Gestalter einer menschlichen Gesellschaft und Wegbereiter des Sozialismus
Zum 50. Todestag von Walter Ulbricht
von Anton Latzo
Erstveröffentlichung in der UZ vom 28.07.2023
Zur Persönlichkeit Walter Ulbrichts, zu seinen Zielen und seinem Wirken gibt es zahlreiche Äußerungen. Aber nur wenige von ihnen würdigen ihn als historische Persönlichkeit der deutschen Geschichte und der Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Geboren wurde er am 30. Juni 1893 in Leipzig. Er erlebte den Ersten Weltkrieg, war Teilnehmer der Novemberrevolution und aktiv am Aufbau der KPD beteiligt. Er war Parteifunktionär in der Weimarer Republik und gehörte zu den Kämpfern gegen den Faschismus – in der Illegalität und in den sowjetischen Schützengräben während des Zweiten Weltkriegs. Nach Deutschland zurückgekehrt, war er im Sinne der besten Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung und damit für ein besseres Leben der Menschen, für Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt aktiv. Der hervorragende Gestalter und Repräsentant der DDR und des Sozialismus starb am 1. August 1973.
Leben und Werk Ulbrichts widerspiegeln die widerspruchsvolle Entwicklung der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung seit ihrem Entstehen. Seine Biografie illustriert einen großen Teil der Kämpfe und Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Jede Etappe vermittelt Erkenntnisse, die auch heute verwertbar sind.
Frühe Jahre
Schon während des Ersten Weltkriegs war Ulbricht an der Seite von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als Gegner der imperialistischen Kriegspolitik des deutschen Monopolkapitals und der von der damaligen Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie befürworteten Kriegskredite politisch aktiv. Gemeinsam mit jungen Leipziger Sozialdemokraten trat er gegen den Verrat des SPD-Parteivorstands am Marxismus und am proletarischen Internationalismus auf.
Im Januar 1919, wenige Tage nach dem Gründungsparteitag der KPD, gehörte Ulbricht zu den Begründern der kommunistischen Parteiorganisation in Leipzig. Danach war er aktiv und führend am Aufbau der KPD in Sachsen und Thüringen sowie schließlich in Berlin beteiligt. Mit Wilhelm Pieck, Clara Zetkin und anderen wurde er in die Zentrale der KPD gewählt, der er bis zuletzt angehörte.
Schon 1921 gehörte Ulbricht auf dem VIII. Parteitag zu denjenigen, die die Grundsätze der Einheitsfrontpolitik der Partei verteidigten. In den vom Parteitag beschlossenen Leitsätzen heißt es dazu: „Die Kommunisten sind zu jeder Stunde bereit, mit allen Proletariern und allen proletarischen Parteien den Kampf für die Interessen des Proletariats zu führen.“ Die Leitsätze bekräftigten die prinzipielle Bereitschaft der KPD, unter bestimmten Bedingungen auch in eine Regierung mit anderen Parteien einzutreten. Sie hoben dabei zugleich den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Charakter einer Arbeiterregierung und der sozialdemokratischen Koalitionspolitik hervor.
Gestützt auf die Lehren aus den Märzkämpfen 1921 und auf die Erfahrungen, die er selbst seit 1922 in der Thüringer Parteiorganisation beim Aufbau der Betriebszellen gewonnen hatte, stellte Ulbricht im Mai 1923 im Rahmen einer Sitzung des Zentralausschusses der KPD in einem Referat fest, dass nur eine fest in den Betrieben verwurzelte revolutionäre Partei das Vertrauen des Proletariats gewinnen, die Einheitsfront herstellen und die breiten Massen der Arbeiter und Bauern zum Kampf um die Macht führen könne.
Auf diesem Wege wurde Ulbricht in den folgenden Jahren zu einem wichtigen Funktionär der KPD und der Kommunistischen Internationale. Sein positives Verhältnis zu den Wurzeln der Arbeiterbewegung und deren Idealen, seine zunehmenden nationalen und internationalen Erfahrungen sowie die Erfolge und erlittenen Niederlagen formten aus ihm eine führende Persönlichkeit und festigten seine Stellung im Kollektiv der KPD-Führung und in der Kommunistischen Internationale.
Kampf gegen den Faschismus
Immer wieder kam Ulbricht in seiner Tätigkeit auf die Bedeutung der gemeinsamen Verallgemeinerung der Kampferfahrungen aller kommunistischen Parteien und der Entwicklung einer Strategie und Taktik zurück, die den historischen Bedingungen entsprach und die unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen Ländern berücksichtigte.
Darin sah er einen wichtigen Weg, die einzelnen Parteien zu befähigen, auch die spezifischen nationalen Probleme und die für deren Lösung notwendigen Methoden, Formen und Wege des Kampfes auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus ausfindig zu machen. Für die KPD fand das seinen Niederschlag in den Dokumenten ihrer Brüsseler und Berner Konferenzen und – während Ulbrichts Aufenthalt in der Sowjetunion – der Gründung und Tätigkeit des Nationalkomitees „Freies Deutschland“.
Zurück in Deutschland
Ein weiteres Kapitel im Leben und Wirken Ulbrichts begann mit der Niederlage des deutschen Faschismus. Er kehrte als Leiter der Gruppe der Beauftragten des ZK der KPD schon in den ersten Maitagen 1945 nach Berlin zurück.
Die nach dem Sieg der Roten Armee und ihrer Alliierten entstanden Bedingungen wurden auf der Grundlage der konzeptionellen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen analysiert. Sie fanden ihren Niederschlag in der sofort einsetzenden Mobilisierung der antifaschistisch-demokratischen Kräfte und der konkreten Strategie und Taktik, wie sie im Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945 zum Ausdruck kam.
Gemeinsam mit den Kräften der SPD, die sich ebenfalls zur Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterparteien bekannten, begann die Sammlung der antifaschistisch-demokratischen Kräfte, um das Chaos der nationalen Katastrophe zu überwinden. Dieser Prozess führte schließlich zur Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im Jahre 1946.
Ulbricht hatte bedeutenden Anteil daran, dass die revolutionäre Partei der deutschen Arbeiterklasse, die KPD, als einzige Partei nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus mit einem wissenschaftlich begründeten Programm des demokratischen Neuaufbaus für ganz Deutschland auftrat. Dabei strebte sie die Fortsetzung ihrer Beschlüsse der Brüsseler und Berner Konferenzen und der Politik des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ an, um Deutschland aus der Katastrophe zu führen.
Im Mittelpunkt stand die Vernichtung der Grundlagen des Faschismus und Militarismus.
Entsprechend den konkreten Bedingungen und geleitet von der Theorie des Marxismus-Leninismus orientierte die Partei darauf, die bürgerlich-demokratische Revolution unter der Führung der Arbeiterklasse zu Ende zu führen und eine antifaschistisch-demokratische Ordnung in ganz Deutschland zu errichten.
Dazu gehörten die Übernahme aller entscheidenden Funktionen in den Verwaltungsorganen und in der Wirtschaft durch Antifaschisten und Demokraten, die entschädigungslose Enteignung der Junker und Großgrundbesitzer und die Aufteilung ihres Landes, die Bestrafung der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher und die Überführung der Konzerne, Banken und Großbetriebe in die Hände des Volkes, die Herstellung demokratischer Rechte und Freiheiten für das Volk und die Entwicklung einer antifaschistisch-demokratischen Kultur.
Diese Aufgabenstellung entsprach nicht nur den Interessen der Arbeiterklasse, sondern denen aller Klassen und Schichten des deutschen Volkes – mit Ausnahme der Kreise der Monopole, des Militarismus und des Junkertums.
Dieses antifaschistisch-demokratische Programm beruhte auf den geschichtlichen Lehren aus der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung und des ganzen Volkes seit Beginn des 20. Jahrhunderts, der Zeit des deutschen Imperialismus. Es war zugleich ein antikapitalistisches Programm.
Antifaschismus und Antikapitalismus bildeten eine Einheit! Auf dieser Grundlage konnte im Interesse des Kampfes um Demokratie und sozialen Fortschritt dem verhängnisvollen Einfluss der bürgerlichen Ideologie in den Reihen der Arbeiterklasse entgegengewirkt und deren Einheit auf revolutionärer Basis hergestellt werden.
Aufbau des Sozialismus
An der konzeptionellen und praktischen Gestaltung dieses Prozesses hatte Ulbricht als Mitglied der KPD-Führung einen prägenden Anteil.
Das Studium der Erfahrungen kann der Arbeiterbewegung auch heute nur Nutzen bringen und zur Profilgewinnung in der programmatischen, strategischen Ausrichtung der Linken beitragen.
Als Mitglied der Parteiführung der SED hatte Ulbricht auch in den folgenden Jahren entscheidenden Anteil an der Herausarbeitung und Beantwortung von Grundfragen der Errichtung des Sozialismus in der DDR. Natürlich sind auch diese Erfahrungen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Biografie eines Einzelnen zu würdigen. Sie repräsentieren die Leistungen, die einmal die Deutsche Demokratische Republik ausmachten.
Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler verwies auch darauf, dass sie zeigen, „an welches Erbe der DDR zu erinnern“ ist und wie dies „auch bei Überlegungen für die Gestaltung von Deutschlands Zukunft von Interesse sein“ könnte. Für ihn als Wirtschaftshistoriker seien die 1960er Jahre am interessantesten, weil in dieser Zeit „in der DDR-Wirtschaft im Rahmen des ‚Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft‘ (NÖS) Reformen durchgeführt (wurden), die nicht nur von der Verträglichkeit von Plan und Markt, sondern v on deren gegenseitiger Befruchtung im Interesse einer stabilen Entwicklung und der beschleunigten Modernisierung der Volkswirtschaft ausgingen“. Nur Ignoranten und Antikommunisten können die Bedeutung derartiger theoretischer Arbeit und praktischer Erfahrungen bestreiten.
Theoretische Vertiefung
Ulbricht selbst hat auf dem VII. Parteitag der SED gesagt: „Zur sozialistischen Planwirtschaft, wie sie der voll ausgebildeten sozialistischen Planwirtschaft entspricht, (gehören) sowohl die regulierende und wirksame gesellschaftliche Planung und Organisation der Volkswirtschaft im gesamtstaatlichen Maßstab als auch die konsequente Entfaltung der sozialistischen Warenwirtschaft. Beides bildet eine organische Einheit.“ Und weiter hieß es: „Die gesellschaftlichen Erfordernisse sind grundlegender und umfassender als die Markterfordernisse. Aber wer den Markterfordernissen nicht genügt, kann auch den gesellschaftlichen Erfordernissen nicht entsprechen.“
Später sollte sich bitter rächen, dass dieser Erkenntnis nicht ausreichend Rechnung getragen wurde. Allerdings dürfte sie auf dem künftigen Weg zum Sozialismus wieder von praktischem – und nicht nur von historischem – Interesse werden.
Ein ganzer Komplex neuer Fragen zur Weiterentwicklung des Wissenschaftlichen Sozialismus wurde mit dem Konzept der entwickelten sozialistischen Gesellschaft aufgeworfen. Dessen theoretische Klärung und praktische Umsetzung waren geeignet, die Strategie und Taktik der revolutionären Arbeiterbewegung weiterzuentwickeln und die neuen Fragen, die sich aus den Veränderungen, die sich auf deutschem Boden und weltweit ergeben hatten, im Interesse einer stabilen Weiterentwicklung des Sozialismus und der Gewährleistung von Frieden und Sicherheit umfassend und zusammenhängend zu beantworten. Diese strategische Zielstellung des VII. Parteitags der SED wurde von Ulbricht wie folgt beschrieben: „Sie besteht darin, dass der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbstständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab.“
Damit wurde ein ganzer Komplex von Fragen zur Weiterentwicklung des Wissenschaftlichen Sozialismus aufgeworfen. In der folgenden Diskussion in der DDR und in den sozialistischen Staaten wurde manche Erkenntnis weitergeführt, präzisiert und verallgemeinert.
Weiterentwicklung des Wissenschaftlichen Sozialismus
Es ist ein großes Verdienst Ulbrichts, diese Diskussion nicht nur angestoßen, sondern auch aktiv geführt zu haben. Es ist ein Verdienst der Partei, die er lange Zeit geführt hat, dass sie diese Diskussion als gesellschaftliches Anliegen geführt hat. Leider wurde sie in den 1980er Jahren nicht mehr kontinuierlich fortgesetzt.
Mit dieser zentralen Frage wurden auch andere Überlegungen, die sich aus dem Prozess des Aufbaus des Sozialismus ergaben, zur Diskussion gestellt. Es ging zum Beispiel um den Komplex der Widersprüche im Sozialismus – um das Wesen, den Charakter und die Struktur dieser Widersprüche.
Ein weites Feld bildete die Frage der Interessen im Sozialismus. Es ging darum, näher zu bestimmen, welche ökonomischen, politischen und geistig-kulturellen Interessen der Menschen auf Grundlage der sozialistischen Eigentumsverhältnisse entstehen und wie sie zu Triebkräften der Entwicklung werden.
Charakteristisch für die gesamte Diskussion war, dass sie bewusst bei Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin anknüpfte. Insgesamt war es eine Periode der schöpferischen Verarbeitung der in der DDR und in den anderen sozialistischen Staaten gemachten Erfahrungen. Unter ausdrücklicher Bejahung der marxistischen Theorie wurde der von Lenin formulierten Erkenntnis gefolgt: „,Unsere Lehre ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln’ – das betonten Marx und Engels ständig, wobei sie sich mit vollem Recht über das Einochsen und einfache Wiederholen von ‚Formeln‘ lustig machten, die bestenfalls nur geeignet sind, die allgemeinen Aufgaben vorzuzeichnen, die durch die konkrete ökonomische und politische Situation in jedem besonderen Zeitabschnitt des gesellschaftlichen Prozesses zwangsläufig modifiziert werden.“
Walter Ulbrichts Leben und Werk vermitteln wichtige Erfahrungen des Kampfes der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert. Er hat als Mitglied der Parteiführung wesentlich dazu beigetragen, den Weg ins Neuland zu beschreiten. Die Analyse, schöpferische Verwertung und Weiterführung seiner Ideen in den Kämpfen unserer Zeit sind eine Lebensnotwendigkeit und eine Voraussetzung für die erneute Stabilisierung der Bewegung und für ihren Erfolg.
Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: Walter Ulbricht (rechts) mit seiner Frau Lotte, Mitglied der Frauenkommission beim Politbüro der SED, und Willi Stoph, Ministerpräsident der DDR (Aufnahme von 1967)
Foto: Kohls, Ulrich / Bundesarchiv, Bild 183-F0309-0201-001 / CC-BY-SA 3.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5433136