Auch kritische Köpfe sind längst glattgebügelt
Wollen wir über die Corona-Politik sprechen? Über den Klimawandel? Oder gleich über den Ukraine-Krieg? Das wirkliche und grundlegende Hinterfragen und Infragestellen der uns täglich aufgetischten Erzählungen ist faktisch nicht mehr möglich. Auch nicht in den Köpfen.
Von Tom J. Wellbrock
Erstveröffentlichung am 05.08.2023 auf RT DE
Noam Chomsky hat das Problem, dem wir ausgesetzt sind, auf einen prägnanten Punkt gebracht:
„Der schlaueste Weg, Menschen passiv und gehorsam zu halten, ist, das Spektrum an akzeptabler Meinung streng zu beschränken, aber eine sehr lebhafte Debatte innerhalb dieses Spektrums zu ermöglichen – sogar die kritischeren und die Ansichten der Dissidenten zu fördern. Das gibt den Menschen ein Gefühl, dass es ein freies Denken gibt, während die Voraussetzungen des Systems durch die Grenzen der Diskussion gestärkt werden.“
Tatsächlich sind wir mittendrin in diesem Dilemma. Denn auch kritische Köpfe beginnen ihre Argumentation meist nach folgendem Muster:
„Natürlich war Corona eine gefährliche Krankheit, aber …“
Oder:
„Ich bezweifle nicht, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt, aber …“
Oder:
„Selbstverständlich handelt es sich um einen brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine, aber …“
Mit solchen und ähnlichen Formulierungen beginnt die Schere im Kopf, ihre Arbeit zu verrichten. Bestimmte Prämissen zweifeln selbst die progressiven und fortschrittlichen Menschen einfach nicht mehr an.
Dabei sollte uns bewusst sein, dass die Narrative alles andere als in Stein gemeißelt sind. Nehmen wir doch die genannten Eingangssätze und erwidern etwa:
„Wie gefährlich Corona war, ist nach wie vor kaum erforscht. Es deutet aber vieles darauf hin, dass insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen wirklich gefährdet waren. Die Behauptung, es handele sich um eine weltweite und für alle Menschen tödliche Krankheit, muss hinterfragt werden.“
Und:
„Es gibt zahlreiche Stimmen, denen man eine hohe Kompetenz zusprechen kann, die nicht davon ausgehen, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Viele Daten, die teils sehr weit zurückreichen – etwa Eisbohrkerne – und die auch andere Schlüsse zulassen als die weit verbreitet geäußerten, sollten genau analysiert werden.“
Und:
„Man kann aus völkerrechtlicher Sicht den Einmarsch der Russen in die Ukraine auch als Verteidigungsmaßnahme bezeichnen, da erstens der Donbass seit 2014 durch die West-Ukraine massiv angegriffen wurde, und zweitens, weil aus Moskau über viele Jahre die vehemente Bitte vorgetragen wurde, für die Ukraine eine für alle Beteiligten zufriedenstellende friedliche Lösung zu finden. Diese Hintergründe sollten in die Gesamtbewertung einfließen.“
Dank der wiederholten Erzählungen bestimmter Prämissen sind diese beschriebenen Perspektiven faktisch nicht zugelassen, verboten auch nur gedacht, geschweige denn ausgesprochen zu werden. Unterstellt wird so etwas wie die absolute Wahrheit, die indiskutabel ist. Man darf sich zwar – getreu dem Gedanken von Noam Chomsky – über bestimmte Dinge kritisch austauschen, doch die Debatte beginnt nicht bei null, sondern ein paar Stufen darüber. Dadurch entsteht ein Denkverbot von gewissen Richtungen und Anschauungsversuchen, das die gesamte Diskussion vergiftet.
Es ist noch schlimmer
Nun sind wir aber längst an einem Punkt, an dem das Spektrum akzeptabler Meinungen immer weiter eingeschränkt wird. Womöglich sind wir über das Niveau hinaus, das Chomsky meinte, denn insbesondere am Streit um den Ukraine-Krieg lässt sich ablesen, dass das Spektrum unterschiedlicher Meinungen in erheblichem Maße eingeschränkt wurde.
Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Jeder Versuch, eine friedliche Lösung in der Ukraine ins Spiel zu bringen, erfährt so heftigen Gegenwind, dass der eine oder andere wahrscheinlich sogar gegen seine eigene Überzeugung vorgegebene Narrative vertritt, um überhaupt noch zu Wort zu kommen. Nur hilft ihm diese Art der Diplomatie auch nicht weiter, denn die Grenzen dessen, was gesagt werden kann, werden immer enger gesteckt. All die Diplomatie führt also nicht weiter.
Ein Grundproblem ist dabei, dass viele Geschichten nicht von Anfang an erzählt werden. Wir – das heißt die Politik und die Medien – steigen erst in das Geschehen ein, wenn ein bestimmter Punkt auf der Zeitschiene erreicht wird. Beim Ukraine-Krieg war das der 24. Februar 2022. Jede (neue) Erzählung begann mit diesem Datum. Auch Informationen aus der Zeit davor, die offen zugänglich waren und die ein anderes als das aktuelle Bild der Ukraine und ihrer geopolitischen Rolle zeichneten, wurden faktisch bedeutungslos.
Wie absurd diese Herangehensweise ist, zeigt unter anderem Georg Restle, der vor 2022 zusammen mit seinem Team einige faschistoide bis faschistische Vorkommnisse in der Ukraine recherchiert und aufgedeckt hatte, von denen er nun aber nicht nur nichts mehr wissen will, er tut so, als habe es diese Recherchen und deren Ergebnisse nie gegeben. Er erzählt die „neue“ Geschichte mit voller Überzeugung, und man kratzt sich verwundert am Kopf, wenn man die Zeitdokumente aus der Feder Restle miteinander vergleicht.
Restles Verhalten lässt sich aber erklären. Er hat sich eingereiht in die Gruppe der Hardliner, der russophoben Propagandisten und der Kriegsverlängerer. Die Frage, wie er diese 180-Grad-Wandlung mit seinem Gewissen vereinbaren kann, lasse ich an dieser Stelle aus, nur er selbst kann sie beantworten.
Doch Restle muss sich nicht nur sich selbst gegenüber verantworten. Denn seine gedankliche Umkehr vom investigativen Journalismus zum Verbreiter kriegerischer Propaganda hat gesellschaftliche Auswirkungen. Er unterstützt die Meinungsmache der Mächtigen und blockiert die Möglichkeit, ergebnisoffen zu diskutieren. Restle ist ein wichtiges Zahnrad in der Maschinerie der Propaganda.
Das Problem in der Praxis
Es ist ernst, denn wir sind an einem Punkt, an dem gewisse Diskussionsstufen nicht mehr zugelassen werden und Prämissen als unhinterfragbar gelten, die zu hinterfragen so wichtig wäre. Wenn man sich mit bestimmten „Wahrheiten“ einfach abfindet, läuft man Gefahr, die daraus entstehenden Schlüsse falsch zu interpretieren.
Konkret: Wir gehen davon aus, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Diese Annahme wird als absolut gesetzt und darf nicht bezweifelt werden. Daraus folgen im Falle Deutschlands Maßnahmen, die dem Klimawandel entgegenwirken sollen. Doch die wiederum daraus entstehenden Konsequenzen blenden wir aus. Entgegen dieser Praxis stellen sich einige Fragen, die zielführend für die Lösung des Grundproblems sind:
- Ist es denkbar, dass der Anteil des Menschen am Klimawandel geringer ist als angenommen?
- Ist es denkbar, dass sich das Klima völlig losgelöst vom menschlichen Zutun verändert?
- Ist es denkbar, dass die Erhöhung der Temperaturen auch positive Folgen haben kann?
- Ist es denkbar, dass als bewiesen dargestellte Fakten nach einer erneuten Prüfung zu anderen Ergebnissen führen?
- Ist es denkbar, dass die Maßnahmen, die ergriffen werden, negativere Auswirkungen haben als die befürchtete Gefahr, die vom Klimawandel ausgeht?
- Ist es denkbar, dass die Gefahren des Klimawandels aufgrund der Interessenlagen bestimmter Gruppen und/oder Institutionen dramatisiert werden?
- Ist es denkbar, dass schon den Grundannahmen Fehler zugrunde liegen?
- Ist es denkbar, dass die gewählten Maßnahmen durch andere ersetzt werden können?
- Ist es denkbar, den Klimawandel durch entsprechend angepasstes Verhalten und angepasste Technologien positiv zu nutzen, um Verbesserungen herzustellen?
Diese Fragen werden im öffentlichen Diskurs nicht mehr zugelassen, weil die geltenden Annahmen als bewiesen dargestellt werden. Fügen wir an dieser Stelle eine These hinzu, die naturgemäß nicht bewiesen, aber diskussionswürdig ist:
Der Klimawandel passiert völlig unabhängig vom Verhalten des Menschen. Er lässt sich nur in einem Maße beeinflussen, das keinerlei konkrete Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Temperaturentwicklung hat.
Man muss es so nüchtern sagen: Wir können nicht sagen, ob es so ist oder nicht. Zwar wird uns täglich das absolute Wissen vorgegaukelt, doch die Teilnehmer dieser Erzählungen sind immer dieselben Politiker und Wissenschaftler, ergänzt durch Aktivisten, die in der Regel von der Thematik fast nichts verstehen und sich ihrerseits auf Wissenschaftler und Politiker berufen, die wiederum selbst entweder nicht vom Fach sind oder für ihre Haltung bezahlt werden.
Ähnlich wie bei Corona wird auf militante Art und Weise eine Wahrheit postuliert, die es so nicht gibt, nicht geben kann, wenn man die viel zitierte Wissenschaft ernst nimmt. Der Unterschied zwischen zum Beispiel Corona und dem Klimawandel ist der, dass die Erzählung viel länger aufrechterhalten bleiben kann, ohne als Lüge entlarvt oder als Irrtum nachgewiesen zu werden. Daher ist davon auszugehen, dass auch künftig Narrative gewählt werden, die sich erst nach einem langen Zeitraum überprüfen lassen. Bis es so weit ist, bleibt die „Wahrheit“ in Stein gemeißelt.
Wir befinden uns in einem Käfig des Denkbaren, dessen erste Eigenschaft darin besteht, durch die Akzeptanz dieses Käfigs unseren Bewegungsspielraum selbst einzuschränken. Es führt zu nichts, bringt uns nicht weiter, sondern lässt uns stagnieren und sogar rückwärtsgewandt denken und handeln. Durch das mit der inneren Schere im Kopf ausgesprochene Denkverbot und die Weigerung, uns dargebotene Erzählungen von Grund auf kritisch zu hinterfragen, behindern wir unsere Entwicklungsfähigkeit und unterstellen etwas Gleichbleibendes, Verlässliches, das nicht existiert.
Die allgemeine Prämisse müsste sein, dass es keine Behauptung gibt, die nicht hinterfragt werden darf. Ohne diese Prämisse schrumpfen wir unser Denken, wir zerstören aber auch unsere Fantasie und berauben uns der gedanklichen Freiheit, die so wichtig ist, um sich weiterzuentwickeln. Wer diese Voraussetzungen des freien und ergebnisoffenen Denkens zu unterdrücken versucht, hat keine guten Absichten, er will lediglich seine durch vermeintliches Wissen aufgebaute Macht ausbauen.
Dies gelingt am besten, wenn es Dinge gibt, die nicht hinterfragt, die nicht diskutiert, die nicht widerlegt werden dürfen. Doch die Widerlegung ist das Prinzip der Wissenschaft, sie führt zum Erfolg des Denkens. Die Widerlegung muss der menschliche Wunsch sein, um Irrtümer zu erkennen und eingeschlagene Wege zu verlassen, wenn sie in eine falsche Richtung führen. Die ewige Bestätigung der eigenen Annahmen führt nicht nur zur geistigen Bewegungslosigkeit, sie verstetigt Fehler, die zu erkennen man sich weigert.
Der kluge Kopf denkt weiter
Für die (vermeintlich) kritischen Köpfe beginnt die Arbeit mit der eigenen Erlaubnis von Zweifeln an den als unverrückbar geltenden Prämissen. Wer sich beispielsweise beim Thema des Ukraine-Krieges darauf einlässt, die Zeit vor dem russischen Einmarsch aus seinen Überlegungen und (nicht weniger wichtig) seinen Argumenten herauszulassen, kann nur oberflächlich argumentieren.
Der Wunsch, die Forderung nach Frieden, Waffenstillstand und Verhandlungen erzeugt einen faden Beigeschmack, wenn der Weg, der zur aktuellen Situation geführt hat, unterschlagen wird. Das ist bedeutsam, denn die Aussage „Putins Krieg“ funktioniert nur, wenn man die Geschichte dahinter weglässt. Findet sie dagegen Berücksichtigung, kann die Behauptung, es sei „Putins Krieg“ in dieser Form nicht mehr funktionieren. Ein Blick auf die historische Entwicklung, die in diesem Krieg mündete, verbietet die pauschale Einordnung des Kriegsgrundes auf eine Partei oder gar Person. Diese Oberflächlichkeit kann nur aufrechterhalten werden, wenn die Geschichte verkürzt und verfälscht wird.
Das Prinzip gilt für andere Themen ebenso. Es war gerade die Einäugigkeit, die in der Coronazeit dazu geführt hat, bestimmte Aspekte als „hinterfragungsverboten“ bezeichnen zu können, was dann zu den fatalen Auswirkungen der politischen Maßnahmen geführt hat. Bei Corona ging es weniger um historische Zusammenhänge (wenngleich auch die zu wenig Raum bekommen haben) als um den eingeschränkt zugelassenen wissenschaftlichen Raum, der zur Begrenzung der denkbaren Optionen geführt hat. Die wenigen, denen dieser Raum zu klein war, die die Perspektive erweitern wollten, wurden auf aggressive Weise mundtot gemacht, diffamiert, beleidigt, entwürdigt und/oder gefeuert.
Die Einengung des Debattenraums und das ausgesprochene oder unausgesprochene Verbot unerwünschter Gedanken und Ansätze, wird immer dazu führen, destruktiv zu agieren, es ist gar nicht anders möglich. Es zeugt zudem von einer unfassbaren Ignoranz und Arroganz, ungesichertes Wissen als eine Art gesellschaftliches und politisches Axiom zu verkaufen.
Es ist nicht einmal das, was geschehen ist und versäumt wurde, was so besorgniserregend ist, es ist vielmehr die Tendenz, diese Versäumnisse auch künftig zu wiederholen und sogar zu steigern. Für den Debattenraum gilt also, dass er stetig enger wird. Das ist der Weg in den Totalitarismus, und zwar nicht in der abgeschwächten Form wie jetzt, sondern auf ganzer Linie.
Am Ende wird durch diese Entwicklung jeder betroffen sein, auch die, die sich jetzt in Sicherheit wähnen. Wir müssen uns fragen, ob wir das wirklich zulassen wollen.
Tom J. Wellbrock ist Texter und Sprecher und betrieb gemeinsam mit Jens Berger den Blog Spiegelfechter. Aktuell betreibt er gemeinsam mit Roberto J. De Lapuente den Blog Neulandrebellen.de sowie den Telegram-Kanal „Randnotizen aus der Mitte„.
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