Shelly Steinberg: Mein Brief an Claudia Roth
Brief von Shelly Steinberg
Erstveröffentlichung am 01.03.2024 auf kommunisten.de
Shelly Steinberg schrieb an Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, da sie „sprach- und fassungslos“ sei angesichts der Reaktionen auf die Reden auf der Berlinale 2024. Shelly Steinberg ist Jüdin; in Israel geboren, mit ihren Eltern nach München gekommen, hat in Israel und München studiert und ist heute in der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe engagiert.
„Ich bin in Israel geboren und in Deutschland aufgewachsen. Ich habe beide Staatsangehörigkeiten, auf die ich nie stolz war – ich habe mich aber auch noch nie so geniert wie jetzt“, sagte Shelly Steinberg in ihrer Rede bei der Demonstration gegen die Münchner Sicherheitskonferenz am 17. Februar. „Während Israel Kriegsverbrechen begeht und vor dem internationalen Gerichtshof des Völkermordes angeklagt ist, versichert Deutschland seine uneingeschränkte Solidarität mit Israel und liefert zum Beispiel Schuss- und Panzermunition für über 20 Mio. Euro. Und gleichzeitig werden Gelder an zivilgesellschaftliche palästinensische Organisationen gestrichen – obwohl deren Integrität untersucht und keine Verbindungen zu Terrororganisationen festgestellt wurden.“ [1]
Empört über die unsäglichen Reaktionen auf die Berlinale 2024 und den Antisemitismusvorwurf gegen Kritiker:innen der israelischen Politik hat sie einen Brief die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth, geschrieben.
Claudia Roth hatte am Montag erklärt, dass die Statements bei der Bärenverleihung der Berlinale am Samstagabend „erschreckend einseitig und von einem tiefgehenden Israel-Hass geprägt“ gewesen seien. Ihr Applaus habe auch nur dem jüdisch-israelischen Journalisten und Filmemacher Yuval Abraham gegolten, und nicht dessen palästinensischen Kollegen Basel Adra. (siehe kommunisten.de: Berlinale-Stars fordern Waffenstillstand in Gaza | Pro-Israel-Lobby mit Schaum vor dem Mund)
Mein Brief an Claudia Roth (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien):
Sehr geehrte Frau Roth,
ich wende mich an Sie, da ich sprach- und fassungslos bin angesichts der Reaktionen auf die Reden auf der Berlinale 2024.
Ich selbst bin in Israel geboren und in Deutschland aufgewachsen. Ich habe Judaistik, Jüdische Geschichte und Kultur sowie Kultursoziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert.
2010 habe ich im Rahmen des IPS (International Parliamentary Scholarship) für den Bundestag ein Praktikum in der Knesset in Jerusalem absolviert.
Seit Jahren ist hier in Deutschland ein äußerst bedenkliches, repressives Vorgehen der Politik gegenüber israelkritischen Stimmen zu sehen.
Um eine pro-israelische Agenda durchzusetzen, missbrauchen Politiker und weitere öffentliche Institutionen den Begriff Antisemitismus. Diese Diffamierung macht auch vor jüdischen bzw. israelischen Kritikern keinen Halt. Es ist zu beobachten, wie deutsche Politiker sich zu Handlangern der Israellobby machen und dabei geltendes Recht missachten. Meinungsfreiheit ist eines der höchsten demokratischen Güter – doch sobald es um Israel geht, wirft die deutsche Politik rechtsstaatliche Prinzipien über Bord. Zugunsten der Politik Israels wird Menschen das in der Verfassung verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit entzogen.
Meinungsfreiheit bedeutet aber nicht nur das Recht des Einzelnen auf freie Meinungsäußerung, sondern auch das Recht, sich freiheitlich eine Meinung bilden zu können; mit den permanenten Zensuren missachtet der Staat somit das Recht der Gesellschaft, Zugang zu unterschiedlichen Informationen zu bekommen. Und genau dieses Spektrum an Informationen zu gewährleisten, wäre die Aufgabe der politischen Ebene und nicht – so wie sie es jetzt tut – eine bestimmte Meinung und Direktive vorzugeben und mit verfassungswidrigen Repressionen durchzusetzen.
Antisemitismus ist ganz klar als Hass/Anfeindung gegen Juden aufgrund ihrer bloßen Existenz als Juden definiert. Beim Antisemitismus geht es wie bei jeder Form des Rassismus‘ nicht darum, was gemacht wird, sondern vom wem etwas gemacht wird – nicht das Was, sondern das Wer ist hier entscheidend.
Und daher ist der Antisemitismusvorwurf gegen Kritiker der israelischen Politik absurd. Den Palästinensern und ihren Unterstützern ist es egal, dass die Besatzer und Unterdrücker Juden sind – wären die Besatzer Buddhisten, würden sich die Palästinenser genauso wehren.
Es sind doch eher die Deutschen, die mit einer regelrechten Obsession alles verteidigen, was Israel macht, weil es sich dabei um Juden handelt. Es sind die Deutschen, für die das Wer die entscheidende Rolle spielt – und das entspricht ganz klar der Definition von Antisemitismus.
Das Wort „Jude“ ist kein einziges Mal auf der Berlinale gefallen. Dennoch wird hier Antisemitismus herbei fantasiert.
Wenn man den Begriff „Genozid“ im Bezug auf Israels Vorgehen in Gaza nicht verwenden darf, weil das antisemitisch sei, dann bedeutet das im Umkehrschluss, dass Genozid etwas Jüdisches sei.
„Der entsetzliche Missbrauch dieses Wortes durch Deutsche, nicht nur um palästinensische Kritiker Israels zum Schweigen zu bringen, sondern auch um Israelis wie mich zum Schweigen zu bringen, entleert das Wort Antisemitismus seiner Bedeutung und gefährdet damit Juden in der ganzen Welt.
Yuval Abraham, israelischer Berlinale-Preisträger [Zitat hier]
[eingefügt von kommunisten.de]
Es ist eine schiere Unverschämtheit, welches Bild des Judentums von deutschen Politikern hier gezeichnet wird. Es ist nichts Jüdisches, Kinder, Männer und Frauen zu entrechten, zu entwürdigen und umzubringen. Es ist nichts Jüdisches, Land eines anderen Volkes zu rauben und die dortige Bevölkerung zu unterdrücken und auszubeuten. Daher KANN die Kritik an solchen Zuständen gar nicht antisemitisch sein.
Wer jedoch angesichts dieser Verbrechen von Antisemitismus spricht, missbraucht diesen Begriff und zeichnet ein widerliches Bild vom Judentum. Gegen eine solche Darstellung des Judentums verwehre ich mich vehement!
Statt in den eigenen Reihen wahren Antisemitismus zu bekämpfen, wird hier gegen jeden Israelkritker geschossen. Ein solches Vorgehen wirkt sich nicht sonderlich förderlich für die demokratische Ordnung in diesem Land aus.
Es wäre schön, wenn auch einmal andere jüdische Stimmen als die des Zentralrats der Juden Gehör finden würden – denn der Zentralrat vertritt nur die absolute Minderheit der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden. Der Zentralrat ist kein von den Bürgern gewähltes politisches Organ, daher herrscht bei den Bürgern Unverständnis über die enorme Einflussnahme des Zentralrats auf bestimmte politische Themen. Es ist nicht Aufgabe der deutschen Politiker, sich in Israelbelangen Vorgaben vom Zentralrat machen zu lassen und diese dann unkritisch umzusetzen.
28.2.2024
Shelly Steinberg
Anmerkungen
[1] Redebeitrag Shelly Steinberg auf der AntiSiko-Demo, 17.02.2024 Münchenhttps://www.jpdg.de/meldungen/2024/2/19/redebeitrag-shelly-steinberg-auf-der-antisiko-demo-17022024-mnchen
Bild oben: Shelly Steinberg
übernommen von kommunisten.de