Kampf um die Weltordnung: matt in sechs Zügen, aber keine Siegesparade
Es ist kaum zu übersehen, dass sich die Auseinandersetzung im Augenblick nicht zugunsten des Westens entwickelt. Daraus entspringt dann die Sehnsucht, dass ein Sieg erklärt und Ruhe einkehren werde. Das wird aber noch länger auf sich warten lassen.
Von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 23.07.2023 auf RT DE
Es steht nicht gut um den Westen, und man muss sich inzwischen schon sehr bemühen, das nicht wahrzunehmen. Die jüngsten US-Besuche in China, von Finanzministerin Janet Yellen und ausgerechnet vom hundertjährigen Henry Kissinger, lösten vielfache Spekulationen aus, gerade weil ihnen zu großen Teilen die übliche Sichtbarkeit offizieller Besuche abging. Die Interpretationen reichen von Versuchen, das Bündnis zwischen China und Russland aufzubrechen, bis hin zur Aushandlung der Kapitulation.
In den letzten achtzehn Monaten führte nicht nur die NATO einen erfolglosen Stellvertreterkrieg in der Ukraine, die ganze Weltordnung ist ins Rutschen geraten, mit einigen herausragenden Ereignissen wie der Umorientierung Saudi-Arabiens und dessen Versöhnung mit Iran oder der zunehmenden politischen Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten. Für die westliche Öffentlichkeit konnte das alles vom Kriegslärm in der Ukraine übertönt werden, aber nicht für den Rest der Welt. Gleichzeitig bedeuten die ökonomischen Daten, dass der Westen auf die eine oder andere Weise (ob über den Abstieg des US-Dollars oder über eine Finanzkrise 2.0 dank der Gewerbeimmobilien) vor einer gewaltigen wirtschaftlichen Erschütterung steht.
Alles wartet darauf, wie diese Geschichte endet. Oder eher, wann, denn das ganze globale Szenario ähnelt immer mehr einem dieser Schachrätsel, die sich in der Zeitung finden: matt in sechs Zügen. Sprich, das Ergebnis steht fest, aber der Weg dahin muss gefunden werden. Und in dem Nebel aus Indizien und Vermutungen hoffen alle darauf, dass dieser sich lichtet und das Resultat klar und erkennbar auf dem Tisch liegt.
Aber genau diese Erwartung könnte täuschen. Mehr noch, eine Erfüllung dieser Erwartung stünde für eine Form des Scheiterns.
Warum? Überlegen wir einmal, was der optimale Ausgang wäre. Klar, eine endgültige Zerschlagung des kolonialen Systems (ein russischer Sieg in der Ukraine wäre da nur ein Puzzleteil). Das ist der Teil, der aller Wahrscheinlichkeit nach bereits nicht mehr abzuwenden ist. Aber was ist mit den USA? Welche Folgen hätte, bei deren innenpolitischem Zustand, eine offen sichtbare Niederlage? Welche Folgen hätte das Eintreten der schon lange erwarteten ökonomischen Katastrophe?
Da gibt es einen sehr unangenehmen Aspekt. Auch die Vereinigten Staaten im Niedergang bleiben eine Atommacht von beträchtlicher Stärke. Die Steuerung ihrer nuklearen Kräfte ist so ausgelegt, dass sie von einer einzelnen Person aktiviert werden können, was gleichzeitig bedeutet, dass es wesentlich einfacher ist, diese Steuerung zu kapern, als dies bei einer Verteilung auf mehrere Personen der Fall wäre. Welche möglichen Szenarien gäbe es, die dieses Risiko aktivieren könnten?
Blicken wir zurück auf die Wahlversprechen, die Donald Trump vor seiner Wahl machte. Die Losung „America first“ ließ sich immer auf verschiedene Weise lesen, auch wenn der Bezug auf die nicht interventionistische Tradition in der US-Politik die stärkste war. Das Programm einer Reindustrialisierung kann auch einen sehr spezifischen Zweck erfüllen: einen Beitrag dazu leisten, die Gesellschaft zu stabilisieren, wenn das Imperium wegbricht. Denn je weniger an realer Ökonomie, wirklicher Produktion, innerhalb der USA vorhanden ist, desto katastrophaler werden die Folgen im Inneren, wenn die ungeheuren Zuflüsse aus den unterworfenen Teilen der Welt versiegen.
Hier reden wir nicht von einer Wiederholung des Zerfalls der Sowjetunion. Der geschah, so befremdlich das klingen mag, auf einer viel stabileren Basis. Es gab dort keine Zeltstädte von Obdachlosen, die die Straßen der Großstädte zierten; es handelte sich nicht um eine der meisten kollektiven Züge beraubte, partikularisierte Gesellschaft mit bereits zuvor hohem Drogenkonsum und hoher Kriminalität, und auch wenn es in den sowjetischen Strukturen Korruption gab, dürfte sie kaum das Ausmaß angenommen haben, das sich schon allein anhand der Geschichte von Joe und Hunter Biden mit Burisma erkennen lässt. Die Rettung Russlands war letztlich das Beharrungsvermögen der Sicherheitsstrukturen; in den USA sind auch diese längst zutiefst korrumpiert, wie die Verflechtungen zwischen Pentagon und dem militärisch-industriellen Komplex und die politische Instrumentalisierung des FBI belegen. Wer also sollte das Chaos unter Kontrolle bringen, das durch einen Kollaps ausgelöst würde?
Jeffrey Sachs, der den Vorlauf zum Zusammenbruch der Sowjetunion aus nächster Nähe erlebte, hat jüngst erzählt, die USA hätten sich damals schlicht geweigert, den sowjetischen Kollaps auch nur abzumildern, was durchaus möglich gewesen wäre. Das war eine ziemlich irrationale Strategie, bei der, um die Möglichkeit zu erhalten, die Ressourcen ungehemmt zu plündern, das Risiko eingegangen wurde, dass die nukleare Bewaffnung in die Hände unkontrollierbarer Kräfte gerät. Diese Vorgehensweise war nicht nur zutiefst inhuman, sie setzte auch die ganze Welt einem vermeidbaren Risiko aus, dessen Größe man auf keinen Fall unterschätzen darf.
(Übrigens war dieser Faktor auch einer der Aspekte in der Auseinandersetzung um die Krim 2014. Es ist Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer nuklearen Abschreckung, dass sie jederzeit verfügbar ist; das gilt auch für die seegestützten Varianten, damit auch für die damals auf der Krim stationierten Schiffe der Schwarzmeerflotte. Man stelle sich nur einmal vor, eine Truppe des Rechten Sektors hätte versucht, in den Besitz eines dieser Schiffe zu geraten. Die Krim von diesen Kräften abzuschotten, war nicht nur eine Frage der nationalen Sicherheit Russlands; es war eine Frage der globalen Sicherheit.)
Aber zurück in die Vereinigten Staaten. Eine Katastrophe, die den Neunzigerjahren in Russland entspricht, multipliziert um den Faktor zehn, mag zwar den vielzähligen Opfern der US-Politik weltweit als befriedigende Vergeltung erscheinen, aber sie wäre – ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Menschen, die am meisten unter ihr leiden würden, an den Verbrechen dieses Imperiums weder beteiligt waren noch von ihnen profitierten – eine reale Gefährdung, die weit über die USA selbst hinausreichte. Die erste Präsidentschaft Trump hätte vielleicht, wären die Neocons erfolgreich ausgeschaltet worden, die Möglichkeit einer weichen Landung geboten. Nach drei Jahren Biden und dem Niveau von Krise, das die USA selbst bereits ausgelöst haben, dürfte das deutlich schwieriger werden.
Einer der heikelsten Punkte ist dabei der Irrationalismus der Finanzmärkte, die die Konsequenzen politischer Entscheidungen ungeheuer beschleunigen können. Der endgültige Zusammenbruch des US-Dollars muss sich nicht über einen Zeitraum von Monaten oder Jahren hinweg vollziehen; die Mechanismen dieser von der realen Ökonomie völlig entkoppelten Märkte sorgen dafür, dass das sogar in Sekunden der Fall sein könnte. Es ist genug Geld im Hochfrequenzhandel unterwegs. Und das ist nur eine der Varianten.
Damit nähern wir uns dem Punkt, warum der Nebel selbst eine vollzogene Kapitulation noch weiter verhüllen dürfte. Die einzige Möglichkeit, den vollständigen Zusammenbruch zu vermeiden, bestünde darin, sie so lange wie irgend möglich vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Wenn man davon ausgeht, dass es tatsächlich auch im Interesse der wahrscheinlichen Sieger Russland und China liegt, die absolute Katastrophe in den USA zu umgehen, weil sie rationalere Akteure sind, als die Führung der USA es zu Beginn der Neunziger war (von heute ganz zu schweigen), dann ist es denkbar, dass zwischen dem Moment der eigentlichen Entscheidung dieser globalen Auseinandersetzung und der öffentlichen Bestätigung ihres Ergebnisses Monate und Jahre vergehen.
Ob sich das erfolgreich umsetzen ließe, ist eine andere Frage, die mehr damit zu tun hat, wie viele und welche Personen von einem Ereignis wissen können, ehe es doch öffentlich wird. Aber es gibt sehr starke Motive, diesen Zeitpunkt zumindest herauszuzögern. Die Entscheidung in der Ukraine wird weithin sichtbar sein, das lässt sich kaum vermeiden; aber die in der globalen Auseinandersetzung dürfte selbst dann weiter im Nebel liegen, wenn alle Züge längst getan sind.
Das höchste Risiko dafür liegt in den USA selbst, in der tiefen Korruption ihrer Strukturen. Jemand wie Nancy Pelosi dürfte selbst im Zusammenbruch des eigenen Landes nur eine günstige Gelegenheit sehen, ein paar ertragreiche Insider-Geschäfte zu machen, indem sie auf das Datum eines Kollapses setzt, den sie dann selbst auslöst. Was letztlich eine Illusion ist, denn nach diesem Zusammenbruch würde auch dieser Reichtum zu Staub zerfallen, aber fünfzig Jahre Spekulations- und Rentenwirtschaft hinterlassen eben auch mentale Schäden. Aber diese Gefahr ist immer noch geringer als jene, die eine sichtbare Kapitulation schaffen würde.
Man wird die Ungewissheit also, im allgemeinen Interesse, noch eine Zeit lang aushalten müssen, und wird nicht mehr als Indizien erhalten, kleine Unregelmäßigkeiten, und sich ansonsten darauf verlassen müssen, dass die allgemeine Richtung stimmt. Und womöglich quälend langsame Schritte eines westlichen Rückzugs ertragen, bis sich aus dem fortschreitenden Verfall vielleicht doch noch politische Kräfte formieren, die imstande wären, die korrupten Strukturen und ihre Profiteure zumindest in Schach zu halten, und die damit die Möglichkeit hätten, einen Absturz ins Chaos zu umgehen. Das klingt augenblicklich wenig wahrscheinlich, in allen Staaten des Westens, aber die schnellen Phasen der Geschichte sind für manche Überraschungen gut. Bis dahin aber wird man auf die Siegesparade verzichten müssen.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Symbolbild oben: pixabay.com / FelixMittermeier