bis ins Innere eines Landes vorstoßen und ihrer Macht politisch Geltung verschaffen können. Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf.” Summa summarum „ist der gesamte Kontinent von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät…”[7] Helmut Schmidt stellt deshalb zurecht fest, Brzezinskis Geostrategie-Kon­zept sei „vorwiegend von militärstrategischen Denkansätzen bestimmt”.[8]

Vorwiegend heißt jedoch nicht ausschließ­lich. Nach Brzezinski beruht „die imperiale Macht Amerikas in hohem Maße auf der überlegenen Organisation und auf der Fähigkeit, riesige wirtschaftliche und technologi­sche Ressourcen umgehend für militärische Zwecke einzusetzen, auf dem nicht genauer bestimmbaren, aber erheblichen kulturellen Reiz des american way of life sowie auf der Dynamik und dem ihr innewohnenden Wett­bewerbsgeist der Führungskräfte in Gesell­schaft und Politik”.[9]

Aufschlußreich auch folgende Feststellung: „Als Teil des amerikanischen Systems muß außerdem das weltweite Netz von Sonder­organisationen, allen voran die internatio­nalen Finanzinstitutionen, betrachtet werden. Offiziell vertreten der Internationale Wäh­rungsfonds (IWF) und die Weltbank globale Interessen und tragen weltweite Verant­wortung. In Wirklichkeit werden sie jedoch von den USA dominiert…”[10] Man kann Brzezinski manches nachsagen, aber nicht, daß er den Weltherrschaftsanspruch des USA-Imperialismus verschleiert.

Ganz offen läßt sich Brzezinski auch dar­über aus, was er von Europa hält: „Vor allen Dingen … ist Europa Amerikas unverzicht­barer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent… Beim derzeitigen Stand der amerikanisch-europäischen Be­ziehungen… erweitert sich mit jeder Aus­dehnung des europäischen Geltungsbereichs automatisch auch die direkte Einflußsphäre der Vereinigten Staaten… Tatsache ist schlicht und einfach, daß Westeuropa und zuneh­mend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tribut­pflichtige von einst erinnern.”[11]

Und dennoch ist Geostratege Brzezinski mit diesen „Vasallen“ keineswegs zufrieden. Erwartet und fordert er von ihnen doch we­sentlich mehr Engagement bei der NATO- Ostexpansion. Statt dessen sieht er die west­europäischen Vasallen der USA zu sehr mit sich selbst beschäftigt: „Das eigentliche Prob­lem, das Europa in zunehmendem Maße zu schaffen macht, ist ein extrem belastendes Sozialsystem, das die Wirtschaftskraft schwächt, während der leidenschaftliche Widerstand, den einzelne Interessengruppen jedweder Reform entgegensetzen, die poli­tische Aufmerksamkeit Europas nach innen lenkt.”[12]

Aufschlußreich, worin Brzezinski den Grund für diese Schelte sieht: „Sollte die von den Vereinigten Staaten in die Wege geleitete NATO-Erweiterung ins Stocken geraten, wäre das das Ende einer umfassenden ameri­kanischen Politik für ganz Eurasien. Ein solches Scheitern würde die amerikanische Führungsrolle diskreditieren, es würde den Plan eines expandierenden Europa zunichte­machen, die Mitteleuropäer demoralisieren und möglicherweise die gegenwärtig schlum­mernden oder verkümmernden geopoliti­schen Gelüste Rußlands in Mitteleuropa neu entzünden. Für den Westen wäre es eine selbst beigebrachte Wunde … und für Ameri­ka wäre es nicht eine regionale, sondern eine globale Schlappe.”[13]

Indem er sich bewußt einer Terminologie bedient, „die an das brutale Zeitalter der alten Weltreiche gemahnt”, definiert Brzezinski „die drei großen Imperative imperialer Geostrategie” so: „Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhän­gigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, daß die „Barbaren“-Völker sich nicht zusammen­schließen”.[14]

Geostrategisches Hauptziel der USA muß nach Brzezinski die weitere Eindämmung Rußlands sowohl von Westen als auch von Süden her sein. „Die Staaten, die Amerikas stärkste geopolitische Unterstützung ver­dienen, sind Aserbaidschan, Usbekistan und… die Ukraine, die alle drei geopolitische Dreh- und Angelpunkte darstellen.”[15]

Warum gerade diese drei ehemals zur So­wjetunion gehörenden jetzigen GUS-Staaten? „Ein unabhängiges Aserbaidschan kann dem Westen den Zugang zu dem an Ölquellen reichen Kaspischen Becken und Zentralasien eröffnen… Usbekistan, volk­mäßig der vitalste und am dichtesten besie­delte zentralasiatische Staat, stellt ein Haupthindernis für jede neuerliche Kontrolle Rußlands über die Region dar… Am wichtigsten allerdings ist die Ukraine… Ohne Ukraine kann Rußland nicht zu Europa gehören, wohingegen die Ukraine ohne Rußland durchaus ein Teil von Europa sein kann.”[16] Ausgehend davon feiert Brzezinski deshalb die Tatsache, daß es ja schon ge­meinsame See- und Landemanöver von NATO- und ukrainischen Streitkräften ge­geben hat und votiert ganz offen für einen schließlichen „NATO-Beitritt der Ukraine“.[17]

Im Zentrum der geostratregischen Ambi­tionen sieht Brzezinski immer wieder, „daß die zentralasiatische Region und das Kaspi­sche Becken über Erdgas- und Erdölvorräte verfügen, die jene Kuweits, des Golfs von Mexiko oder der Nordsee in den Schatten stellen”, und fordert unverblümt einen „un­behinderten Zugang” zu jener Region, „über den bis zum Zusammenbruch der So­wjetunion Moskau allein verfügen konnte”, wobei der „Pipeline-Frage” eine ’’zentrale Bedeutung zukomme”.[18] Welche Konflikt- Potentiale damit verbunden sein können, hat der blutige Krieg in Tschetschenien überaus deutlich gezeigt.

Was den Femen Osten Eurasiens betrifft, geht Brzezinski davon aus, „daß China in­nerhalb der, grob gesagt, nächsten zwei Jahr­zehnte zu einer Weltmacht aufsteigen wird, etwa gleichauf mit den Vereinigten Staaten und Europa…”[19] Angesichts dieses Kräfte­verhältnisses plädiert Brzezinski dafür, daß die USA „in einem anhaltenden strategischen Dialog” ausloten, worin ihre „gemeinsamen Interessen” bestehen.[20]

Er ist sich schließlich noch nicht sicher, ob Japan künftig „der Vasall, Gegner oder Part­ner Amerikas sein wird”. Dabei geht er davon aus, ein „Japan, das zwischen Wiederauf­rüstung oder einem Sonderabkommen mit China schwankt, bedeutet das Ende der ame­rikanischen Rolle im asiatisch-pazifischen Raum und verhindert das Entstehen einer regional stabilen Dreiecksvereinbarung zwi­schen Amerika, Japan und China”, wie die USA sie anstreben.[21]

Brzezinski sieht die gegenwärtig starke Stellung der USA in der Weltpolitik durchaus nicht ungefährdet. Er rechnet damit, daß die gegenwärtig zutiefst „ungerechte Güterver­teilung auf der Welt” dazu führen kann, daß „jene zwei Drittel der Menschheit, die in Armut leben” schon in absehbarer Zeit gegen diese Weltordnung der Reichen kämpfen werden.[22]

Angesichts dessen fordert er, die Politik der USA müsse „unverdrossen und ohne Wenn und Aber ein doppeltes Ziel verfolgen: die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation (!) und vorzugs­weise länger zu bewahren und einen geo­politischen Rahmen zu schaffen, der die mit sozialen und politischen Veränderungen ein­hergehenden Erschütterungen und Belastun­gen dämpfen und sich zum geopolitischen Zentrum gemeinsamer Verantwortung für eine friedliche Weltherrschaft entwickeln kann”.[23]

Also „gemeinsame Verantwortung für eine friedliche Weltherrschaft“ erst dann, wenn die Armen dieser Welt sich auch durch die gegenwärtig gängige Drohung mit „Mili­tärschlägen“ seitens der USA und der NATO nicht mehr davon abhalten lassen, für einen gerechteren Anteil an den Ressourcen unseres Planeten zu kämpfen! Soweit ist es noch nicht.

Der 2021 verstorbene Prof. Dr. Dr. Ernst Woit aus Dresden war Philosoph, Friedensforscher und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes.

 (Aus Freidenker 2-1999)

Quellen:

[1] F. Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992, S.33.

[2] Ebenda, S. 378 f.

[3] Ebenda, S. 116

[4] Ebenda, S. 371 f.

[5] Z. Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Weinheim u. Berlin 1997, S. 16.

[6] Ebenda, S.64

[7] Ebenda, S. S.41

[8] H.Schmidt: Eine Hegemonie neuen Typs. In: Di-. Zeit, Hamburg, Nr. 45 v. 31. 10. 1997, S. 24

[9] Z. Brzezinski, a.a.O., S. 26.

[10] Ebenda, S. 49

[11] Ebenda, S. 92

[12] Ebenda, S. 93

[13] Ebenda, S. 121 f.

[14] Ebenda, S. 65 f.

[15] Ebenda, S. 216

[16] Ebenda, S. 177 f.

[17] Ebenda, S. 138 u. 178

[18] Ebenda, S. 182 u. 203

[19] Ebenda, S. 230

[20] Ebenda, S. 269

[21] Ebenda, S. 274 f.

[22] Ebenda, S. 303

[23] Ebenda. S. 306


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Prof. Dr. Dr. Ernst Woit: Vasallen und Tributpflichtige (Auszug aus FREIDENKER 1-24, ca. 234 KB)


Bild oben: Zbigniew Brzezinski bei der Verleihung des Distinguished Public Service Award. Pentagon. 10. November 2016
Foto: CSIS | Center for Strategic & International Studies, CC BY 2.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=118347809