Meinung in Zeiten des Hasses
Deutschland wird jeden Tag ein bisschen demokratischer. Doch dafür ist eine Menge Arbeit nötig, höchster Einsatz ist gefragt. Und so haben Politik und Medien alle Hände voll zu tun, um die falsche Meinung zu bestrafen oder gleich zu eliminieren.
Von Tom J. Wellbrock
Erstveröffentlichung am 19.10.2023 auf RT DE
Beginnen wir doch mit Corona, der Mutter aller Demokratie-Viren. Kaum hatte sich das vermeintlich, doch wohl hoffentlich todbringende Virus in den Hirnen der machthabenden Schreibtischtäter festgesetzt, waren sie zur Stelle, um die generelle Bedeutung von Kleinigkeiten wie Grundrechten zu hinterfragen. Und sie kamen zum Schluss, dass derlei Lächerlichkeiten völlig überbewertet sind. Also weg damit!
Kinderrechte? Ach, i wo, können auch weg. Die sollen erst mal etwas Staatsbürgerkunde um die Ohren gehauen bekommen, Kniebeugen machen, wenn’s frisch wird und alle anderen Kids denunzieren und diffamieren, die womöglich irgendwelche Pseudo-Psychoprobleme beim Tragen der lebensrettenden Masken haben.
Alte Leute? Hatten sicher ihr Leben lang Gesellschaft ohne Ende, der kann man dann auch mal ein Ende bereiten, wenn es der Sache dient. Und diese Sache heißt: Überleben. Ob sie wollen oder nicht, ob sie vielleicht noch mal ihre Angehörigen sehen wollen (plus echtes Anfassen ohne Plexiglasscheibe!) oder nicht, spielt nun wirklich keine Rolle. Selbst der natürlich herannahende Tod wegen des fortgeschrittenen Alters ist keine Option. Wer nicht mehr leben will, hat kein Recht aufs Sterben.
Und überhaupt. Die Wirtschaft? Löhne, Bewegungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, das Sitzen auf einer Parkbank oder die Unverletzlichkeit der Wohnung? Weg damit, das gehört hier nicht mehr her.
Und dann: die Ukraine
Die Steigerung der Demokratiequalität reicht über deutsche Grenzen hinaus, das wissen wir alle. Daher war es nur recht und billig, 2014 aus Kiew eine westliche Shopping-Mall zu machen und ein paar Milliarden Dollar zu investieren, um die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass der Westen edel und nobel ist. War er dann doch nicht, aber das ist Kapitalismus, mal gewinnt man, mal verliert man.
Sie sehen das anders? Sind womöglich der Meinung, die Vorgeschichte der Ukraine hat eine Menge damit zu tun, dass Russland 2022 die Reißleine ziehen und eine sonderbare Operation durchführen musste, um der NATO nicht endgültig ausgeliefert zu sein? Behalten Sie das besser für sich, das ist strafbewehrt:
„Die öffentliche Leugnung und die gröbliche Verharmlosung aller Völkermorde, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nun strafbar.“
Sind Sie schon wieder einer Meinung? Womöglich einer anderen? Etwa der, dass diese Formulierung vage ist und ausgelegt werden kann, wie es einem machtvollen Schreibtischtäter in den Sinn kommt? Schweigen Sie stille, Sie haben hier gar nichts zu melden!
Und nun: Israel
Wir stehen nicht nur bedingungslos an der Seite Israels, wir würden sogar für die schönste aller Demokratien sterben. Das sagte gerade erst der Haudegen Roderich Kiesewetter von der CDU, der für Statements dafür aber nicht zur Verfügung steht, weil er mit Sack und Pack auf dem Weg nach Israel ist, um dort mit Feuerwaffen gegen Palästinenser zu kämpfen. Vielleicht ist er aber auch gerade bei Starbucks, man weiß es nicht so genau.
Wie auch immer: Die Anschläge der Hamas vom 7. Oktober rechtfertigen alles, was sich Fans von Ballerspielen in ihren wildesten Träumen ausmalen können. Alles, außer Demonstrationen für die palästinensische Sicht, die auf Völkerrechtsverletzungen, illegale Besiedlungen, rationierte Lebensmittelzufuhr und jahrzehntelange Inhaftierung der Menschen im Gazastreifen hinweisen könnte.
In der funkelnden Demokratie Deutschland werden Tote nicht gegeneinander aufgerechnet, so etwas tut man nicht. Man benennt einfach die Toten der einen Seite und stellt die Erwähnung der anderen unter Strafe.
Und dann noch: Kleinigkeiten
Kennen Sie Alice Schwarzer? Sie wissen schon, diese Feministin aus grauen Vorzeiten, die neuerdings ihr Herz für Frieden und Verhandlungen entdeckt hat. Halten Sie sich fern von dieser Frau! Zusammen mit der Kommunistin und Lafontaine-Geisha Sahra Wagenknecht hatte sie die Stirn, sich offen für den Frieden auszusprechen. Das! Geht! Gar! Nicht!
Nun wollte und will sie auch noch eine Lesung aus ihrer Autobiografie „Mein Leben“ in Leipzig abhalten. Dagegen haben sich 33 Demokraten zur Wehr gesetzt und fordern erbost, dass diese Lesung abgesagt werden müsse. Die Zahl „33“ kam sicher nur zufällig heraus, aber Fakt ist, dass Schwarzer „transfeindlich, rassistisch und misogyn“, also frauenfeindlich ist. Das wussten Sie nicht? Asche auf Ihr Haupt, informieren Sie sich gefälligst mal. Es gibt inzwischen wunderbar demokratische Meldeplattformen, auf denen Sie sich schlaumachen können. Die können Sie gern nutzen, schließlich haben Sie sie mit Ihrem Steuergeld bezahlt.
Jetzt aber was anderes: Sollten Sie Lust haben, mal wieder ein gutes Buch zu lesen, denken Sie genau darüber nach, welches sie in die Hand nehmen. Unbedingt nicht empfehlenswert ist „Eine Nebensache“ von Adania Shibli. Das sollte zwar eigentlich auf der Frankfurter Buchmesse geehrt werden, doch daraus wird aus demokratischen Erwägungen nichts, wie German Foreign Policy schreibt:
„Der internationale Protest gegen die Absage einer Literaturpreisverleihung an eine palästinensische Autorin auf der Frankfurter Buchmesse schwillt an. Der Direktor der Buchmesse, Juergen Boos, hatte Ende vergangener Woche verfügt, ‚angesichts des Terrors gegen Israel‘ könne das international hoch gelobte Buch ‚Eine Nebensache‘ der Autorin Adania Shibli in Frankfurt nicht gewürdigt werden. Auch eine Diskussionsveranstaltung mit der Palästinenserin wurde gestrichen. Gegen die deutsche Maßnahme protestieren schon über 700 Schriftsteller, Übersetzer und Verleger aus aller Welt, darunter Nobelpreisträger sowie weitere weltbekannte Autoren: Kultur müsse ‚Verständnis und Dialog zwischen Kulturen‘ fördern, heißt es in einem Protestbrief. Zudem ziehen sich Schriftsteller und Verlage aus der arabischen bzw. islamischen Welt von der Buchmesse zurück: Er wolle nicht mittragen, dass in Frankfurt ‚palästinensische Stimmen zum Schweigen gebracht werden‘, erläutert ein ägyptischer Autor. Die Indienststellung kultureller Ereignisse zu Zwecken der deutschen Außenpolitik lässt sich bereits seit dem 24. Februar 2022 am Beispiel des Ausschlusses russischer Kultur beobachten; sie nimmt nun weiter zu.“
Das passt also 700 Schriftstellern nicht? Na und? Sollen sie doch wegbleiben, die Demokratie in Deutschland funktioniert ohnehin am besten, wenn man unter sich bleibt.
Zum Schluss noch ein Hinweis an unsere Kinder in der demokratischen Hauptstadt Berlin: Achtet auf eure Mode und ganz besonders auf das, was womöglich euer Kindermund kundtut. Wenn ihr jetzt nicht genau wisst, was gemeint ist, dann erklärt euch das der Onkel Warweg auf den NachDenkSeiten:
„Am 13. Oktober erhielten alle Berliner Schulleiter, Schulämter und Schulaufsichtsbehörden ein vierseitiges Schreiben, gezeichnet von der Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch, mit dem Titel: ‚Umgang mit Störungen des Schulfriedens im Zusammenhang mit dem Terrorangriff auf Israel‘. Der Inhalt hat es in sich. Denn neben ’strafrechtlich relevanten‘ Aspekten wie offene Aufrufe zur Gewalt, die sowieso bereits verboten sind, wird in dem Schreiben verkündet, dass auch ‚Symbole, Gesten und Meinungsäußerungen‘, die ‚die Grenze zur Strafbarkeit noch nicht erreichen‘, untersagt sind. Darunter fallen unter anderem das ’sichtbare Tragen von einschlägigen Kleidungsstücken‘ wie der Kufiya, der traditionellen arabischen Kopfbedeckung, oder auch Aufkleber mit ‚Free Palestine‘. Lehrer werden zudem aufgerufen, ‚im Verdachtsfall‘ ihre Schüler ‚unmittelbar‘ bei der Polizei zu denunzieren.“
Klar so weit? Nein? Dann noch mal die deutliche Ansage des Schreibens:
„Jede demonstrative Handlungsweise oder Meinungsäußerung, die als Befürwortung oder Billigung der Angriffe gegen Israel oder Unterstützung der diese durchführenden Terrororganisationen wie Hamas oder Hisbollah verstanden werden kann, stellt in der gegenwärtigen Situation eine Gefährdung des Schulfriedens dar und ist untersagt.“
Tja, so ist das, wenn man Demokratie und Meinungsfreiheit auf eine neue Stufe heben will. Man muss Opfer bringen, die Leser mögen sich nicht grämen, sondern über die Fortschrittlichkeit des besten Deutschlands auf der Welt freuen. Wie schon unsere grandiose Wirtschaftspolitik wird auch das noch ofenwarme neue Demokratieverständnis weltweit haufenweise Nachahmer finden, das ist mal sicher.
Tom J. Wellbrock ist Texter und Sprecher und betrieb gemeinsam mit Jens Berger den Blog Spiegelfechter. Aktuell betreibt er gemeinsam mit Roberto J. De Lapuente den Blog Neulandrebellen.de sowie den Telegram-Kanal „Randnotizen aus der Mitte„.
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