120 Jahre Jugendweihe / Jugendfeier in Deutschland
Aus: „Freidenker“ Nr. 1-10 März 2010, S. 32-36, 69. Jahrgang
von Eberhard Schinck
Ein denkwürdiges Ereignis in der Freidenkerbewegung: Das Fest wird seit 1890 in der Freidenkerbewegung regelmäßig begangen. Seiner Geschichte nach ist es ein proletarisches Fest. Ein bedeutendes Kulturereignis der Freidenker, das sich bis in die heutige Zeit erhalten hat. Allerdings wurde diese Feier in den ersten Jahren bewusst nicht Jugendweihe genannt.
Die erste große Kirchenaustrittsbewegung Deutschlands entstand nach der Ausstellung des „Heiligen Rocks“ in Trier. Sie war eng verbunden mit der Entwicklung, die dann auch zur bürgerlichen Revolution von 1848/49 führte. Liberale religiöse und politische Ideen verbanden sich. Es ging gegen die Orthodoxie und die Negation des wissenschaftlichen Fortschritts, wie sie mehrheitlich von den Großkirchen vertreten wurden. Große Teile der Arbeiterklasse grenzten sich damit von den Dogmen der Kirche ab, die für ihre Unterdrückung mitverantwortlich waren.
Die Jugendweihe, entstanden auf Initiative von Freidenkern und Freireligiösen als Gegenstück zur kirchlichen Konfirmation oder Kommunion, und die Kulturbestrebungen der Arbeiterschaft haben gemeinsame Wurzeln: beide wehrten sich gegen die staatliche Obrigkeit des 19. Jahrhunderts. Der Kampf um Jugendweihe und die Vorbereitungskurse entsprangen dem Aufbegehren gegen die rechtliche und soziale Benachteiligung breiter Bevölkerungskreise. So ist das Ringen um die Durchsetzung der Jugendweihe auch ein Stück Geschichte der Demokratiebewegung.
Diskussionen zu Beginn
Proletarische Freidenker und Arbeiterbewegung lehnten den Begriff Jugendweihe zunächst ab, weil er Vorstellungen von „Segnen“ und „Weihen“ zulässt. Die Unterscheidung zwischen „Schulentlassungsfeier“ und „Jugendweihe“ hatte also einen politischen Grund. Ab 1890 etwa hatten sich die meisten Freireligiösen Gemeinden in einem komplizierten Entwicklungsprozess der Verweltlichung zu freidenkerischen Positionen durchgerungen. Hinsichtlich der Jugendweihe setzte sich um diese Zeit der Name „Jugendweihe“ als die Bezeichnung für das Fest für ihre vierzehnjährigen Kinder durch. Die Freireligiöse Gemeinde zu Berlin kündigte bereits 1889 das Fest mit der Bezeichnung und dem Inhalt „proletarische Jugendweihe“ an.
Nach der ersten öffentlichen Jugendweihe-Feier in Hamburg z. B. wurde in der Freidenker-Gesellschaft am 31. März 1890 diskutiert: „Ist es wünschenswert, dass wir Freidenker Festlichkeiten unter uns einführen?“ Die Diskussion ist uns durch das Protokoll eines Spitzels der politischen Polizei erhalten geblieben.
„Ich bin der Ansicht, keine Feste zu feiern, auch nicht die Konfirmation, denn ein aufrichtiger Freidenker kann die Konfirmation nicht als Festlichkeit betrachten. – Ich bin auch gegen alle gemachten Feste …, welche … doch nur zum Zwecke des Saufens und Fressens dienen. Ich bin entschieden dagegen. – Führt Z. an, dass er Gegner aller Festlichkeiten sei, doch würde er dafür sein, dass man betreffend der … aus der Schule entlassenen Kinder ein kleines Fest veranstalte … Wir wollen dies auch nicht ein Fest nennen, wir wollen ja nur den Kindern einige gute Worte mitgeben. – S. stellt den Antrag, den aus der Schule entlassenen Kindern ein Geschenk in Form eines Buches freidenkerischer Richtung zu machen, zu welchem Zweck … ein Fest im Sinne einer Versammlung zu veranstalten ist. – Für uns ist die Natur das, was für andere das Gotteshaus ist. Doch bin ich dafür, die Konfirmation zu feiern, um nicht unsere Kinder anderen gegenüber zurückzusetzen.“
Durchgesetzt haben sich wohl die Gegner einer Feier, denn zeitgleich mit den Anmeldungen für den Konfirmandenunterricht beginnt die Freidenker-Gesellschaft Ende September 1890 mit einer monatelangen Agitation für die Einführung eines regelmäßigen Jugendunterrichts. Von einer Feier war keine Rede. Der Inhalt des Jugendunterrichts wurde damit begründet, dass die künftige Generation mit dem Hauptgedanken der Befreiung der Menschheit erzogen werden müsse und dass ihre freie, unabhängige Erziehung dadurch gefördert werden müsse, dass sie nicht an der kirchlichen Taufe und nicht am Religionsunterricht teilnehmen sollten.
Vorbereitender Unterricht
An dem regelmäßigen Jugendunterricht nahmen in dieser Zeit ca. viermal soviel Kinder teil wie später an den Feierstunden selbst. Die Gründe für die geringere Anzahl der Festteilnehmer sind nicht genau bekannt. Es mögen verschiedene Gründe gewesen sein, aber einer war wohl auch, dass einem Teil der Eltern aus finanziellen und sozialen Gründe die Mitfinanzierung der Jugendfeiern nicht möglich war.
In den wenigen überlieferten Angaben zum Inhalt der Feierstunden und Festreden lassen sich folgende Grundgedanken erkennen: Es bedürfe zur Schulentlassung nicht des Segens des Priesters, denn die sittlichen Normen seien nicht an die Religion gebunden. Es folgten Darlegungen von ethischen Maximen der Freidenker. Die Redner erklären, dass die Arbeiterklasse Trägerin einer höheren Moral ist. In diesen Feiern wurden Kampflieder der deutschen Arbeiterbewegung gesungen.
Die kulturelle Umrahmung besorgten Festspiele, in deren Mittelpunkt die Entwicklung des Menschen und der menschlichen Gesellschaft steht. Die verheerenden Wirkungen der Arbeit unter kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen werden dargestellt. Kampfszenen der Arbeiterbewegung werden in solchen kleinen Theaterstücken nachgestellt. Am Schluss der Feier erhielten die Kinder ein bescheidenes Geschenk zur Erinnerung. Oft waren es Fotoalben oder Bücher aus der proletarischen Kultur.
Bis 1907 wurden die Schulentlassungsfeiern ,Stiftungsfest der Freidenker‘ genannt. Nach der Bildung des Zentralverbandes proletarischer Freidenker im Jahre 1908 nahmen die Teilnehmerzahlen weiter zu. Es wurde wieder von Schulentlassungsfeiern gesprochen und es nahmen nur noch diejenigen Kinder am vorbereitenden Unterricht teil, die dann zu Ostern auch die Schule verließen. Inhalt des Unterrichts waren insbesondere folgende Themen:
– Entstehung und Entwicklung der Erde
– Entstehung des Gottesglaubens und der verschiedenen Religionen
– die Entwicklungsgeschichte der Menschheit
– Gespräche zum Thema Sexualität, was damals wohl etwas ganz besonderes war.
Notwendigkeit der gewerkschaftlichen und politischen Organisierung
In den zwanziger Jahren stieg die Teilnahme der Jugendlichen an den Jugendweihen und Jugendfeiern permanent zu einer Massenbewegung an. Ende der zwanziger Jahre nahm in Hamburg etwa ein Fünftel aller Schulabgänger an den Jugendweihen der Arbeitsgemeinschaft Jugendweihe teil, die 1921 von Sozialdemokraten gegründet worden war. Im Verlauf der Spaltung der Arbeiterbewegung kam es auch in der Jugendweihe immer wieder zu Spaltungen.
Sofort nach der Machtergreifung der Faschisten wurde, wie so viele andere Organisationen der Arbeiterbewegung, die Jugendweihe verboten. Der Begriff der Jugendweihe wurde von den Faschisten vereinzelt regional weiter gebraucht und für ihre Zwecke benutzt. Charakteristisch war das bei der Zwangsübernahme aller Jugendlichen vom Jungvolk zur Hitlerjugend. Später wurde auch der Begriff Jugendweihe von den Nazis verboten.
Neubeginn 1945
Schon bald nach der Befreiung 1945 trafen sich verschiedene Anbieter von Jugendweihen, die den Faschismus überlebt hatten, und gründeten die Arbeitsgemeinschaft Jugendweihe neu. Das war zum Beispiel in Hamburg so. Diesmal sollte sie alle verschiedenen Richtungen unter einem Dach vereinigen. Bei allen Unterschieden ist es Anliegen der Jugendweihe, nicht kirchlich gebundenen Jugendlichen ab 14 Jahren ein Angebot zu machen, die für sich einen Standpunkt suchen im Prozess des Hineinwachsens in die Erwachsenenwelt.
In vielfältiger Weise sind Jugendliche heute gefordert: Im persönlichen Bereich sind es Fragen der Partnerschaft, Liebe, Sexualität; was bedeuten Drogen für mich; wie finde ich zu einer gesunden Ernährungs- und Lebensweise. Im gesellschaftlichen Feld geht es um demokratische Mitwirkung, Sorge für die natürliche Umwelt, aktives Eintreten für den Frieden, gewerkschaftliche Aufgaben, internationale Solidarität, die Stellung der Geschlechter zueinander.
Jugendliche stehen heute viele Informations- und Beratungsangebote zur Verfügung. Elternhaus und Schule, vor allem aber die Medien bieten viele Hilfen. Dennoch gibt es Ratlosigkeit und Orientierungsprobleme. Wir Freidenker möchten Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sein für eine kritische Aneignung der menschlichen Geschichte, für das Entwickeln von eigenen Bezugspunkten für das individuelle Leben und Handeln. Wir sind überzeugt: mehr denn je kommt es auf jede/n einzelne/n an!
Wir sind parteipolitisch unabhängig. Aus unserer Geschichte heraus fühlen wir uns den Idealen des Humanismus, der Aufklärung und des Sozialismus verbunden, wir treten für soziale Gerechtigkeit, die Erhaltung der ökologischen Lebensgrundlagen, die Verteidigung demokratischer Rechte und ein friedliches Zusammenleben aller Menschen ein.
Unserer Motivation, eine Jugendfeier durchzuführen, liegt eine weltanschauliche Grundposition zugrunde. Wir wollen in der Arbeit mit den Jugendlichen dazu beitragen, dass sie ein Denken frei von religiösen und anderen Dogmen entwickeln können. Das Bild, das sie sich von der Welt zeichnen, soll die Realität möglichst adäquat widerspiegeln, damit es ein tragfähiges Fundament für das Leben und das eigene Handeln sein kann. Es geht darum, die Widersprüche in der Welt zu hinterfragen und dies auch dann noch zu tun, wenn man dabei in Widerspruch zu den Meinungsmachern und dem herrschenden Gedankengut gerät. Es geht uns darum, unerträgliche Verhältnisse wahrzunehmen, aber auch zu erkennen, was die Welt bewegt und verändert.
Religion, Aberglaube, Vertrauen auf ein Lottoglück sind kein empfehlenswertes Rüstzeug für junge Menschen. Wir möchten Mut machen, möglichst nie darauf zu verzichten, den eigenen Verstand zu gebrauchen, nach Lösungen zu suchen und sie solidarisch mit anderen durchzusetzen.
Wir vermeiden dabei Pathos, aber legen doch Wert auf Ernsthaftigkeit, wie sie aus den Worten des türkischen Dichters Nazim Hikmet klingt, der seinem Sohn aus dem Exil schrieb: „Mehmet, lebe nicht wie ein Mieter in der Welt, auch nicht wie in der Sommerfrische, sondern, als wäre die Welt dein Elternhaus. … erfreue dich an allem Glück, erfreue dich an der Finsternis und der Helle, … vor allem aber an den Menschen.“
Praxis heute
Möglichst frühzeitig laden wir zu einem Elternabend ein, an dem selbstverständlich auch die Jugendlichen selbst teilnehmen. Die Einbeziehung der Eltern ist uns sehr wichtig. Durch ihr Engagement wird unsere Arbeit erst möglich. Sie finanzieren das Ganze durch einen Teilnahmebeitrag, mit dem alle anfallenden Kosten abgedeckt werden müssen, sowie dadurch, dass sie Autos, Technik, Spendengelder, Kuchen, auch Zeit und andere nützliche Dinge, je nach Vermögen, aber immer freiwillig zur Verfügung stellen.
Unser erstes Treffen dient dem Kennenlernen. Alle stellen sich einander vor. Wir sprechen über die angebotenen Themen, über Wünsche und Anregungen der Jugendlichen dazu sowie über die Möglichkeiten, das alles gemeinsam umzusetzen.
Wir halten es für wichtig, bei der Auswahl der Themen aktuell und flexibel zu sein. Es gibt keinen starren, alljährlich wiederkehrenden Reigen von Themen bzw. Referenten. Einen festen Platz haben natürlich bestimmte Dinge wie die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Religion und darüber, was Antifaschismus bedeutet. Aus dem Schulalltag sind solche Themen bekannt wie „Esoterik, Schwarze Magie – Ausflüchte ins Jenseits?“ Altersgemäß sind die Themen wie „Liebe und Sex im Aidszeitalter“ und „Mitmachen – Widerstehen? Wer oder Was beeinflusst unser Handeln?“
Ein wichtiger Höhepunkt ist jedes Jahr das gemeinsame Wochenende mit vielen Erlebnissen und Entwicklungen von neuen Freundschaften. An solchen Wochenenden werden denkwürdige und interessante Orte besucht, z. B. ehemalige Konzentrationslager, historische Denkmäler, bedeutende Kulturstätten u. a.
Die Feier selbst hat dann die Funktion, die Vorbereitungskurse abzuschließen, und sie soll ein schönes Fest sein. Die Feier wird vorbereitet für die Jugendlichen – aber eigentlich nicht nur für sie, sondern auch für die Gäste der Jugendlichen, die oft das Zehnfache an Personen umfassen.
Wir wecken auch den Ehrgeiz der Jugendlichen, selbst mit eigenen Darstellungen die Gäste zu unterhalten und zu interessieren, ihnen möglichst ihre eigenen Probleme unterhaltsam vorzustellen.
Die Einbeziehung der Jugendlichen in die Vorbereitung erfordert natürlich, dass wir uns ihren Wünschen öffnen, ihre Unkonventionalität akzeptieren. Von den Jugendlichen erwarten wir andererseits, dass sie in ihrem Programm auch Kunst aus früheren Zeiten akzeptieren, z. B. Mozart, Beethoven oder Goethe, Schiller und Heine.
Der eigene Beitrag der Jugendlichen ist auch deshalb sinnvoll und notwendig, weil er ihnen hilft, sich selbst mit ihrer Jugendfeier zu identifizieren. Ganz wichtig ist, dass die Jugendlichen auf die Auswahl des Programms Einfluss haben.
Der Grundtenor unserer Feiern ist heiter. Tucholsky und Kästner, aber ebenso Gegenwartskünstler haben hier ihren Platz. Das Kernstück der Feier ist die Rede. Nicht nur bei den Vorbereitungstagen, auch bei der Feier selbst soll deutlich werden: Wir haben uns gegenseitig etwas mitzuteilen. Diesem Anspruch gerecht zu werden, ist eine hohe Anforderung. Auch an den Redner. Deshalb ist seiner Auswahl besonderes Augenmerk zu widmen. Wie jeder von uns weiß, kann man freilich nicht jedem Teilnehmer in allen seinen individuellen Ansprüchen gerecht werden. Die Reden sollen deshalb kritisch sein und auch kritische Begutachter finden. Das kann die Harmonie nur fördern. Jedes Jahr geben sich in unserem Verband viele fleißige Menschen Mühe, Vorbereitung und Durchführung der Jugendfeier zu einem wichtigen Erlebnis der Jüngsten in unserem Kreis werden zu lassen.
Eberhard Schinck
mit Dank an Helmuth Sturmhoebel, Hamburg, und Monika Krotter-Hartmann, Hessen, sowie andere Freunde für ihre wichtigen Gedanken und Hinweise
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