Arbeit & Soziales

Ein soziales Problem in der historischen Auseinandersetzung

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-22, Dezember 2022, S. 28-34, 81. Jahrgang

von Thomas Loch

Wohnen, ein Recht auf Wohnen, gar als ein Menschenrecht – um dieses ist es in der Gegenwart nicht gut bestellt, jedenfalls nicht hierzulande.

Rechte werden heute gebogen, verwoben, entstellt, instrumentalisiert, sentimentalisiert, es wird an der Oberfläche operiert, Rechte werden verkündet, versprochen und gebro­chen. Letztlich gibt es eine Wohnungspolitik, allerdings auch sie hat einem Zwecke zu dienen, im System das einst als Kapitalismus bezeichnet wurde, heute als Marktwirtschaft vorgeführt wird und sich als Imperialismus entfaltet.

Es geht um Profit und Profimaximierung, und so kommt die Wohnung in der Regel als Ware daher, welche gekauft, verkauft, gemie­tet, vermietet, gepfändet, verschwendet wer­den kann. Ja, wie es in einem imperia­listischen Staatswesen wohl anders nicht sein kann, da sein bestimmender Grundzug die uneingeschränkte ökonomische und politi­sche Herrschaft des Monopols zur Gewin­nung und Sicherung von Monopolprofit ist. Und womit lässt sich am besten Geld verdienen? Letztlich mit den Dingen, welche der Mensch braucht und zwar beständig, um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen!

Die DDR ging einen anderen Weg

Aber es gab in der deutschen Geschichte eine andere Wohnungspolitik, welche nicht dem Streben nach Profit verpflichtet war, sondern das Bedürfnis der Menschen nach Wohnen in den Mittelpunkt stellte. Die Wohnungspolitik umfasste die „Gesamtheit von politischen, materiellen und sozialen Maßnahmen, die darauf gerichtet waren, in der DDR die Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 zu lösen.

Dem dienten alle aufeinander abgestimm­ten Bau- und Bewirtschaftungsmaßnahmen zur Erneuerung der Städte und Siedlungen sowie zur rationalen Wohnungsbewirtschaf­tung und -nutzung.“[1] Nun wäre zu fragen, wurde die Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 gelöst?

Die DDR hörte 1990 auf zu existieren, entscheiden durften die Bürger darüber nicht und so änderte sich die Wohnungspolitik. Es dauerte nicht lange und vielerorts gab es einen Überschuss an Wohnungen, allerdings nicht, weil nun richtig viel gebaut wurde, auch wenn es mancherorts danach aussah, sondern weil eine Volkswirtschaft abgewickelt und mit den Arbeitsplätzen nicht nur soziale Strukturen vernichtet, sondern viele Menschen gezwun­gen wurden, auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat zu verlassen.

Erst pendelten die Menschen von Ost nach West, später verlegten Sie ihren Lebensmittel­punkt dorthin, wo sie in der Lage waren ihre Existenz zu sichern, also ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Viele Regionen verloren einen großen Teil ihrer Bevölkerung und damit kam es relativ schnell dazu, dass es viel freien Wohnraum gab. Für den kapitalistisch orga­nisierten Wohnungsmarkt war das nicht gut, die Mieten waren zwar schon erheblich ge­stiegen, bewegten sich allerdings in vielen Gegenden noch unterhalb westdeutschen Niveaus; dies gilt bis heute.

Der Mietpreis in der DDR lag zwischen 0,80 und 1,25 Mark, der im Westen gern als wertlos bezeichnete „Alu-Chip“ hatte nicht nur im Fall von Mieten eine Kaufkraft, an welche die DM nicht einmal im Traum heranreichte. Während in der BRD ca. 30% des Familieneinkommens für die Miete aufge­wendet werden musste, waren es in der DDR ca. 3%. Heute gibt es diesen Unterschied nicht mehr, es gibt ja die DDR nicht mehr und wenn die Mieten im Osten gegebenenfalls noch niedriger als im Westen sind, gleicht das Einkommensgefälle zwischen West und Ost dies ohne Probleme aus.

Die Wohnungsfrage sollte als soziales Problem gelöst werden, jedem eine Wohnung war das Ziel in der DDR, jedem seine Woh­nung wäre ein weiterer Schritt gewesen. Von dem einen wie von dem anderen sind wir heute im Allgemeinen weit entfernt, und auch wenn es in vielen Gegenden keinen Woh­nungsmangel gibt, so können sich immer mehr Menschen diese Wohnungen oft nicht leisten, sind gezwungen Wohngeld zu bean­tragen, oder leben in Obdachlosenunter­künften, gelegentlich auch auf der Straße.

Meine ersten Obdachlosen habe ich 1992 in Essen gesehen, heute gibt es diese sogar in Quedlinburg, wo ich lebe. Mit der Bundes­republik kam auch der gesellschaftliche Rückschritt über die Menschen der neuen Bundesländer.

Die Stadt Quedlinburg ist ein gutes Bei­spiel, auch wenn sie in mancher Beziehung eine Sonderstellung einnimmt: sie gehört zum Weltkulturerbe aufgrund ihrer mittelalter­lichen Stadtstruktur und einer historischen Vielfalt an Bausubstanz, welche in dieser Fülle nur sehr selten so konzentriert zu finden ist. Die Bandbreite der Architektur reicht von der Präromanik bis in die Gegenwart und jede Zeit hat Spuren hinterlassen. Viele Menschen besuchen Jahr für Jahr diese Stadt, weil Vieles noch vorhanden ist, was andernorts längst abgerissen wurde. Gern wird fabuliert, dass für diese Stadt die „Wende“ gerade zur rechten Zeit gekommen sei und so historische Bausubstanz gerettet wurde. Ich sage, die „Wende“ ist gekommen, aber ohne DDR würde es diese Vielfalt an Bausubstanz heute nicht mehr gegeben.

Ein Blick in manche Stadt in den alten Bundesländern reicht aus, um zu erfahren, wo mehr historisches Kulturgut während der Phase der unterschiedlichen gesellschaftli­chen Entwicklung abgerissen wurde. So kom­men Menschen hierher, weil sie noch etwas vorfinden, was in ihrer Heimat oft verloren ist. Gerade diesbezügliche Gespräche mit älteren Menschen bestätigen es immer wieder.

Kulturgut versus neue Bedürfnisse?

Nun mag diese Stadt eine Ausnahme sein und anderen Ortes hat es vielleicht anders ausgesehen, und das hat es auch, denn es ist nicht einfach, ein solch umfassendes histo­risches Erbe allerorten zu bewahren. Auch wurde oft spät begonnen, sich alter Bausubstanz zuzuwenden, eine ausreichende Versorgung mit Wohnraum stand im Vordergrund und – machen wir uns nichts vor – die Sanierung alter Substanz ist erheblich aufwändiger als die Errichtung neuer Bauten.

Dazu kommt, dass die Bedürfnisse der Menschen sich wandeln, Ansprüche steigen und viel alte Bausubstanz entsprach den sich entwickelnden Bedürfnissen nicht mehr. Das Wohnen in einem alten Fachwerkhaus zum Beispiel, besonders wenn es nicht zu den herausragenden Bürgerhäusern gehörte und eher für die einfache Stadtbevölkerung er­richtet worden war, entsprach nicht unbedingt den Vorstellungen modernen Wohnens, sodass die Menschen bestrebt waren, diese Quartiere zu verlassen und sich in moder­nerem Wohnraum niederzulassen.

Oft wurden leerstehende Quartiere abge­rissen, vielerorts kam es zu Flächenabrissen und es wurden neue, der Zeit entsprechende moderne Gebäude errichtet. Das gab es in der alten BRD und das gab es in der DDR, nur wenn zwei das Gleiche tun, ist es lange noch nicht dasselbe.

Und so wird gern der Teufel in Form der unchristlichen DDR an die Wand gemalt, auch wenn viele Menschen mehr und mehr den Osten der Republik entdecken und das auch auf Grund der vielen historischen Kulturgüter, die dank der Politik in der DDR erhalten geblieben sind. Aber was nicht sein darf, soll nicht sein und so ist jeder alte Stein, welcher in der DDR abgerissen wurde, selbst wenn es Ruinen aus dem zweiten Weltkrieg waren, ein Politikum ersten Ranges. In der BRD war es normal, es war Entwicklung, gern durch das Attribut fortschrittlich ergänzt.

Nur – was ist Fortschritt? Ist das eine Frage der Definition, eine Frage der Mode, oder Ausdruck praktischen Lebens, geschichtliche Höherentwicklung der menschlichen Gesell­schaft bzw. einzelner Bereiche des gesell­schaftlichen Lebens? Um dieses geht es. Der Mensch ist in erster Linie praktisch, wie auch die Praxis Prüfstein jeder Theorie ist. Folg­lich: Wessen Interesse dient das praktische Sein eines Menschen? Ist er Objekt, oder Subjekt, geht es um sein Wohl, oder ist sein vorgebliches Wohl nur Mittel zum Zweck?

Es ist eine Auseinandersetzung um den Umgang mit der Geschichte, denn in der DDR lief in Fragen „Wohnen“ vieles anders als in der BRD, aber nicht nur da, auch was andere Bausubstanz betraf. Objekte wie zum Beispiel Schlösser wurden umgenutzt, oft dienten sie zu Bildungszwecken und mit der Nutzung war ihre Erhaltung garantiert. Zum Beispiel Produktionsbetriebe: Es war üblich, bestehende Substanz weiter zu nutzen. Wenn neue Maschinen alte ersetzten, wurden sie an bestehende Bausubstanz angepasst und nicht umgekehrt, für neue Maschinen auch neue Hallen auf der „grünen Wiese“ errichtet.

Und was wurde nicht alles nach 1990 abgerissen im Osten, ganze Betriebsanlagen verschwanden! Im Gegenzug hat jeder kleine Ort seine Gewerbe- oder/und Industriege­biete ausgewiesen, was nicht nur zur Versiegelung immer größerer Flächen führte, sondern dem angedachten Zweck oft nicht gerecht wurde. Viele dieser Flächen wurden erst zu beleuchteten Weiden für Tiere und später mit Solaranlagen gepflastert. Mit dem Wohnungsproblem, mit der Wohnungsfrage hat das vordergründig nichts zu tun, aller­dings mit dem Lebensumfeld der Menschen.

Für Quedlinburg wurde Anfang der 1970er Jahre beschlossen, die Stadt in ihrer histo­rischen Struktur zu erhalten und bis zur „Wende“ war ca. 1/3 der historischen Substanz gerettet, ein weiteres Drittel bis heute und fast 1/3 wartet noch auf Rettung.

Heute leben in der Altstadt mehr Menschen als zum Ende der DDR, es gibt einen großen Bestand an Ferienwohnungen, nicht unbe­dingt förderlich für eine urbane Wohn­struktur, aber nicht wenige Objekte werden so zumindest einer Nutzung zugeführt, auch unter dem Gesichtspunkt besserer Verwert­barkeit. dingt förderlich für eine urbane Wohnstruktur, aber nicht wenige Objekte werden so zumindest einer Nutzung zuge­führt, auch unter dem Gesichtspunkt besserer Verwertbarkeit. Denn es ist das eine, alte Gebäude zu sanieren, nur ohne Nutzung würde dieses nicht geschehen und Kapital muss schließlich akkumuliert werden.

Ein Bürgermeister verkündete vor Jahren, dass die Stadt gesund von außen nach innen schrumpft, und so wurde viel abgerissen, nicht die alte historische Substanz aus längst vergangenen Jahrhunderten, auch wenn diese gelegentlich zerfällt, sondern Wohnbestand aus der DDR-Vergangenheit. 1989 hatte die Stadt noch ca. 28.500 Einwohner, heute sind es um die 20.000 in der vergleichbaren Kernstadt.

Da mit dem Verlust an Einwohnern der Bedarf an Wohnraum zurückging, wurde kräftig abgerissen und dieser Abriss über weite Strecken vom Staat gefördert. Wurde in der DDR der Wohnungsbau gefördert, so war es nach 1990 der Abriss von Wohnungen. Wur­de in der DDR die Arbeit zu den Menschen gebracht, müssen heute die Menschen der Arbeit hinterherrennen. Wo sie diese finden, mangelt es oft am nötigen und/oder er­schwinglichen Wohnraum. In der Regel ziehen sie in Ballungszentren, die fort­schreitende Konzentration und Zentralisation des Kapitals macht dies nicht nur möglich, sondern sie bedingt dieses zwingend.

Hier in dieser kleinen, beschaulichen Stadt haben Investoren andere Probleme – wenn genügend Wohnraum vorhanden ist, braucht es weniger neuen und mit der Ware Wohnung kann nicht optimal, bzw. maximal verdient werden. Doch wo ein Wille ist, findet sich in der Regel auch ein Gebüsch, und wenn neuer, teurerer Wohnraum verkauft oder vermietet werden soll, muss der preiswerte weg. Also wird auf der einen Seite neu gebaut und auf der anderen Seite abgerissen, was der Pro­fitmaximierung im Wege steht. Oft gehören Häuser dazu, welche nach 1990 noch saniert wurden, in der Regel Plattenbauten, oder wie in einem Vorort die Gebäude einer Kaserne, welche lange Wohnzwecken dienten.

Das Wohnungsproblem als soziale Frage spielt heute nur in Sonntagsreden eine Rolle, Wohnungen wurden versprochen, allerdings bilden „versprochen und gebrochen“ in der bundesdeutschen Politik oft eine Einheit. So können die aktuell versprochenen Wohnun­gen nicht geschaffenen werden, denn „es ist Krieg“, es gibt wichtigeres, 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr und 200 Milliarden für einen „Doppelwumms“ – herrlich wie es die gegenwärtige Regierung versteht, die Taschen der großen Konzerne zu füllen: Erst wurden die Taschen der Pharma­industrie gefüllt, jetzt die der Rüstungs- und Energiekonzerne.

Wer braucht da schon Wohnungen zu erschwinglichen Preisen, knapper Wohnraum und Luxussanierung steigern die Gewinne. Über alten, vorgeblich überschüssigen Wohn­raum wird nicht lange nachgedacht, ob Entwicklung oder Umnutzung möglich ist, spielt keine Rolle, Abriss soll die Lösung sein.

In der Vergangenheit spielte das Thema öfter eine Rolle, gerade wenn es um die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR und der sozialen Frage geht.

*

Der folgende Text vom Mai 2018 befasst sich mit dem nicht so seltenen Problem, dass Menschen abwandern und „überschüssiger“ Wohnraum abgerissen wird. Wenn Woh­nungen „freigezogen“, die Menschen aus ihren Quartieren verdrängt werden sollen, scheinen der Fantasie keine Grenze gesetzt.

Als Gründe werden oft Leerstand und Kostendruck angegeben, auch wenn dieser künstlich geschaffen wurde und Verluste öffentlicher Wohnungsunternehmen ganz andere Ursachen haben, als die vorge­schobenen.

Der geschilderte Vorgang liegt in der Vergangenheit, die Wohngebäude sind heute weitestgehend abgerissen, der Widerstand gegen den Abriss konnte geschickt gespalten werden, und wo einst die Häuser standen, finden sich heute freie Flächen, was einmal daraus werden wird, bleibt abzuwarten, vielleicht werden einmal Häuser drauf gebaut.

Quarmbeck[2]

Heute hatte ich Besuch von einem Bekannten, er erzählte mir, dass ihm in Quarmbeck auf seiner morgendlichen Radtour eine Reihe hochgerüsteter Polizisten über den Weg ge­laufen sind. Von der Polizeischule in Aschers­leben, welche in letzter Zeit mit Drogen­delikten[3] und zumindest einem Einbrecher[4] in ihren Reihen für Schlagzeilen gesorgt hat, sollen sie sein, welche wahrscheinlich zum Training in dieses leerzuziehende Wohnge­biet eingerückt sind.

Dass in den verschiedenen Häusern noch Menschen wohnen, spielt keine Rolle, der Krieg gegen das eigene Volk muss geübt werden und der Repressionsapparat des Staa­tes gestärkt. Da kommt so ein Abrissgebiet gerade recht, es kann unter Umständen wilde Sau gespielt werden, Türen eingetreten, Fenster zerbrochen, mit Platzpatronen ge­schossen usw., kommt nicht drauf an, wird eh abgerissen!

Im Nebeneffekt werden die Bewohner terrorisiert und so zum schnelleren Umzug motiviert, nur ist es nicht so einfach eine vergleichbare Wohnung zu finden. Zum einen wohnt ein Teil der Bewohner schon sehr lange in diesem Viertel, verfügt also noch über alte Mietverträge aus Zeiten der DDR, welche wesentlich humaner abgefasst sind als aktuelle Verträge. Und wenn ein Bewohner z. B. auf Hartz IV angewiesen, oder mit einer niedrigen Rente zurechtkommen muss, wird es sicher nicht leichtfallen, eine geforderte Kaution zusätzlich aufzubringen. Und lassen sich die alten Möbel in der neuen Wohnung alle unterbringen?

Alles Fragen, die diejenigen nicht inter­essieren, welche für den „Leerzug“ und den darauf folgenden Beschluss des Abrisses des Wohnungsbestandes der städtischen Woh­nungsgesellschaft in Quarmbeck verant­wortlich zeichnen. Der Geschäftsführer der städtischen Wohnungsgesellschaft hatte im Jahr 2016 schon sinngemäß verkündet[5], dass das alles „mit den Menschen nichts zu tun hat“. Der Mensch spielt keine Rolle, er ist nur Spielball machtpolitischer Interessen. Und nun auch Spielball polizeilicher Übungen, was ebenfalls mit dergleichen Interessen zu tun hat, denn wo kämen wir hin, wenn das Volk hierzulande mitbekommt, wie seine Möglichkeiten immer weiter beschnitten wer­den. Die Menschen als Spielball politischen Seins, als Ausdruck spezifischer ökonomi­scher Interessen.

Dabei wäre es sicher auch anders gegangen. Quedlinburg gehört zum Welterbe, da  müssten sich doch Möglichkeiten finden, auch für ein Wohngebiet wie Quarmbeck. So könnten die Wohnungen international ange­boten und preiswert an Künstler vermietet werden, denn wo ist so viel kulturelles Erbe so geballt zu finden, wie in Quedlinburg?

Architektonische Spuren finden sich z. B. aus der Zeit der Präromanik bis in die Gegenwart. Von der daran festzu­machenden Geschichte ganz zu schweigen, Welterbe eben! Da wären Arbeit, künstlerisch-kul­tureller Aus­tausch und vieles mehr möglich, aller­dings möchte davon die in Quedlin­burg regierende Einfalt nichts wissen: Hauptsache das Schützenhaus in Quarmbeck, Ausdruck der Hochkultur kleinbürgerlichen Seins, bleibt erhal­ten.

Auch hat es einmal anders ausge­sehen, als um das Jahr 2000 herum nach Alternativen und Entwicklungs­möglichkeiten für diesen Ortsteil ge­sucht wurde. Da gab es ein Struk­tur- und Entwicklungskonzept für diesen Ortsteil, es wurde beraten, die Bewoh­ner des Ortsteils mit einbezogen und Vorschläge erarbeitet. Von diesem Projekt hatte ich bis dato nur gehört und einige Seiten der damals erstellten Unterlagen gesehen. Allerdings fand ich vor einiger Zeit einen prall gefüllten Briefumschlag im Briefkasten, welcher diese Unterlagen enthielt und einen interessanten Einblick in die damali­gen Bestrebungen gewährte.

Als dann allerdings der Geschäftsführer der städtischen Wohnungsgesellschaft in den Ruhestand ging und von der Stadt ein neuer bestellt wurde, wurde dieses Vorhaben aufgegeben und kurze Zeit später ein Zuzugsstopp verhängt. Es wurde begonnen, das Viertel zu entvölkern und für den Abriss vorzubereiten. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass große Teile der Woh­nungen in den 1990iger Jahren noch teil- oder komplettsaniert wurden.

Auch ist die Entwicklung der Bevölkerung des Ortsteils interessant, im erwähnten Entwicklungskonzept finden sich auf Seite 6 entsprechende Aussagen. Es werden die Zahlen der Stadt Quedlinburg und des Ortsteils genannt. Diese unterlagen im Laufe der Zeit erheblichen Schwankungen, aller­dings ist für die Stadt seit 1990 ein kon­tinuierlicher Rückgang der Bevölkerung zu verzeichnen, in Quarmbeck verhält es sich bis 2000 etwas anders. 1990 hatte die Stadt 27.870 Einwohner, in Quarmbeck waren es 569, im Jahr 2000 hatte die Stadt noch 24.057 Einwohner und davon lebten in Quarmbeck 784, 1997 waren es sogar 920.

Zwar hatte der Ortsteil wieder Einwohner verloren, allerdings entsprach dies in etwa dem städtischen Durchschnitt. Aus diesem Grund wurde ein umfassendes Konzept in Angriff genommen, was allerdings später ein­gestampft wurde. Dass nach Verhängung des Zuzugstopps die Einwohnerentwicklung rückläufig sein würde, dürfte den Verant­wortlichen klar gewesen sein, dieser Ortsteil sollte nun nicht mehr aufgewertet, sondern für den Abriss vorbereitet werden.

Quedlinburg hat weiter Einwohner ver­loren, heute wohnen in der Kernstadt um die 21.000 Menschen, mit Gernrode und Bad Suderode hatte Quedlinburg 2016 24.411 Ein­wohner, also setzt sich dieser Abwärtstrend fort, was auch mit der Politik in dieser Stadt zu tun hat.

Zwar fabuliert der eine und andere Politiker von einem Industriegebiet,[6] welches zu planen ist und die Karawane der blinden Investoren anlocken soll, allerdings sind dieses Wunsch­träume, wenn die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung betrachtet wird.

Das Pfund, mit dem Quedlinburg wuchern kann, wird von diesen Politikern eher stief­mütterlich behandelt und mit kulturellem und sozialem Kahlschlag in dieser Stadt bedacht.

Allgemeine neoliberale Heilslehren werden gepredigt und den Vorgaben wirtschaftlicher Egozentrik gefolgt. Dabei wird nicht davor zurückgeschreckt, Arbeitsplätze weiterhin zu vernichten, wie vor einigen Jahren mit der Schließung des Kurzentrums in Bad Suderode geschehen.[7] Nach einigem hin und her wurde dieses privatisiert, wobei seit dem auch nichts weiter passiert ist, außer dass gelegentlich verkündet wurde, dass etwas passieren solle.

Also statt auf Tourismus, Kultur, Natur und Gesundheit zu setzen, werden alte Rezepte ausgebuddelt, mit neuem Lack versehen und den Menschen als erstrebens­werte Alternative gepriesen. Dazu werden Gutachten erstellt, Projekte entwickelt, Land­schaft versiegelt, kulturelle Einrichtungen geschleift und öffentliche Mittel mit vollen Händen zum Fenster rausgeworfen. Dabei wird genau darauf geachtet, wer vor dem Fenster steht und seine Hände aufhält!

Die Menschen in dieser Stadt spielen keine, oder eine untergeordnete Rolle, sie haben zu dienen und sich dem politischen Gebaren zu fügen. Leider erkennen die meisten Menschen erst, dass sie Spielball verschiedener Inter­essen sind, dass ihnen die Hose längst runtergezogen wurde, wenn ihnen die rosarote Brille von der Nase gerutscht ist.

Eine Meisterleistung bürgerlicher Ideologie ist es, den Menschen, welche die ihnen zugeteilte Arschkarte gezogen haben, einzu­reden, dass es der Joker sei, welchen sie auf der Hand haben. So werden die meisten erst wach, wenn es längst zu spät ist!

Thomas Loch ist gelernter Maschinen- und Anlagenmonteur, arbeitet als Reisebegleiter in Quedlinburg und ist stellvertretender Landes­vorsitzender der Freidenker in Sachsen-Anhalt

Quellen:

[1] Kleines Politisches Wörterbuch, Dietz Verlag Berlin 1986, Seite 1088

[2] https://kucaf.blogspot.com/2018/05/quarmbeck.html

[3] https://www.mz-web.de/aschersleben/affaere-weitet-sich-aus-polizeischueler-sollen-mit-drogen-gehandelt-haben-29972660

[4] https://www.mz-web.de/sachsen-anhalt/landespolitik/sturz-nach-einbruch-tod-eines-polizeischuelers-beschaeftigt-den-innenausschuss-30115834

[5] http://kucaf.blogspot.com/2016/09/der-geschaftsfuhrer-der-wowi-bringt-es.html

[6] https://kucaf.blogspot.com/2017/02/gestern-schon-im-internet-heute-in-der.html

[7] https://kucaf.blogspot.com/2012/11/fur-investoren-schoner-gemacht-wurde.html


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 Thomas Loch: Ein soziales Problem in der historischen Auseinandersetzung (Auszug aus FREIDENKER 4-22, ca. 435 KB)


Bild oben: Altstadtsanierung in der DDR: Moderne Wohnungen im Maßstab der historischen Bebauung. Quedlinburg: Eckhaus Schmale Straße 1A. „Innerstädtischer Ersatzneubau“, 1990.
Foto: Jörg Blobelt, CC BY-SA 4.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79699205