Politico und die „Unschuld“ der Waffen-SS
Das Springer-Portal Politico versucht, die Waffen-SS reinzuwaschen, um den kanadischen Skandal zum Verschwinden zu bringen. Aber die Bemühungen sind vergeblich. Obwohl der britische Autor die historische Wahrheit vielen Nebelgranaten aussetzt…
Von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 03.10.2023 auf RT DE
Es ist schon eine interessante Mischung. Politico, das von Springer übernommene US-Portal, und ein britischer Autor namens Keir Giles wollen eine Bresche für die SS-Division Galizien schlagen. Keir Giles, der Autor des Artikels mit dem Titel „Gegen die UdSSR zu kämpfen machte einen nicht automatisch zum Nazi“, ist „Senior Consulting Fellow“ beim Russland- und Eurasienprogramm des Chatham House, sprich, er steht dem britischen Auslandsgeheimdienst MI6 zumindest sehr nahe.
Die Hauptausrede, die Giles vorträgt, lautet, die Geschichte sei komplizierter, „denn damals gegen die UdSSR zu kämpfen, machte einen nicht notwendigerweise zum Nazi“. Der britische Geheimdienst könnte davon gewiss ein Liedchen singen ‒ schließlich entging Großbritannien nur um ein Haar und nicht wirklich wegen der Ehe mit einer Geschiedenen einem äußerst nazifreundlichen König, es gab eine nicht allzu kleine faschistische Bewegung unter einem Herrn Mosley, und dann waren da noch solche Ereignisse wie die Verweigerung jeder Unterstützung für die spanische Republik nach dem Franco-Putsch oder diese berüchtigte Nummer in München, als man Herrn Hitler das Sudetenland servierte.
Kurz gesagt, die Sache war knapp, und die sowjetische Sicht, dass die Landung in der Normandie erst erfolgte, als andernfalls die Sowjetunion den Krieg allein gewonnen hätte, hat durchaus einiges für sich. Nicht zuletzt war dann noch Herr Churchill, der, kaum dass die Geschütze auf dem europäischen Festland schwiegen, erklärte: „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet“. Was dann unter anderem dazu führte, dass die Briten Griechenland in einen blutigen Bürgerkrieg stürzten.
Wobei die Nazis selbst auch immer wieder Anfälle hatten, lieber mit den Briten gegen die Sowjetunion kämpfen zu wollen. Darum gab es so etwas wie den Flug der Nazigröße Rudolf Heß nach England.
Es gibt also ein persönliches Motiv für jemanden wie Giles, diesen Punkt zu betonen, dass nicht jeder Nazi gewesen sei, der… Allerdings gilt selbst für die britische Seite: Nutznießer und später Beschützer der Nazis waren sie sehr wohl. Aber Giles schreibt nicht über den MI6, sondern über Jaroslaw Hunka und die SS-Division Galizien.
„Dass die Idee, ausländische Freiwillige und Wehrpflichtige der SS und nicht der Wehrmacht zuzuordnen, eher administrative als ideologische Gründe hatte, ist einem Publikum schwer zu vermitteln, das glaubt, die Hauptaufgabe der SS sei der Genozid gewesen. Und einfache Erzählungen wie ‚jeder in der SS war schuldig an Kriegsverbrechen‘ sind überzeugender, weil sie so viel einfacher zu begreifen sind.“
Diese Gedankenfolge führt in einen tiefen, tiefen Sumpf. Beginnen wir mal mit „eher administrative als ideologische Gründe“. In diesem Zusammenhang würde ich dringend empfehlen, einen Blick auf die Informationen der Wannsee-Konferenz zu werfen. Sie werden sich wundern – auch die Einführung der Gaskammern hatte administrative, nicht ideologische Gründe. Dieses Argument ist keines, weil die Motivation nichts darüber besagt, wie die folgende Tat historisch oder gar moralisch zu bewerten ist.
Nein, die SS hatte noch andere Aufgaben. Die Bewachung der Konzentrationslager beispielsweise, gelegentlich unterbrochen von Folter und Mord. Und, sowohl aus den Kriegsgefangenen als auch aus den Lagerinsassen so viel Profit wie möglich zu pressen, indem man sie als Arbeitskräfte verlieh. Nicht zu vergessen die Aufzucht eines ideologisch verlässlichen Nachwuchses, sowohl in den NAPOLA-Eliteschulen als auch durch die Zuchtbordelle des „Lebensborns“.
Nein, nicht jeder in der SS war persönlich an einem Kriegsverbrechen beteiligt. Schließlich war das Angebot an Verbrechen weit umfangreicher. Und in der allgemeinen SS fanden sich unzählige deutsche Juristen und Mediziner… Doch auch der Buchhalter eines Mafia-Syndikats begeht persönlich keine Morde, trägt allerdings dazu bei, dass sie stattfinden können.
Aber Giles tut so, als hätte es das Verdikt des Nürnberger Gerichtshofs über die SS als verbrecherische Organisation nie gegeben, was bedeutet, dass schon die Mitgliedschaft selbst ein Verbrechen darstellt. Und als wäre die Waffen-SS weniger schlimm gewesen als die allgemeine SS.
Wenn man Menschen fragt, gleich in welchem Land (vielleicht abgesehen von der Ukraine), was für sie das Bild des menschlichen Bösen ist, dann ist das jemand in der Uniform der SS mit dem Totenkopfabzeichen. Dem Abzeichen, das zu den Wachmannschaften der KZs gehörte.
Nun, zwischen den anderen Teilen der Waffen-SS und der Totenkopf-SS gab es einen regen Personalaustausch. Genau so sind die berüchtigten ukrainischen Wachen nach Auschwitz gekommen. Wachen, die keineswegs aus einer „aus administrativen Gründen“ bei der SS angesiedelten Einheit stammten, sondern aus jener SS-Division Galizien.
Übrigens ist ein Kernpunkt des Nürnberger Urteils, dass der Krieg, der Europa von 1939 bis 1945 verheerte, selbst bereits ein Verbrechen war. Womit jeder einzelne Teilnehmer an Kampfhandlungen auf deutscher Seite Teilnehmer bei diesem Verbrechen war, was zumindest für Freiwillige im Grunde nicht bestritten werden kann. Die Angehörigen der SS-Division Galizien waren samt und sonders Freiwillige.
Interessant ist allerdings, dass Giles in seiner Apologie keine konkreten Bezeichnungen nennt. Nicht einmal „Division Galizien“.
„Wiederholte erschöpfende Untersuchungen – die Nürnberger Prozesse eingeschlossen, aber ebenso britischer, kanadischer und sogar sowjetischer Behörden – führten zu dem Schluss, dass von dieser spezifischen Einheit keine Kriegsverbrechen oder Gräueltaten begangen wurden.“
Wäre das eine ehrliche Aussage, würde er angeben, von welcher „spezifischen Einheit“ die Rede ist. Von der gesamten SS-Division? Oder meint er letztlich nur den Zug, dem der SS-Mann Hunka angehörte?
Er muss es im Ungefähren lassen, weil sonst Überprüfungen möglich wären. Und er lügt, wenn er von britischen und kanadischen Behörden schreibt. Die Briten haben schließlich die Angehörigen der SS-Division Galizien aus Rimini nach Kanada exportiert und damit der Strafverfolgung durch sowjetische Behörden dauerhaft entzogen, und die kanadische Regierung beschloss 1950 eine Amnestie für all diese Verbrecher – ohne zuvor im Detail untersucht zu haben, was sie getan hatten.
Aber was tut man nicht alles, wenn es darum geht, den Eindruck zu erwecken, ein SS-Mann sei nicht notwendigerweise etwas Böses. Die ersten US-Truppen, die in Europa landeten, hatten übrigens die Angewohnheit, alle, die die Blutgruppentätowierung der SS aufwiesen, sofort zu erschießen, ohne Prozess, auf der Stelle. Warum nur?
Giles gibt sich große Mühe, den Eindruck zu erwecken, Hunkas Unschuld sei bewiesen.
„Der polnische Bildungsminister scheint entschieden zu haben, erst Hunkas Auslieferung an Polen zu fordern, um danach feststellen zu wollen, ob er tatsächlich ein Verbrechen begangen hat.“
Giles tut so, als wäre das ein Skandal. Er scheint davon auszugehen, dass seine Leser allesamt vergessen haben, was Sinn und Zweck eines Gerichtsverfahrens ist: die Schuld oder Unschuld des Angeklagten festzustellen.
Infolge der Amnestie von 1950 ist ein Prozess in Kanada unmöglich. Ohne dass sich jemals irgendjemand bemüht hätte, die mögliche Schuld zu untersuchen. Womit man wieder beim schmutzigen Geheimnis des Westens wäre, das nicht nur Kanada betrifft, sondern auch die USA und ganz besonders die Bundesrepublik – dass sich schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg die Nazis und all ihre Hilfstruppen von Feinden in Verbündete verwandelten, und dass sich genau aus diesem Grund die Strafverfolgung ihrer Verbrechen in bescheidenen Grenzen hielt.
Das heutige Russland, so Giles, mache denselben Vorwurf wie die Sowjetunion im Kalten Krieg.
„Russland fühlt sich wohl damit, ‚Nazi‘ zu rufen, in der Ukraine oder andernorts, denn anders als Nazideutschland wurden die Führer und die Soldaten der Sowjetunion nie wegen ihrer Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt.“
Das ist schon fett, von einem Briten. Dresden, irgendwer? Oder braucht es ein längeres Gespräch über die britische Kolonialherrschaft in Indien? Wir können auch gern beim transatlantischen Sklavenhandel anfangen…
Giles tut schlicht alles, um den britischen MI6 in Schutz zu nehmen, der schließlich dafür gesorgt hat, dass die SS-Division Galizien in Kanada landete. Und schlimm für ihn ist nicht, dass deshalb das heutige Kanada einen SS-Mann ehrt, schlimm für ihn ist, dass „die Einladung unvermeidlich eine goldene Gelegenheit für die russische Propaganda liefert“. So wie es für ihn ebenfalls nicht schlimm ist, dass die britische Regierung Naziverbrecher gedeckt hat, sondern vor allem, dass schon die Sowjetunion immer wieder darauf hinwies.
Die ungeklärte Frage bleibt nur, warum der Springer-Konzern dem MI6 den Gefallen tat, dieses Machwerk zu veröffentlichen.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: Die Angeklagten im Kriegsverbrecherprozess in Rastatt, Dezember 1946
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-V02838 / CC BY-SA 3.0 de
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5437620