Demokratie – Medien – Aufklärung

Kampfgipfel in Granada

von Arnold Schölzel

aus der UZ vom 13. Oktober 2023

Die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) ist eine antirussische Erfindung, die auf Initiative Emmanuel Macrons vor einem Jahr in Prag aus der Taufe gehoben wurde. Sie gehört zu den Bündnissen und Gremien, mit denen der „Kollektive Westen“ außerhalb der UN Fronten gegen China und Russland bildet. Da gelten dann selbstgemachte Regeln statt Völkerrecht. Zur EPG wurden daher die Russische Föderation und die Republik Belarus gar nicht erst eingeladen; 20 Länder, vor allem frühere Sowjetrepubliken, sollen politisch und ökonomisch von Russland abgekoppelt werden.

Der Erfolg ist mäßig. Die großalbanischen Nationalisten im EU- und NATO-Protektorat Kosovo geben keine Ruhe, die Militäraktion Aserbaidschans (Ursula von der Leyen: „verlässlicher Energielieferant“) gegen Bergkarabach erwischte Brüssel auf dem falschen Fuß. In Granada sollte vermittelt werden, aber der aserbaidschanische Staatschef Ilham Alijew sagte kurz vorher ab, sein Verbündeter Recep Tayyip Erdog˘an auch. Alijew begründete die Absage mit einer „aserbaidschanfeindlichen Atmosphäre“ unter den Teilnehmern – Frankreich hatte gerade Waffen und Geld für Armenien angekündigt. Zustande kam ein Treffen von EU-Ratschef Charles Michel, Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan. Dem wurden Investitionen in Höhe von zwei Milliarden Euro angeboten, wenn, so die FAZ, im Gegenzug „Armenien jetzt die Zollunion und das Militärbündnis mit Russland aufgibt“. Nach diesem Muster wurde 2013 auch dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch die EU-Pistole auf die Brust gesetzt.

Dem folgte der Faschistenputsch 2014, dessen Vollstrecker nach Granada eingeflogen wurde. Wladimir Selenskis Botschaft bestand wie stets aus der Forderung: Mehr Waffen, mehr Geld. Damit sieht es auch nicht besonders gut aus. Am Sonntag titelte jedenfalls die „Neue Zürcher Zeitung“: „Panik in Kiew wegen unsicher gewordener US-Hilfe“. Die Zeitung rechnete vor: Die „Gegenoffensive“ Kiews hat im September elf Quadratkilometer gebracht, in den Monaten zuvor nur territoriale Verluste. Die Kiewer verschießen dabei täglich 7.000 Granaten angeblich auf russische Stellungen, nun sei die Munition weg. Die Rüstungsindustrie werde „wohl erst ab Frühjahr 2024 spürbar mehr Artilleriegeschosse produzieren“. Selenski erhielt in Granada ein paar Durchhalteparolen, aber keine deutschen „Taurus“-Marschflugkörper. Scholz verweigerte erneut die Zusage. Die FAZ resümierte, es bleibe „der Eindruck einer gewissen Sprachlosigkeit, was die gegenwärtigen Krisen angeht“. Dazu habe gepasst, dass Spanien die Abschlusspressekonferenz kurzerhand abgesagt habe.

Viel medialen Lärm gab es am Freitag vergangener Woche, an dem ein informeller Gipfel der 27 EU-Staats- und Regierungschefs stattfand. Ungarn und Polen blockierten die gemeinsame Erklärung zur Migration, weil beide Länder durch den sogenannten Asylkompromiss „rechtlich vergewaltigt“ (Viktor Orbán) worden seien; es handele sich um ein „Diktat aus Brüssel und Berlin“ (Mateusz Morawiecki). Orbán stellte zudem die gesamte Ukraine-Hilfe der EU infrage und erklärte, Brüssel wolle Kiew „bedingungslos Kriegsgeld“ geben: „Statt eines Waffenstillstands wollen sie Waffenlieferungen, statt Frieden wollen sie fortgesetztes Töten unterstützen.“ Ungarn werde einer „unüberlegten“ Aufstockung des EU-Haushalts daher nicht zustimmen.

Die deutsche EU-Führungsmacht schlug noch am selben Tag zurück. Scholz kündigte an, dass bei EU-Erweiterungen heutige Nettoempfänger sich darauf einstellen müssten, dass sie „dann zur Finanzierung auch von Wachstumsprozessen in den Beitrittsländern mit beitragen müssen“.

Gemeint war die Ukraine, die für EU-interne Machtkämpfe noch sehr nützlich werden kann: Der EU-Rat muss im Dezember entscheiden, ob mit ihr, Moldau und Bosnien-Herzegowina Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen.

Dabei geht es um enorme Summen. In dieser Woche hatte die „Financial Times“ über ein internes Papier des Ratssekretariats aus dem Juli berichtet. Darin war berechnet worden, wie sich der siebenjährige Finanzrahmen verändert, wenn die EU zu heutigen Bedingungen alle neun Staaten aufnimmt, die einen Beitrittsantrag gestellt haben. Die FAZ fasste zusammen: „Allein der Ukraine – dem größten Beitrittskandidaten und größten Agrarstaat Europas – stünden 186 Milliarden Euro zu, davon 97 Milliarden an Landwirtschaftshilfen und 61 Milliarden aus Kohäsionsfonds. Im Gegenzug würden die derzeitigen Mitglieder etwa 20 Prozent ihrer Flächenprämien verlieren und viele aus der Strukturförderung herausfallen.“ Orbán sagte dazu am Freitag: „Eine Mitgliedschaft der Ukraine würde zu einer völlig neuen Landwirtschaft führen … Sind französische Bauern dafür bereit?“ Erpresser und Finanzdiktatoren waren in Andalusien unter sich.

Dr. Arnold Schölzel ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes


Bild oben: Gipfel der EPG in Granada, 05.10.2023. Dritter von rechts: Wolodymyr Selenskyj
Foto: By Ministry of the Presidency. Government of Spain, Attribution,
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=138614807