Zeitenwende – böses Ende!
von Prof. Dr. Anton Latzo
Ein Jahr nach der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Sondersitzung des Bundestages vom 27. Februar 2022, in der er die „Zeitenwende“ verkündet hat, wurde nach einer Klausurtagung der SPD-Fraktion am 13. Januar 2023 ein Positionspapier „Sozialdemokratische internationale Politik in der Zeitenwende“ verabschiedet.
Es wurde veröffentlicht, nachdem das Bundeskanzleramt im Dezember 2022 den Entwurf einer „Nationalen Sicherheitsstrategie“, die im Koalitionsvertrag vereinbart war und vom Auswärtigen Amt unter Leitung von Annalena Baerbock ausgearbeitet wurde, verworfen hat, weil er nicht, wie es hieß, den Anforderungen entsprach.
Im Positionspapier wird Solidarität mit dem Kiewer Regime bekundet. Es macht aber auch Probleme in der deutschen Außenpolitik und besonders im Verhältnis Deutschlands zu Russland sichtbar.
Alle Rohre gegen Russland
Das Bild über die Tätigkeit der von der SPD geführten Regierung von Olaf Scholz war im vergangenen ersten Jahr von Russophobie geprägt. Alle sprachen nur von Waffenlieferungen an die Ukraine, Ausbildung für ukrainisches Militär, Sanktionen gegenüber Russland, Hilfspakete für das ukrainische Regime usw. Annalena Baerbock durfte sogar als Außenministerin Deutschlands (!) vor Parlamentarischen Versammlung des Europarates erklären: „…wir führen Krieg gegen Russland …“.
Der durch die Ukraine aufgebaute politische Druck auf die deutsche Regierung, der wesentlich von den USA orchestriert wurde, hatte zur Folge, dass in der Öffentlichkeit ein Bild entstanden ist, das den Eindruck hinterließ, als wäre das die einzige Frage der deutschen Außenpolitik.
Die Partei des Kanzlers hat aber, getragen von den Kräften des Seeheimer Kreises in der SPD, zu dem u.a. auch der Co-Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil, gehört, nicht nur eine Militarisierung ihrer Politik eingeleitet.
Sie hat ihre wichtigsten außenpolitische Leistung nach dem zweiten Weltkrieg, ihren Beitrag zur Entspannungs- und Verständigungspolitik in Europa (mal abgesehen von den dabei verfolgten weiterreichenden Zielen) auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen.
Bis zuletzt galt die SPD noch bei vielen Menschen in Deutschland und darüber hinaus als eine Partei der Entspannung – trotz ihres Verhaltens während der Aggression gegen Jugoslawien.
Widerspruchsvolle Partnerschaft
Wie auch die Aussage der Außenministerin bestätigt, decken sich in der Zwischenzeit die Haltung und Ziele Deutschlands in vielerlei Hinsicht mit denen der Ukraine. Auch Deutschland geht es um den militärischen Sieg des aktuellen Kiewer Regimes über Russland. Es geht aber vor allem darum, „Russland zu ruinieren“, wie ebenfalls Außenministerin Baerbock formulierte.
Im Bündnis mit den USA und den anderen NATO- und EU-Mächten strebt Deutschland eine strategische Niederlage Russlands an, die seine Staatlichkeit infrage stellen soll. Damit wiederholt die BRD den größten Fehler, der in der deutschen Geschichte gemacht wurde. Die Vertreter des deutschen Kapitals sind nicht bereit, aus dem Verlauf der Geschichte entsprechende Lehren zu ziehen, um sie in eine dauerhafte Friedenspolitik umzusetzen.
Und um die Gefahren, die für Deutschland und EU-Europa daraus entstehen, abzufangen, soll die Ukraine, deren Reichtümer man schon vor einem Jahrhundert haben wollte, zu einer Art Pufferzone zwischen Deutschland bzw. dem EU-Europa und Russland werden, was übrigens auch ein Motiv für die Osterweiterung der NATO und der EU war und weiterhin ist. Darin ist man sich auch mit den USA einig.
Deutschland will die Ukraine nutzen, um seine eigene Position gegen Russland und in ganz Europa auszubauen. Darauf aufbauend soll Deutschland zu einem bestimmenden Faktor der internationalen Politik werden, der nicht nur auf Wirtschaft, sondern auch auf Militär baut. Das wollen die USA nicht.
Es geht um das alte Ziel, dem deutschen Kapital Möglichkeiten für mehr internationalen Einfluss, Macht und Profit zu erschließen. Der Kampf um die Ukraine ist Bestandteil des Weges der BRD von einer „Gestaltungsmacht im Wartestand“ zu einer „Führungsmacht in EU“ und in Europa und jetzt, mit der Zeitenwende, zu einer „Führungsmacht in den internationalen Beziehungen“.
An der Rolle einer Pufferzone ist aber die Ukraine nicht interessiert. Sie will zu einer eigenständigen, antirussischen Bastion und zu einer Macht in der Region aufsteigen, die aufgrund ihrer geographischen Lage zu einer zentralen Achse der Anti-Russland-Politik der USA und der NATO avanciert. Hieraus entstehen auch Widersprüche im Verhältnis zwischen der BRD und der Ukraine, die auf das Verhalten der BRD wirken.
Positionen sind noch keine Politik
Von einer Außenpolitik, die von derartigen Zielen bestimmt wird, distanziert sich das Positionspapier der Bundestagsfraktion der SPD vom 13. Januar 2023 überhaupt nicht. Es enthält – im Unterschied zu dem vom Co-Vorsitzenden Klingbeil geprägten Dokument der Kommission Internationale Politik der SPD vom 20.01.2023 („Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“) aber so viel Realitätssinn, dass es auf die Notwendigkeit hinweist, dass mit Russland „diplomatische Gespräche möglich bleiben“ müssen.
Das zeigt, dass die Bundestagsfraktion der SPD den in der Mitgliedschaft und in den Reihen der Wählerschaft vorhandenen Druck berücksichtigen muss, der von den Resten der Erinnerung an die von Egon Bahr und Willy Brandt nach dem 13. August 1961 entwickelte Friedens- und Entspannungspolitik noch immer ausgeht.
Im Positionspapier weist die Fraktion darauf hin, dass „eine Politik der kleinen Schritte, die in überschaubaren Bereichen Initiativen zur Vertrauensbildung startet und regelmäßig auf ihre Wirksamkeit überprüft wird, ein diplomatischer Ansatz sein“ könnte. Auf lange Sicht werde Russland „für die Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur relevant sein“.
Das bleibt zwar hinter früher schon vorhandenen Erkenntnisse zurück. Denn es ist noch gar nicht lange her, da forderte die SPD in ihrem Wahlprogramm von 2021, auf dessen Grundlage die jetzige Regierung gewählt wurde: „Frieden in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben“. Es kann aber einen neuen Ansatz bilden.
Klärungsbedarf ist vorhanden
Wohin die Reise geht, könnte man Ende des Jahres 2023 deutlicher feststellen. Ein Parteitag der SPD soll ein neues außen- und sicherheitspolitisches Konzept beschließen. Am 20. Januar 2023 hat die Kommission Internationale Politik beim Parteivorstand der SPD dazu ein Dokument „Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“ veröffentlicht, das ein Abgleiten auf militaristische Positionen dokumentiert, das von drei Grundpfeilern getragen wird: Führungsrolle Deutschlands in der Welt (nicht nur Europa), Militarisierung als Mittel der „Friedenspolitik“ und Feindschaft zu Russland.
Problematische Bereiche gibt es ausreichend. Eine sehr wichtige Frage dürfte der Militarisierung, der Rolle des militärischen Faktors in den internationalen Beziehungen und seinem Einsatz in der deutschen Außenpolitik eingeräumt werden.
Der Co-Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil, ein Vorreiter des Militärischen, erklärte zum Beispiel in seiner Rede zur Zeitenwende, dass es für Deutschland notwendig sei, „nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem“ zu konzipieren. Dies soll unter dem Gesichtspunkt erfolgen, dass „Deutschland … den Anspruch einer Führungsmacht haben (muss)“.
Es sollte schon Beachtung finden, dass er das nicht nur auf Europa, sondern auf das „internationale Koordinatensystem“ bezieht. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass Deutschlands Friedenspolitik, wie er sagt, für ihn bedeutet, „auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen“!
Das provoziert durchaus die Befürchtung, dass der Parteitag zu einer Konzeption veranlasst werden soll, deren grundlegender Bezug der zu Macht und Gewalt ist, dass es nicht eine Konzeption sein wird, die auf kollektive Sicherheit, auf Frieden sowie auf Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zwischen souveränen und gleichberechtigten Staaten ausgerichtet ist. Das ist eine weitere Absage an die von Willy Brandt verfolgte Politik, auch wenn das Gegenteil versichert wird!
Die Grünen und Baerbock haben versagt
Im Koalitionsvertrag hat die Regierung die Erarbeitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie angekündigt, die im Februar 2023 vorgelegt werden sollte. Federführend sollte das Auswärtigen Amt unter Führung von Annalena Baerbock sein.
In der Zwischenzeit stellt sich heraus, dass Widersprüche zwischen Bundeskanzler und Außenministerin über den Inhalt dieser Strategie so groß geworden sind, dass es nicht möglich war, sich auf die Formulierung gemeinsamer Standpunkte zu grundlegenden Fragen zu einigen.
Das war schon zu Beginn ihrer Tätigkeit im neuen Amt abzusehen. Bekanntlich trompete sie: „Ich verstehe Außenpolitik als Weltinnenpolitik“.
Leider wird der Sprengstoff dieser Aussage zu oft verharmlost. In Wirklichkeit ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie Anhängerin der Theorien ist, die in den amerikanischen Zentren zur Rechtfertigung und Erhaltung der Hegemonialpolitik der USA fabriziert werden.
Sehr deutlich wurden die davon ausgehenden wachsenden Widersprüche in der Koalition – vor allem zwischen den Grünen einerseits und der SPD und auch der FDP andererseits – in der Zurückweisung des Entwurfs einer Nationalen Sicherheitsstrategie durch das Bundeskanzleramt, der unter Federführung des Auswärtigen Amtes und von Annalena Baerbock erarbeitet wurde.
Zugleich wird sichtbar, dass es dabei nicht nur um persönliche Widersprüche oder um stilistische Unterschiede geht, die vielleicht aus dem Bildungs- bzw. Ausbildungsgang der Außenministerin resultieren, wie es gerne in den Medien dargestellt wird. Es geht vielmehr um grundsätzliche Einschätzungen der globalen und regionalen Verhältnisse und um Fragen der strategischen Ausrichtung der deutschen Außenpolitik.
Laut Pressemeldungen betreffen die Vorbehalte des Bundeskanzleramtes rund 30 Einzelprojekte des Entwurfs der Nationalen Sicherheitsstrategie, wie er vom Außenamt vorgelegt wurde.
Von zentraler Bedeutung, neben der Konzentration gegen Russland, ist dabei die Gestaltung des Verhältnisses zwischen der BRD und der VR China. Die Reise von Bundeskanzler Scholz in die VR China wurde nicht nur von der Außenministerin und den Grünen kritisiert. Sie widersprach vor allem dem Konzept und den Forderungen der aktuellen US-amerikanischen Politik gegenüber China, die auch von Annalena Baerbock vertreten werden. Die offene Kritik der Außenministerin an der Reise des Bundeskanzlers offenbart somit ihre ablehnende Haltung zu zentralen außenpolitischen Positionen des Bundeskanzlers. Sie weist zunehmend auf Abgrenzungen hin.
Es ist wichtig, auch darauf zu verweisen, dass seit Antritt der gegenwärtigen Regierung beträchtliche Widersprüche auf mehreren Ebenen und verschiedenen Bereichen aufgetreten sind. Sie erfassen entscheidende Kreise, deren Miteinander oder Gegeneinander ausschlaggebend für die Stabilität dieser Regierung und für die Berechenbarkeit ihrer Politik sind. Dazu gehören:
- innerparteiliche Widersprüche in der SPD zwischen Bundeskanzleramt – SPD-Bundestagsfraktion – Co-Vorsitzender der SPD, Lars Klingbeil, einschließlich Seeheimer Kreis in der SPD;
- Widersprüche zwischen Bundeskanzler und Außenministerin;
- Widersprüche zwischen den Koalitionspartnern SPD und Grünen und auch zwischen Grünen und FDP.
An erster Stelle bleibt die Macht
Nach einem Jahr ist eine Situation entstanden, in der die Koalition zwar noch nicht akut gefährdet ist. Die Widersprüche beginnen aber aufzubrechen. Geht der Prozess so weiter, erodiert die Stabilität und Handlungsfähigkeit dieser Koalition.
Auf jeden Fall dürfte der Bundeskanzler darauf bestehen, dass das Kanzleramt das letzte Wort in den Fragen der Beziehungen der BRD zu Russland und China sowie in der Europapolitik spricht. Aber auf welcher Grundlage? Auf der Grundlage der Vorstellungen der Bundestagsfraktion oder auf der Grundlage der Positionen, die im Dokument der Kommission für Internationale Politik des Parteivorstandes (Klingbeil) beschrieben werden?
Der Bundeskanzler hat sein Credo hat so formuliert: „Die EU ist unser Handlungsrahmen, unsere Chance. ‚Macht unter Mächtigen‘ zu bleiben, darum geht es, wenn wir von ‚europäischer Souveränität‘ reden. Drei Dinge braucht es auf dem Weg dorthin: Erstens den Willen, als ‚Macht unter Mächten‘ zu handeln, zweitens gemeinsame strategische Ziele und drittens die Fähigkeiten, diese Ziele zu erreichen. An allem arbeiten wir“.
Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild: Zeitenwende im deutschen Einzelhandel. Blick in die Eistruhe eines Supermarktes im September 2022
Foto: Ralf Lux