Religions- & Kirchenkritik, Säkulare SzeneWeltanschauung & Philosophie

Gedanken über Religiosität

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-16, Dezember 2016, S. 18-27, 75. Jahrgang

von Jan Bretschneider

Das Jahr 2017 ist zum Lutherjahr deklariert worden. Es gilt u. a., das Wirken Martin Luthers und 500 Jahre Reformation christlicher Religion spontan und in sorgfältig gesetzte Rahmen zu würdigen. Themen wie z. B. religiöser Pluralismus, religionsbezogene Deutungsmacht und Deutungshoheit, Glaube und Unglaube, Religionswissenschaften und Religionspraktiken wurden und werden in den Mittelpunkt vieler Diskussionen gerückt.

Diese und weitere Aktivitäten können nur von statten gehen, wenn ein menschliches Persönlichkeitsmerkmal vorhanden ist, welches wir als Religiosität bezeichnen. Es muss demnach religiöse Menschen geben, solche, die sich auch selbst als religiös bezeichnen, so wie es die Moderatorin Sylvie Meis (2016) in einem Interview zu der Frage „Bist du ein religiöser Mensch?“ ausdrückt:

„Ja. Ich bin katholisch aufgewachsen. Auch wenn ich nur selten in die Kirche gehe. Um ein religiöser Mensch zu sein, muss man das nicht ständig. Ich gehe regelmäßig in mich und bete.“

In diesen Aussagen werden zwei Seiten von Religiosität offenkundig: Zum einen die innere Haltung, welche der religiöse Mensch für sich selbst in Anspruch nimmt. Zum anderen die nach außen gezeigte und kommunikativ gelebte Religiosität, mit der der Einzelne in den Sozietäten zur Wirkung kommt.

Verfolgt man die Logik des Gesagten, so muss es auch areligiöse (nichtreligiöse) Menschen geben, also solche, welche sich zu keiner Religion bekennen, keine Religiosität zeigen. Daraus folgt jedoch nicht, dass Areligiöse mit der Religion „gar nichts am Hut haben“! Es gibt vielmehr genügend solche Menschen, die sich auf seriöse Weise mit Religion beschäftigen und sie zum Gegenstand von persönlichen und öffentlichen Auseinandersetzungen machen.

Das bisher Ausgeführte provoziert Fragen, z. B.:

  • Was ist Religiosität?
  • Welche evolutionären Wurzeln hat Religiosität?
  • Welche Bedeutung kommt Religiosität zu?
  • Wie wird Religiosität gelebt?

Im Folgenden wird den Fragen nachgegangen und versucht, einige Antworten darauf  zu finden. Der Plural sei betont. Das gilt nicht nur in grammatischer Hinsicht, sondern vor allem inhaltsbezogen. Wir begeben uns in die Pluralität der Antworten, die mitunter sogar konträrer Natur sind.

 

 

Was ist Religiosität?

Die grundlegende Feststellung zuerst: Es gibt keine allgemeine, umfassend akzeptierte Definition für den Begriff! Wahrscheinlich geht es den mit Religiosität befassten Wissenschaften wie der Biologie. Hier streitet man sich seit mehr als einem Jahrhundert um eine allseitig akzeptable Definition der biotischen Art. Daraus folgt sinnvollerweise, einige Definitionen vorzustellen und auf ihren Gehalt zu prüfen.

Zunächst etwas zur Etymologie des Wortes.

Religiosität hat genau wie Religion lateinische Wurzeln. Religio kann u. a. übersetzt werden mit Gottesverehrung, Gottesfurcht, Heiligkeit, Frömmigkeit, Glaube. Religiosus bedeutet z. B. heilig, fromm, gottesfürchtig. Und religare hat die Bedeutung von binden und verbinden.

Allerdings bewegen sich die Definitionen für Religiosität nur noch teilweise im Bereich ihrer Etymologie.

Unter Religiosität kann man ein Kennzeichen, eine Persönlichkeits-Eigenschaft von Menschen fassen, welche eine Religion vertreten und/oder ausüben. (Bretschneider 2000/2015)

In Anlehnung an den Religionsbegriff lässt sich Religiosität als das Aneignen und Vertreten einer Weltanschauung „aus dem Glauben und die Lebensführung aus dem Verbundenheits-, Abhängigkeits- und Verpflichtungsgefühl gegenüber Gott als der geheimnisvollen, haltgebenden und zu verehrenden Macht“ definieren. (Wörterbuch d. philos. Begriffe S. 525)

Diese Definition enthält eine Einschränkung durch den Bezug auf Gott. Nicht auf einen beliebigen, sondern den christlichen Gott, da Name und Artikel fehlen. Religiosität ist jedoch Grundlage für das Fungieren jeglicher Religion. Außerdem werden der Polytheismus und solche Religionen ausgeklammert, die ohne einen Gott auskommen.

Hans-Ferdinand Angel offeriert einen Definitionsvorschlag, der diese Schwächen nicht aufweist:

„Religiosität ist jene biologisch grundgelegte Ausstattung des (aller?/vieler?) Menschen, die eine ganzheitliche, d. h. von der ganzen Persönlichkeit (emotional, kognitiv, wert- und orientierungsmäßig) getragene und – weil als transzendent fundiert erlebt – nicht mehr überbietbare Welt- und Selbstdeutung sowie Selbsthingabe ermöglicht.“ (S. 13)

 

Bei Wikipedia liest man:

„Religiosität bezeichnet (im deutschen Sprachraum) die aus tiefer Ehrfurcht vor der Ordnung und Vielfalt in der Welt entstehende universale menschliche Empfindung, dass alles letzten Endes auf einer ganzheitlichen, jedoch transzendenten (nicht erklär- oder beweisbaren) Wirklichkeit beruht. Hinzu kommt die Fähigkeit oder Eigenschaft, sich im Erleben, Denken, Fühlen und Handeln auf diese Transzendenz zu beziehen; häufig verbunden mit dem inniglichen Wunsch nach Erleuchtung und der Hinwendung zu einer konkreten Religion.“ …

„Religiosität bezeichnet im Verständnis der Theologie die Fähigkeit des Menschen, sich der Vorstellung von einer Wirklichkeit im Jenseits bzw. des Transzendenten zuwenden zu können und dabei dieser Wirklichkeit mit Zustimmung zu begegnen.“

Die wenigen Definitions-Beispiele illustrieren ein wenig den Ursprung des Begriffes Religiosität. Er entstand im 18. Jahrhundert aus dem philosophischen Interesse, solche Elemente aufzufinden, welche die gemeinsame Basis für alle Erscheinungsformen von Religion bilden. Die Bezeichnung als menschliche Persönlichkeitseigenschaft, als Form der Weltanschauung und ihre Transzendenz wären als solche Basiselemente anzusehen.

 

Welche evolutionären Wurzeln hat Religiosität?

Es wird behauptet: Ein religionsloses Volk ist der heutigen Religionsethnologie nicht bekannt. Gehört also Religion und damit Religiosität zur biotischen Ausstattung des Menschen, jedes Menschen? Anders gefragt: Gibt es den Homo religiosus?

Antworten darauf fallen differenziert aus. Einerseits ist man geneigt, das Entstehen von Religiosität allgemein der Anthropogenese zuzuordnen. Damit würde dieser Prozess zur biotischen Evolution jedes Menschen gehören. Andererseits gibt es Positionen, welche die Religiositäts-Genese der Soziogenese, anders ausgedrückt der kulturellen Evolution von Menschen zuordnen.

Der katholische Theologe und Unternehmer Ulrich Hemel (1988, 2002) lässt die Hypothese zu, „dass Religiosität als die Fähigkeit zu religiöser Selbst- und Weltdeutung in vorgegebenen theologischen und soziologischen Kontexten zur biologischen und anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehört.“ Er geht davon aus, dass Menschen einem „Weltdeutungszwang“ unterliegen, den sie bei Strafe ihres Unterganges einhalten müssen. Allerdings schränkt er widersprüchlich ein, die anthropologisch vorgegebene Weltdeutungskompetenz könne auch zu nichtreligiösen Formen der Selbst- und Weltdeutung führen.

Somit kann man zunächst konstatieren, Religiosität als eine Eigenschaft anzusehen, die allen menschlichen Individuen zukomme. Da diese Eigenschaft bei Tieren und Pflanzen bisher nicht beobachtet wurde, müsste es sich um ein für die Art Mensch typisches Merkmal handeln. Träfe das zu, würden die Wurzeln von Religiosität in der biotischen Beschaffenheit des Menschen zu suchen sein.

Eine solche Position stützt z. B. der amerikanische Soziobiologe Edward Wilson, wenn er schreibt:

„Die Prädisposition zu religiösem Glauben ist die komplexeste und mächtigste Kraft des menschlichen Geistes und aller Wahrscheinlichkeit nach ein unauslöschlicher Bestandteil der menschlichen Natur.“ (1980, S. 160)

Der Biophilosoph Eckart Voland (2010) betrachtet die Angelegenheit differenzierter:

„Religiöse Lebensvollzüge speisen sich aus dreierlei Quellen … Da ist zunächst die Naturgeschichte, die die Religionsfähigkeit des Menschen hervorgebracht hat. Damit ist die mentale Fähigkeit, fromm sein zu können (oder kurz: Religiosität) gemeint. Dann gibt es die Individualgeschichte oder Ontogenese, deren Umstände die individuell variierende Manifestation, also die unterschiedliche Ausprägung von Frömmigkeit, erklärt und schließlich gibt es die Kulturgeschichte, die die symbolische Nische in der Gesellschaft formt, in der sich die Entwicklung von Religiosität zu Frömmigkeit vollzieht und die darüber entscheidet, in welcher konkreten Religion individuelle Frömmigkeit ihren Platz findet.“ (S. 31)

Diese und weitere Argumente, welche Voland anführt, lassen den Schluss zu, dass es sich bei der Religiosität um einen Komplex evolutionärer Angepasstheiten handeln könnte. Dabei würden biotische und gesellschaftliche Faktoren wirken, so wie das auch in der gesamten Anthropogenese nachgewiesenermaßen der Fall ist.

Auf einer solchen Basis sieht Hemel eine elementare religiöse Lernfähigkeit. Diese ist wiederum Grundlage für religiöses Lernen, für das Entwickeln religiösen Bewusstseins und für die Ausprägung vielseitiger Formen individueller persönlicher Religiosität. Das geschieht allerdings nicht automatisch von selbst. Der Prozess wird vielmehr gesellschaftlich gesteuert durch religiöse Erziehung (Leben von Religion in der Familie, Religionsunterricht in Schulen) mit dem Ziel des Herausbildens religiöser Kompetenz.

Mit dieser Sichtweise befinden wir uns also im Bereich der organisierten Lebensweise von Sozietäten, genauer gesagt im Bereich der Kultur. Dabei hat „ein erweiterter Kulturbegriff nicht mehr nur für Literatur und Kunst zu stehen, sondern ebenso für Lebensstil, Werte und Überzeugungen.“ (Ayyash 2016) Genau dort wäre die Herausbildung einer individuellen Religiosität einzuordnen, basierend auf den biotisch begründeten mentalen Voraussetzungen des einzelnen Menschen, die Lernoffenheit für religiöse Inhalte ausnutzend. So sieht es beispielsweise Ulrich Lüke, indem er die These vertritt:

„In der menschlichen Individualentwicklung gibt es besondere prägungsähnliche sensible Phasen, deren eine der Fixierung einer irgendwie gearteten, allgemeinen und unspezifischen Religiosität dient.“ (1993, S. 42)

Lükes Formulierung suggeriert einen möglichen Automatismus beim Herausbilden von Religiosität. Das trifft jedoch keinesfalls zu. Selbstverständlich sind aus Forschungen der Tier- und Humanethologie sensible Phasen bei Jungtieren und Säuglingen bekannt, in denen eine Prägung stattfindet. Wenn es also eine solche sensible Phase für Religiosität geben sollte, so muss die Prägung darauf von außen induziert werden. Wer aber sollte so etwas tun, wenn nicht andere Menschen? Wobei wir wieder im gesellschaftlichen, kulturellen Bereich angekommen wären. Und dieser enthält auch die Möglichkeit, dass Menschen noch in fortgeschrittenem Alter Religiosität erwerben, sich dieser aber auch (wieder) entledigen können.

 

Suchen wir nach dem Ursprung von Religiosität, so liegt es nahe, diesen aus protokulturellen Aktivitäten unserer nächsten lebenden Verwandten, den Menschenaffen, abzuleiten. In noch stärkerem Maße kämen hierfür die Vorstellungen aus der Lebenssphäre unserer direkten Vorfahren in vorgeschichtlicher Zeit in Frage: der Totenkult, Atem und Blut als Träger der Seele, die Geisterfurcht, die Ohnmacht und Angst der frühen Menschen gegenüber Naturvorgängen und deren Mystifizierung.

Das bisher Dargestellte führt zu einer möglichen Antwort auf die Frage – bei Angel bereits angedeutet: Ist Religiosität allen Menschen eigen oder sind Einschränkungen zu berücksichtigen?

Man kann davon ausgehen, dass Menschen grundsätzlich eine physische und psychische Prädisposition für Religiosität aufweisen, sofern keine diesbezüglichen Defizite vorliegen. Inwieweit jedoch diese „Anlage“ ausgeformt wird, hängt von einem Komplex gesellschaftlicher und individueller Bedingungen ab, wie also konkrete Kultur mit Religiösem umgeht. Schließlich gibt es eine erhebliche Anzahl nichtreligiöser Menschen, welche ihren „Weltdeutungszwang“ auf andere Weise realisieren. Und sie sind wohl im Allgemeinen ebenso erfolgreich wie Personen mit Religiosität.

 

Welche Bedeutung hat Religiosität?

Um Funktionen und Bedeutung von Religiosität zu erfassen, ist es sinnvoll, etwas über die Entwicklungstendenzen von Religiosität in der neueren Zeit zu erfahren. Hierzu gibt es mindestens zwei konträre Auffassungen.

Horst Schild und Ralf Lux meinen:

„Global betrachtet erleben derzeit Religiosität und Religionen einen Aufschwung. Und das in vielfältigen Formen. Ausnahmen bilden allenfalls West- und Mitteleuropa und einige Teile Südosteuropas.“ (2016 S. 1)

Gestützt auf Ergebnisse von Studien behauptet Florian Rötzer:

„Die Zahl der Religiösen schwindet, aber bevor die Nichtreligiösen die Mehrheit bildet, wächst die Zahl der ‚fuzzy Christen’.“ Das sind solche Menschen, für die Religion kaum mehr eine Rolle spielt, nominelle Christen, die man eigentlich nicht als religiös  bezeichnen kann. Rötzer weiter:

„Als Trend für die letzten 200 Jahre seit Beginn der Säkularisierung sei zu beobachten, dass die Zahl der Religiösen schneller fällt, als die der Nichtreligiösen zunimmt, die weiter eine Minorität bleiben.“ Allerdings folgt die Einschränkung, die Aussage beträfe nur den konventionellen christlichen Glauben, nicht aber den muslimischen!

Eine repräsentative Umfrage des Gesundheitsmagazins „Apotheken Umschau“ 2015 unter 2151 Gewährspersonen der BRD ergab u. a.: Nur 46,4 Prozent schätzt sich selbst als gläubig ein. 55,7 Prozent sagten aus, dass sie keinerlei Glaubensrituale pflegen.

Dem gegenüber berichtet Bengt Arvidsson (2015), laut einer aktuellen Umfrage der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ sind Einwanderer mit muslimischen Wurzeln heute viel religiöser als vor zehn Jahren. Signifikant gestiegen ist die Zahl der Muslime, die Kopftuch-Tragen, Befolgen der Anleitungen des Koran und häufiges Beten für bedeutungsvoll halten. Daraus folgt, dass die dänischen Muslime sowohl im Glauben als auch in der Praxis religiöser geworden sind. Dieser Zustand wird als „Trotzreaktion“ gewertet; die Ursache hierfür sieht man darin, dass Muslime von der dänischen Gesellschaft ökonomisch und kulturell diskriminiert werden.

Der Journalist Ingolf Bossenz (2015) bringt die Stellung des Islam mit aller Konsequenz auf einen Punkt:

„Tatsache ist, dass der Islam in der heutigen Welt die glaubensstärkste und in Qualität wie Quantität wirkmächtigste identitätsstiftende Religion darstellt. Letzteres Spezifikum ist dem Christentum, zumindest in Europa, weitgehend abhanden gekommen. Und eine Religion, die keine Identität mehr stiftet, ist überflüssig. Sie hat ihre Schuldigkeit getan, sie kann abtreten. Doch sie hat Dank verdient: seitens des Islam, seiner Anhänger, Führer und Institutionen. Denn das Wohlwollen, die Toleranz, der Respekt, die Willkommenskultur (gäbe es diese nicht, würde wohl keine muslimische Massenzuwanderung stattfinden), auf die Muslime in Deutschland treffen, sind letztlich das Ergebnis einer jahrhundertelangen christlichen Kulturation und Sozialisation.“

Aus all dem ergibt sich deutlich: Religion und Religiosität befinden sich in einer Wechselwirkung, auf der ihre Funktionen beruhen, ohne identisch zu sein.

[Auszug]
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 Jan Bretschneider: Gedanken über Religiosität (Auszug aus FREIDENKER 4-16, ca. 180 KB)


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