Dritter Anlauf
Von Arnold Schölzel
Erstveröffentlichung im Rotfuchs, Nr. 311 vom Januar 2024
Veröffentlichung auf unserer Seite mit freundlicher Genehmigung des Autors
Am 21. Januar vor 100 Jahren starb Wladimir Iljitsch Lenin. Er stand an der Spitze der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917, die ein ganzes Kapitel der Geschichte der Menschheit beendete und ein neues eröffnete. Bereits ihre ersten Maßnahmen – das Dekret über den Frieden, mit dem Russland aus dem imperialistischen Weltkrieg ausschied, und das Dekret über den Boden – hatten eine ungeheure Wirkung außerhalb und innerhalb Russlands. Zum ersten Mal entstand eine machtvolle Friedensbewegung in den Ländern des Imperialismus. Millionen Menschen in Nordamerika und Westeuropa verlangten nicht nur ein Ende des Krieges, sondern auch die Sicherung eines dauerhaften Friedens. Vielen war klar: Das war nur im Sozialismus möglich. Die Begeisterung für die neue Gesellschaftsordnung erreichte nach 1917 Klassen und Schichten weit über das Industrieproletariat hinaus. Nach mehr als 400 Jahren kolonialer Ausbeutung, Unterdrückung, Versklavung und Ausrottung ganzer Völker begann mit der Oktoberrevolution und dem Aufstieg der Sowjetunion die erste Phase des Befreiungskampfes in den Kolonien.
Lenin war der einzige marxistische Theoretiker seiner Zeit, der das ökonomische Wesen des imperialistischen Krieges im Monopol aufdeckte, in einer neuen Stufe der Vergesellschaftung der Produktion, im Verschmelzen von Banken und Industriekapital. Er machte zugleich immer wieder darauf aufmerksam, dass mit dem Monopolkapital auch eine neue Stufe der kolonialen Unterdrückung erreicht wurde. In seiner 1916 verfassten Studie „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ schrieb er zum Beispiel: „Die Monopole haben in verstärktem Maße zur Besitzergreifung der wichtigsten Rohstoffquellen geführt (…) Die monopolistische Beherrschung der wichtigsten Rohstoffquellen hat die Macht des Großkapitals ungeheuer gesteigert (…) Das Monopol ist aus der Kolonialpolitik erwachsen. Den zahlreichen ‚alten‘ Motiven der Kolonialpolitik fügte das Finanzkapital noch den Kampf um Rohstoffquellen hinzu, um Kapitalexport, um ‚Einflusssphären‘, d. h. um Sphären für ihre gewinnbringenden Geschäfte.“ (Lenin Werke, Band 22, Seiten 304/305) Einhundert Jahre nach Lenins Tod und knapp 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der vom deutschen Imperialismus vor allem als Raub und Kolonialkrieg gegen die Sowjetunion geführt wurde, sind wir gegenwärtig Zeitgenossen der zweiten Phase der Entkolonialisierung. Zum ersten Mal werden viele Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas nicht nur formal vom Imperialismus unabhängig, sondern auch wirtschaftlich und politisch. Möglich gemacht hat das der Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Weltmacht. Aber wieder stellt sich der deutsche Imperialismus in Europa an die Spitze eines NATO-Krieges, der das kapitalistische Russland zum Rohstoffvasall des Westens machen soll. Am deutlichsten hat das bisher die SPD ausgesprochen, nicht nur durch die Forderung, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden. Sie verabschiedete auf ihrem Parteitag vom 7. bis zum 10. Dezember 2023 in Berlin ein außenpolitisches Papier, in dem der Satz steht: „Solange sich in Russland nichts fundamental ändert, wird die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden müssen.“ Das ist eine Kriegserklärung nicht nur gegen Russland, sondern gegen alle Staaten, die sich aus Abhängigkeit vom Imperialismus lösen. In Berlin regiert erneut der Größenwahn.
Auch unter deutschen Linken wird über den Charakter des Krieges gegen Russland oder über die Gesellschaft der Volksrepublik China gestritten. Manche erklären, es gehe beiden Ländern um die Neuaufteilung der Welt. Nicht erwähnt wird aber: Vor der globalen Neuaufteilung will der Imperialismus Russland und China aufteilen. Bei Lenin lässt sich nachlesen, warum. Er schrieb 1920 im Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe seiner Imperialismusstudie: „Der Kapitalismus ist zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll ‚fortgeschrittener‘ Länder geworden. Und in die ‚Beute‘ teilen sich zwei, drei weltbeherrschende, bis an die Zähne bewaffnete Räuber (Amerika, England, Japan), die die ganze Welt in ihren Krieg um bei der Beuteverteilung vorn mit dabeizusein.“ Lenin konnte nicht ahnen, dass der deutsche Imperialismus gut 100 Jahre danach den inzwischen dritten Anlauf unternimmt, um bei der Beuteverteilung vorn mit dabei zu sein. Er darf und wird nicht damit durchkommen.
Dr. Arnold Schölzel ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: W. I. Lenin 1917 in Petrograd
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Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=116994021