Friedenskampf darf KSZE-Prozess nicht aussparen!
von Prof. Dr. Anton Latzo
Rede, gehalten am 28.09.2023 auf der Internationalen Konferenz des Friedensrat e.V.
Wir begehen in diesem Jahr den 50sten Jahrestag der Eröffnung der KSZE in Helsinki (3. Juli 1973). Eigentlich eine Gelegenheit für Reflexion. Es stellt sich die Frage, warum Regierungen, Medien, Stiftungen, NGOs nichts dazu zu sagen haben (wollen).
Die Regierung der BRD hat bei ihrem Amtsantritt „Zeitenwende“ verkündet, und kürzlich die erste außenpolitische Strategie der BRD verabschiedet. Aber es herrscht Fehlanzeige, wenn es um die Erfahrungen aus dem KSZE-Prozess geht, der ja schließlich bisher historisch einmalig ist.
Meinungsmacher, NGOs, Denkfabriken, Stiftungen und dergleichen sprechen dafür über Westfälischen Frieden von 1648, Wiener Kongress von 1815, vom „europäischen Konzert“ usw.. Sie sprechen über Ereignisse, bei denen es Metternich und Co. darum ging, Versuche abzuwehren, die feudalen Verhältnisse abzulösen. Ist vielleicht auch bei den Apologeten kapitalistischer Verhältnisse die Erkenntnis gereift, dass sie heute mit einer ähnlichen Situation in Bezug auf den Kapitalismus konfrontiert sind? Oder wollen sie mit „Wissenschaft“ einfach ablenken?
Warum sonst zeigt man gegenüber den historisch neuesten Erfahrungen, den Erfahrungen des KSZE-Prozesses so wenig oder gar kein Interesse?
Ist die entlarvende Wirkung des Verlaufs und der Ergebnisse des KSZE-Prozesses und deren Analyse so stark, dass die Herrschenden sie fürchten müssen? Oder besteht die Gefahr, dass die Menschen – wenn sie den tatsächlichen Verlauf des KSZE-Prozesses zur Kenntnis nehmen – auch die Hintergründe der aktuellen Situation in Europa und in der Welt realistischer betrachten, Ursache und Wirkung besser einordnen können!
Oder geht es einfach um Verdummung der Menschen? Dafür gibt es zahlreiche Beispiele.
- Es wurde z.B. immer behauptet, dass die Existenz von entgegengesetzten Militärblöcken die Ursache für Spannungen und für Kriegsgefahr sei.
Nach 1990 hat sich die Warschauer Vertragsorganisation auf Grund von Druck und Verrat zwar aufgelöst. In Europa ist allein die NATO geblieben. Der Frieden wurde aber nicht sicherer! Im Gegenteil, er war weg.
- Die KSZE-Ergebnisse wurden durch die Pariser Charta (21.11.1990) offiziell annulliert, indem man einfach das, was nicht passte, wegließ oder verfälschte. Von der Helsinki-Schlussakte ist so gut, wie nichts übrig geblieben.
Folgt man der Diktion der offiziellen und offiziösen Erklärungen, könnte man annehmen, die KSZE-Konferenz wäre mit der Charta von Paris beendet worden. Es wird formuliert: „Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden“.
Wieso nur „künftig“? Beruhte denn Helsinki und seine Ergebnisse nicht auf Achtung? Warum wird nichts zum Prinzipienkatalog der KSZE-Akte gesagt? Wo bleibt das in Helsinki Vereinbarte und Praktizierte?
Hat man vielleicht Angst, wenn man die Prinzipien behandelt, dass damit deutlich wird, dass die „Regime-Change“-Maßnahmen in Osteuropa (ich nenne sie konterrevolutionär) gegen Geist und Buchstaben der Schlussakte der Helsinki-Konferenz durchgesetzt wurden?
Fest steht: die USA und die NATO-Mächte fühlten sich nach der Niederlage des Sozialismus in Europa und nach der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation nicht mehr an die während des Helsinki-Prozesses erarbeiteten Prinzipien gebunden. Deshalb konnte mit der Aggression gegen Jugoslawien der Krieg nach Europa zurückgebracht werden. Ist das „Achtung und Zusammenarbeit“, wie eben zitiert?
Die USA übernahmen die alleinige Führung. Neue Ordnungskriege in verschiedenen Teilen der Welt wurden Wirklichkeit.
Dabei setzten sie die NATO als ein Hauptinstrument ein. Der Konkurrenzkampf zwischen den imperialistischen Mächten spitzte sich zu. Russophobie wurde zur ideologischen Grundlage der Außenpolitik der NATO- und EU-Mächte und beherrschte die Aktivitäten der OSZE.
Die ideologische Auseinandersetzung wurde ausgeweitet. Die „Theoretiker“ der Konvergenz der Gesellschaftssysteme bemühten sich, den Menschen einzureden, dass der Kapitalismus seinen Ausbeutungscharakter überwunden habe bzw. überwinde. Das staatsmonopolistische Herrschaftssystem wurde in eine „pluralistische Demokratie“ umgefälscht, in der es keine Klassen und keinen Kampf zwischen ihnen mehr gäbe, sondern nur noch das Ringen der Interessengruppen um den Anteil am Sozialprodukt. Die Klassen wurden in „soziale Gruppen“ umgedeutet, aus der Klassenstruktur wurde die „soziale Gliederung“.
So wurde die Welt, in der Frieden und Sicherheit durchgesetzt werden sollte, in eine „klassenlose“ Welt umgedeutet, in der Frieden und Sicherheit vom Hegemon gewährleistet wird.
Es wurde ein falsches Bild von der Realität gezeichnet. Frieden und Sicherheit sei in dieser Welt durch Wohlstand und durch den Hegemon nach dem Muster des US-amerikanischen „way of Life“ zu gewährleisten.
Der Anspruch der KSZE, als Regulator der „Ost-West“-Auseinandersetzung (wie man es jetzt zu nennen pflegt) wurde damit beendet. Die „Chaos“-Theorie wurde in den USA erfunden und über Stiftungen und derartigen Strukturen in der Welt verbreitet und praktiziert.
Das war und ist die „Friedenspolitik“ a la NATO. Sie hat die Ergebnisse des Helsinki-Prozesses abgeschafft. Sie brachte „friedliche“ Bedingungen, aber nicht für die Völker und zwischen den Staaten, sondern für die Verwirklichung der Interessen des Kapitals. Sie schuf günstige Bedingungen für seine Expansion sowie zur neokolonialen Ausbeutung der Völker. Es durfte keine Macht geben, die die Hegemonie der USA in Europa und weltweit in Frage stellt!
Seit Ende der 1980er Jahre wurden diese Verhältnisse bestimmend für die Beziehungen zwischen den Staaten in Europa und darüber hinaus. Deshalb will man, dass die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa aus der Geschichte gestrichen bleibt.
Die Eliminierung der Ereignisse und Erfahrungen, die dem Frieden, der Sicherheit und Zusammenarbeit dienten und die Implementierung fortschrittsfeindlicher, russo- bzw. sinophober Positionen nannte und nennt man „entideologisierte Politik“! In der BRD sagt man auch „Sachpolitik“!
Auch M. Gorbatschow schrieb in seinem Buch „Perestroika“: „Es ist wichtig, über ideologische Unterschiede erhaben zu sein“. Notwendig sei „eine neue Art des politischen Denkens“, das „der Erkenntnis der gegenseitigen Abhängigkeit“ entspringt.
Weil der Widerspruch Kapitalismus – Sozialismus eliminiert wurde, war es leicht, sich zu einer friedlichen Koexistenz zu bekennen, die „einer Entideologisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen“, einem „politischen Herangehen an das Problem der Sicherheit, für Zusammenarbeit“ folgt.
Die Ergebnisse für die Sowjetunion, ihre Verbündeten und für den Frieden sind bekannt. Das sind Fakten, die auch heute berücksichtigt werden müssen.
Eines stimmt: es geht um „Sachpolitik“, um die Sache! Friedenspolitik muss dem Rechnung tragen, national und international! Wir brauchen auch national eine Parteien übergreifende Zusammenarbeit, die die Friedenskräfte zusammenführt.
Zweitens: es ist gut und notwendig, wenn die Friedensbewegung auf die Frieden gefährdende Ereignisse reagiert. Es ist aber unzureichend, auf einzelne Ereignisse zu reagieren, ohne sie in Zusammenhang mit den entscheidenden historischen Prozessen zu betrachten. Sie muss Prozesse und Probleme grundsätzlich analysieren und den Massen helfen, die tieferen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen. Wie wäre es, wenn beim Friedensrat oder woanders ein Gremium gebildet wird, das Diskussionen der Interessierten regelmäßig organisiert, um auch über strittige Fragen laufend und gemeinsam zu reflektieren. („Reflex – Diskussionsclub über Friedensfragen“.) Das könnte sich positiv sowohl auf die Reaktionsfähigkeit der Bewegung im antiimperialistischen Kampf und auf die Entwicklung der Bündnisses der Friedensfreunde sowie auf die Festigkeit des Bündnisses auswirken.
Der KSZE-Prozess mit seinen positiven Ergebnissen hat die Richtigkeit des ideologischen Kampfes gezeigt. Die Unvereinbarkeit der beiden Systeme und Ideologien war auch damals immer mit am Verhandlungstisch. Trotzdem war es möglich, Ergebnisse zu erzielen, die im Interesse aller beteiligten Staaten und deren Völker waren. Dazu gehört, dass zum Beispiel die Nachkriegsperiode zu einem gewissen Abschluss gebracht wurde, die Lage in Mitteleuropa (Oder-Neiße-Grenze, DDR, Münchener Abkommen, Westberlin-Frage) geklärt wurde. Und das geschah in Europa, das immer Hauptfeld der Systemauseinandersetzung war.
Die Lage änderte sich erst, als Gorbatschow die Führung der UdSSR übernommen hatte und die genannte Positionen durchgesetzt wurden. Jetzt ging die Sowjetunion auf Forderungen der NATO-Mächte ein, die sie bislang zurückgewiesen hatte. Sie zwang ihre Verbündeten, sich diesem Kurs anzuschließen.
Das Zustandekommen und der Verlauf der KSZE erbrachte den Beweis, dass es bei gutem Willen aller Beteiligten möglich ist, einen tragbaren Kompromiss zu schließen, der Vorteile für alle Seiten brachte. Vor allem war es so möglich, Bedingungen zu schaffen, die Sicherheit boten und Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil ermöglichten.
Die Berücksichtigung dieser Erfahrungen ist auch in Zusammenhang mit dem weiteren Ringen um eine Neue Weltordnung von nicht geringer Bedeutung. Der Erfahrungsschatz des KSZE-Prozesses ist jedoch für die konzeptionelle und praktische Arbeit an einer Neuen Weltordnung unersetzlich.
Dies betrifft vor allem die Fragen a) der Sicherheit der Staaten und Völker, b) die Wirksamkeit des Völkerrechts und c) die Erstellung eines verbindlichen Prinzipienkatalogs und d) Stärkung der UNO.
Die KSZE hat wichtige Grundlagen in allen diesen Fragen geschaffen. Es gilt, daran anzuknüpfen, sie zu erweitern und zu präzisieren und vor allem deren Durchsetzung und Einhaltung zu gewährleisten.
Dabei geht es um ein System von eindeutigen Verpflichtungen und konkreter Maßnahmen durch alle Staaten, die in den zwischenstaatlichen Beziehungen zur Ausschaltung der Anwendung und Androhung von Gewalt gewährleisten
Das umfasst ein Sicherheitssystem, Verpflichtungen der Teilnehmerstaaten, Maßnahmen, die Verzicht auf Anwendung und Androhung von Gewalt absichern, sowie Garantien, dass die betroffenen Staaten gegen jede Art von Aggression geschützt sind.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es schwer einen solchen Zustand vorauszusehen. Aber die KSZE hat zumindest den Anfang in diese Richtung beschritten und erste praktische Erfahrungen gesammelt, die nicht der Vergessenheit überlassen werden dürfen.
Der Verlauf des KSZE-Prozesses hat auch gezeigt, dass allein rechtliche Regelungen nicht ausreichend sind, für die Gewährleistung der Sicherheit der Staaten. Es bedarf konkreter Maßnahmen, die die Achtung der übernommenen Verpflichten gewährleisten.
Wie die Prinzipien, müssen auch die Maßnahmen universellen Charakter und das gesamte Feld der zwischenstaatlichen Beziehungen, die politischen, rechtlichen, militärischen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, umfassen.
Neben zahlreichen anderen Aspekten, möchte ich die Bedeutung der Erfahrungen unterstreichen, die von der KSZE bei der Erarbeitung der Normen und Verfahren für die multilaterale Verhandlungsführung und Beschlussfassung gesammelt wurden.
Dazu gehört das Recht jedes Staates an allen Verhandlungen und Beschlussfassungen gleichberechtigt teilzunehmen. Das schließt ein, dass die Verhandlungen und Aktionen außerhalb der Militärbündnisse stattfinden. Die Teilnahme der Staaten an den Arbeiten auf der Grundlage der souveränen Gleichheit hat die Anwendung des Konsensus zur Folge.
Der Anfang bei der Gestaltung des BRICS zeigt, ebenso wie der KSZE-Prozess, dass auch diese globale Struktur nicht durch einen einmaligen Akt geschaffen werden kann, sondern als Prozess gesehen werden muss. Er ist nicht das Ergebnis einer subjektiven Eingebung, sondern ergibt sich aus der Wirkung, aus dem Druck von Notwendigkeiten!!
Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass die USA ihr ganzes Potenzial und ihre Politik darauf ausrichten, das Ende der selbst konzipierten Hegemonie nach dem Motto zu vereiteln versuchen, dass alles so verändert werden muss, damit sich nichts ändert! (Biden)
Das bezieht sich auf die Eingrenzung Chinas und Russlands, die Begrenzung der Entwicklung der eigenen Bündnispartner, um in der Konkurrenz – nicht in der Zusammenarbeit – Sieger zu bleiben.
Das findet unter Bedingungen statt, unter denen die neuen Mächte in Asien, Afrika und Lateinamerika nicht mehr bedingungslos allen Vorgaben des Hegemons folgen. Die Aussage, dass Politik die Kunst des Möglichen ist, gewinnt unter solchen Bedingungen neue Valenzen. Man kann aber auch feststellen: Die Bedingungen für die Politik des Friedens, der Sicherheit und gleichberechtigten Zusammenarbeit verändern sich. Der Kampf wird aber nicht einfacher.
Lassen sie mich abschließend feststellen: Friedensbewegungen und die BRICS-Staaten müssen gleichermaßen die Lektion des KSZE-Prozesses lernen. Der KSZE-Prozess kann durch die BRICS revitalisiert werden!
Die Friedensbewegung wird nur so erfolgreich sein, wie sie auch diese Erfahrungen achtet.
Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: Die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975, ausgestellt im Haus der GeschichteBonn
Foto: Rabax63, CC BY-SA 4.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=72549056