Zunehmende Verfolgung von Meinungsdelikten
Man weiß nicht mehr, was man sagen darf
Im Interview warnt der Kölner Strafverteidiger Dirk Sattelmaier vor der zunehmenden Verfolgung von angeblichen Meinungsdelikten. Die Bürger würden zunehmend eingeschüchtert, ihre Meinung zu äußern. Juristische Laien könnten nicht mehr verstehen, was verboten und was erlaubt sei.
Interview von Felicitas Rabe mit Dirk Sattelmaier
Erstveröffentlichung am 18.11.2023 auf RT DE
Kürzlich kündigte die bayrische Generalstaatsanwaltschaft an, Nutzer des Slogans „From the River to the Sea, Palestine will be free!“ (Vom Fluss bis zum Meer – Palästina wird frei sein!) ab sofort strafrechtlich zu verfolgen. Nach Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft sei die „kontextlose Verwendung“ des Slogans strafbar, da es sich hierbei um das Kennzeichen einer terroristischen Vereinigung handele.
Wie die Autorin auf einer propalästinensischen Großdemonstration am 28. Oktober in Rom selbst erleben konnte, schert sich die Obrigkeit in Italien zum Beispiel überhaupt nicht um diesen Slogan. Die Polizei stand in größeren Gruppen am Rande des Protestmarsches und hat bei den unüberhörbaren Ausrufen dieses Slogans gar nichts unternommen.
Nach Auffassung des Kölner Rechtsanwalts Dirk Sattelmaier geht es bei der Ankündigung der bayrischen Staatsanwaltschaft aber um mehr als nur um die Unterdrückung dieses Slogans. Er sieht ganz grundsätzlich Anzeichen für eine weitere Einschüchterung und Verunsicherung der Menschen hierzulande. Denn für juristische Laien würde immer unklarer, was man sagen dürfe und was nicht.
Was bedeutet die Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen nach dem deutschen Strafrecht?
Im Interview erklärte der Strafverteidiger am Mittwoch zunächst die Bedeutung des § 86a StGB „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen“. Im Gesetzestext des § 86a StGB heißt es im Absatz 1, Satz 1:
„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer im Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 oder Absatz 2 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen verbreitet oder öffentlich, in einer Versammlung oder in einem von ihm verbreiteten Inhalt (§ 11 Absatz 3) verwendet.“ Zu den Kennzeichen gehören laut Absatz 2 des Gesetzes „Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen“.
Gesetzestexte seien grundsätzlich allgemein gehalten, erläuterte Sattelmaier. Da stehe eben nicht drin, „Hakenkreuze“ seien verboten oder, wie im aktuellen Fall, der Slogan „From the river to the sea …“ sei verboten. Die Gerichte müssten also jeweils prüfen, ob es sich um ein Kennzeichen einer verfassungswidrigen und terroristischen Organisation im Sinne des abstrakt gehaltenen Tatbestandes des § 86a Abs. StGB – wie zum Beispiel im Falle dieser Parole – handele.
Was eine terroristische Organisation ist, müsse in Deutschland zuvor festgelegt werden. Die Hamas wurde nach einigem Hin und Her am 23. November 2021 von der EU in die Liste terroristischer Organisationen aufgenommen. Infolgedessen gelte sie auch in Deutschland als Terrororganisation – in der Schweiz, wo derzeit eine Diskussion über ihre Einstufung geführt wird, gelte die Hamas aktuell nicht als Terrororganisation.
Deutsches Gerichtsurteil: „From the River to the Sea …“ ist kein Aufruf zu Gewalt und Zerstörung
Die rechtliche Einordnung des genannten propalästinensischen Slogans als Kennzeichen einer terroristischen Organisation habe zunächst einmal lediglich die bayrische Generalstaatsanwaltschaft getroffen. Grundsätzlich könne man nach dem § 86a Absatz 2 StGB auch Parolen als Kennzeichen einer terroristischen Organisation identifizieren, erläuterte Sattelmaier. Eine solche Parole müsse aber eindeutig einer bestimmten Organisation zuzuordnen sein. Das sei im Falle des Spruchs „From the River to the Sea“ nicht ganz so eindeutig. Schließlich sei dieser Slogan schon vor der Gründung der Hamas genutzt worden. Geprägt worden sei er in den 1960er-Jahren von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Die PLO stehe aber nicht auf der Terrorliste der EU.
Auch ein deutsches Gericht habe sich erst kürzlich zu dem Slogan geäußert. In seiner Entscheidung vom 23. August dieses Jahres habe das Verwaltungsgericht Berlin zur Parole „From the River to the Sea …“ festgestellt:
„Der Slogan müsse in erster Linie als Ruf nach Freiheit und Gleichberechtigung verstanden werden und nicht als Ausruf zu Gewalt und Zerstörung, sofern nicht zwingende zusätzliche Anhaltspunkte das Gegenteil nahe legen würden.“
Die Schlagzeilen vieler Leitmedien vermittelten den Eindruck, so der Jurist im Interview, das Rufen dieses Slogans wäre nach der Ankündigung der Staatsanwaltschaft aus Bayern automatisch strafbar. Dem sei mitnichten so. In Deutschland entschieden „gottlob“ immer noch die Strafgerichte, ob die „kontextlose Verwendung“ des Slogans nach § 86a StGB strafbar ist, und nicht die Staatsanwaltschaften. Sattelmaier wundere sich, dass diese Parole jetzt auf einmal als strafbar angesehen werde: „Vor dem 7. Oktober gab es diesen Slogan auch schon – diesbezüglich ist mir kein einziger Fall einer Verurteilung bekannt.“
Sattelmaier: Es geht darum, die Menschen einzuschüchtern – Juristische Laien wissen nicht mehr, was sie sagen dürfen
Auf seinem Telegram-Kanal hatte der Kölner Strafverteidiger deutlich gemacht, dass es bei dem angedrohten Verbot des propalästinensischen Slogans um etwas Grundsätzliches gehe: nämlich um die Gefahr einer weiteren Einschränkung der Meinungsfreiheit insgesamt. In den letzten dreieinhalb Jahren seien zunehmend unliebsame Meinungsäußerungen strafrechtlich verfolgt worden. Das sei das eigentlich Bedenkliche bei der Ankündigung der bayrischen Staatsanwaltschaft: Die Menschen würden beim Rufen dieses mutmaßlich verbotenen Slogans nun auch hier damit rechnen müssen, strafrechtlich verfolgt zu werden und ein Gerichtsverfahren „an der Backe“ zu haben.
Man könne das mit dem Anstieg von Gerichtsverfahren im Bereich von Volksverhetzungsdelikten in den letzten dreieinhalb Jahren vergleichen. Der Tatbestand der Volksverhetzung werde inzwischen viel weiter ausgelegt, stellte der Strafverteidiger fest:
„Scheinbar jegliche Bezugnahme auf die NS-Zeit birgt schon die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung nach § 130 StGB – hier vor allem in der Variante des Verharmlosens im Absatz 3.“
Angesichts dieser Entwicklung würden die Meinungsäußerungsdelikte für den Normalbürger immer komplizierter und unübersichtlicher. Dabei sei die Meinungsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes ein „extrem hohes Rechtsgut“.
„Wenn aber der Bürger eine Strafverfolgung befürchten muss, führt das zur Verunsicherung und damit auch zu einer Einschränkung der Meinungsfreiheit. Diese wird dann häufig nur noch in inhaltsleeren ‚Sonntagsreden‘ als ‚hohes Gut‘ bezeichnet.“
Als Jurist sei ihm die inhaltliche Qualität der Meinung – ob sie also richtig oder falsch ist oder ob sie gut oder verwerflich ist – herzlich egal. Er habe auch Mandanten, deren Meinung er nicht teile, erklärte Sattelmaier. Für ihn als Jurist zähle einzig und allein, ob die Meinungsäußerung strafbar sei. „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Meinungsäußerungsdelikte von der Justiz – hier vor allem von den Strafverfolgungsbehörden – stark überdehnt werden.“ Das führe für ihn zu der Frage nach einem politischen Motiv:
„Hier kann und sollte sich jeder die Frage stellen, ob politisch unliebsame Ansichten unterdrückt werden sollen.“
An dieser Stelle räumte der Rechtsanwalt jedoch ein, dass er das nicht belegen könne. Die Entwicklung der letzten dreieinhalb Jahre zeige aber, dass sich offenbar niemand seiner aktuellen Meinung „sicher“ fühlen könne. Wer gestern noch über Verbote von Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen „gejubelt“ habe, könne heute schon wegen seiner Meinung zum Konflikt im Nahen Osten oder zur Ukraine strafrechtlich verfolgt werden, wenn diese von der Staatsraison abweiche. Die Justiz als Korrektiv müsse aufpassen, sich nicht politisch instrumentalisieren zu lassen.
Vor dieser Entwicklung habe Sattelmaier stets gewarnt. Deshalb habe er auch versucht, derartige Angriffe auf die Meinungsfreiheit juristisch abzuwehren – unabhängig von der Qualität der Meinung.
Der Kölner Rechtsanwalt Dirk Sattelmaier berichtet auf seinem Telegram-Kanal und auf Youtube in der Videoreihe „Neues aus dem Gerichtssaal“ regelmäßig von besonderen Gerichtsverfahren und von Fällen, die er als Strafverteidiger vertritt.
Felicitas Rabe ist freie Journalistin. Am 29. Mai 2023 berichtete die Autorin über die Konferenz der Weltunion der Freidenker
Bild oben: Der Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch
Foto: MephistoGF, CC BY-SA 3.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31369449