Wie die Universitäten „woke“ wurden
Wie konnte es dazu kommen, dass Menschen, die eigentlich gebildet sein sollten, ihre Zeit mit der Erfindung neuer Pronomen und dem Kampf um zusätzliche Toiletten verbringen, Denkmäler stürzen und jeden als „reaktionär“ titulieren, der keine biologischen Männer im Frauensport will?
Von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 03.11.2022 auf RT DE
Es sieht aus wie ein fortgesetzter Denkunfall, diese ganze „woke“ Blase mit Cancel Culture, 150 Geschlechtern und ebenso vielen Toiletten. Man versucht, nach irgendeiner Infektion zu suchen, die eine dauerhafte Verdummung auslöst. Was aber, wenn der Ursprung des Problems ein ganz materieller ist?
Sicher, es gibt auch „weiche“, auf die Geisteswelt selbst bezogene Faktoren, wie den, dass Denken jeder Art, aber insbesondere das Denken in den Geisteswissenschaften, immer ein Dialog ist, für den es ein Gegenüber braucht. Und das zentrale Gegenüber, das das 20. Jahrhundert im Westen geprägt hat, war die marxistische Schule mit allen ihren Ausprägungen in Geschichtsschreibung, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Philosophie … Nachdem jede Spur dieses Denkens exorziert und tabuisiert worden war (in Deutschland besonders massiv), fehlte der Gesprächspartner, und übrig blieb ein Monolog, der nur durch eine stetige Verschärfung in die gleiche Richtung noch so tun konnte, als sei er ein Gespräch.
Aber das ist bei weitem nicht alles. Die Haupttriebkraft für die Entwicklung bizarrer Ideologien dürften die Existenzbedingungen des akademischen Personals sein. In diesem Bereich hat sich mindestens so viel geändert wie auf der Ebene von gedanklichem Austausch und Entwicklung.
Viele Stellen, auf die früher geisteswissenschaftliche Akademiker spekulieren konnten, gibt es schlicht nicht mehr. Nicht nur, dass in jedem staatlichen Bereich ein Sparprogramm das andere jagt; Zeitungen, Fernsehsender, selbst Volkshochschulen haben ihr Personal heruntergefahren. Hunderte von kleinen Verlagen sind verschwunden, die früher allerlei Autoren ihr Auskommen ermöglichten. Die ganzen unzähligen Nischen, Übersetzungsjobs, allerlei prekäre künstlerische Existenzen, sind keine Option mehr, da bei heutigen Mieten ein Überleben auf diese Weise nicht mehr funktioniert und spätestens mit der Umstellung von Sozialhilfe auf ALG II die untere Ebene der Kultursubventionierung verschwunden ist.
Man übersieht das oft, aber es ist in der Kunst nicht anders als im Fußball – um einen Spitzenspieler zu erhalten, braucht es hundert mittelmäßige, und wenn es die nicht mehr gibt, verschwinden auch die Spitzenspieler. Über Jahrzehnte hinweg war in der Bundesrepublik die Sozialhilfe auch das Netz, das Schauspieler an Kleintheatern aufgefangen hat, oder die hundertfünfzigste Rockband der Stadt. Die kulturelle Wüste heute ist das Resultat dieser Veränderung. In der DDR war es übrigens so, dass jeder, der das Talent für bestimmte künstlerische Tätigkeiten besaß und sie ausüben wollte, das auch konnte, sprich, sich nicht um sein Überleben sorgen musste.
Mit Ausnahme vielleicht von Taxifahren und Kellnern ist vieles fort, was früher eine Art halbakademische Existenz ermöglichte, und genauso vieles, was früher eine übliche Tätigkeit nach einem Studium war. Allein die Lektoren all der hunderte kleiner Verlage … Nun, es ist nicht so, als könnte den Betroffenen nichts einfallen. Wenn die alten Varianten nicht mehr gehen, müssen eben neue geschaffen werden.
Man konnte das an der Entwicklung in Gender Studies sehen. In den 1970ern wurden die Universitäten massiv ausgebaut; das hat eine Menge neuer Stellen geschaffen, weil für alle neuen Universitäten die klassischen Lehrstühle besetzt werden mussten. Aber ein Lehrstuhl, der einmal besetzt ist, bleibt das für einige Jahrzehnte, und die nächsten Jahrgänge standen dann bereits vor verschlossenen Türen bzw. vor besetzten Stellen. Welche Lösung gibt es? Man sucht ein neues Fach und versucht dann, eben dieses neue Fach für gesellschaftlich unbedingt notwendig zu erklären.
Wie viele Stellen für Gleichstellungsbeauftragte wurden quer durch Deutschland geschaffen? Migrationsbeauftragte? Die Schaffung einer öffentlichen Stelle ist nicht notwendigerweise die beste Lösung, um mit einem gesellschaftlichen Problem umzugehen; aber es hat sich, ausgehend von den Gleichstellungsbeauftragten, so als Schema etabliert. Alle paar Jahre taucht ein neues Thema auf, und es werden neue Beauftragte gesucht, und ein weiterer akademischer Jahrgang findet ein Auskommen.
Das muss an sich nicht schlecht sein, aber es entwickelt sich ein sich selbst verstärkender Kreislauf, in dem dann auch noch die berüchtigten Drittmittel eine Rolle spielen. Sollte man es schaffen, eine Stiftung mit viel Geld (wie die ganzen Soros-Stiftungen) davon zu überzeugen, dass, sagen wir, eine Thematisierung des Nasebohrens einen strategischen Vorteil für den Westen erzeugen könnte, würde eine solche Stiftung womöglich einen Lehrstuhl für Geschichte und Kultur des Nasebohrens finanzieren. Oder eine NGO der Anonymen Nasenbohrer. Wenn man es geschickt genug aufzieht und viele bekennende Nasenbohrer findet, wäre auch die eine oder andere Stelle für Nasenbohrerbeauftragte drin. Ich denke, das Grundprinzip ist klar genug.
Begonnen hat diese Entwicklung übrigens, noch vor der Welle der Gleichstellungsbeauftragten, damit, dass echte soziale Bewegungen der ausgehenden 1970er, wie etwa selbstverwaltete Frauenzentren, Finanzierungsprobleme bekamen (Kernproblem auch hier: die Mieten) und diese dann durch öffentliche Mittel lösten, was in der Regel nur funktionierte, wenn man gleichzeitig eine oder eine halbe Stelle für irgendwelche Sozialpädagogen schuf. Ziemlich schnell traf man in jeder derartigen Initiative auf angehende oder fertige Sozialpädagogen, die auf diese Weise sich ihre eigene Stelle schaffen wollten.
Wie auch immer, die Kombination aus Sparzwang auf der einen, Stellensuche auf der anderen und der intellektuellen Sterilität auf der dritten erzeugten ein ziemlich toxisches Endergebnis. Denn da ein grundsätzliches Abweichen von der vorgegebenen Linie gar nicht möglich ist und eine Wiederholung des bereits Gesagten keine Vorteile für die Karriere bringt, bleibt nur eine zunehmende Radikalisierung. Nicht aus Überzeugung, sondern aus ökonomischem Eigeninteresse. Wenn die Stellen für LGB alle besetzt sind, liegen die Chancen eben bei QXYZ; wenn „Klimaschutz“ bereits ausgereizt und institutionell etabliert ist, Klimabeauftragte eingeschlossen, dann muss man eben noch eine Schippe drauflegen.
Das muss nicht notwendigerweise bewusst geschehen. Akademische Leistung wird nach Veröffentlichungen gemessen, und dafür braucht es Neuheit. Das wird mit dem Zeitverlauf nicht einfacher. Auch hier ist ein Gespür für ein Thema, das sich gerade erst entwickelt, aber nicht in Konflikt zum Mainstream steht, äußerst hilfreich, und ein geschicktes „Weiterdrehen“ erweist sich als erfolgreiche Strategie. Wie solche Prozesse enden, kann man an einigen Formen der Kunst beobachten, die erst die Provokation immer stärker betonen müssen, um dann in der Bedeutungslosigkeit zu enden. Oder an der Art und Weise, wie Produktwerbung auf ständig neue Techniken verfallen muss, um nicht ausgeblendet zu werden. Die akademische Szenerie ist in einigen Bereichen keine Struktur zur Vermittlung gesellschaftlich nützlichen Wissens mehr, sondern ein permanentes Schaulaufen um Aufmerksamkeit heischender potentieller Festangestellter. Die dann eben auch Dinge wie „Correktiv“ bestücken.
Auf Dauer geht durch eine solche Fehlsteuerung nicht nur der gesellschaftliche Nutzen, sondern sogar die Verbindung zur Gesellschaft verloren, weil jede Verringerung der Selbstbezüglichkeit die Karrierechancen mindert und nicht erhöht. Und dabei geht es nicht einmal um die gut gepolsterten Sessel ordentlicher Professuren, sondern schon um einen schlichten Job, der Miete und Essen bezahlt.
Die Generation, die jetzt Denkmäler vom Sockel stürzt und dritte, vierte, fünfte Toiletten fordert, ist sich nicht einmal mehr dessen bewusst, wie dieser Zwang zur stetigen Verschärfung entstanden ist, da sie nie eine akademische Umgebung erlebt hat, in der er nicht existierte. Sie kennen nur noch eine idealistische Sicht auf Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie, und entfernen sich durch diese strukturellen Zwänge notwendigerweise immer weiter von der materiellen Wirklichkeit. Aus sich heraus sind sie unfähig, diese Tendenz umzukehren, auch wenn sie wahrnehmen, dass sie dadurch immer stärker in Konflikt mit der Bevölkerung außerhalb der Blase geraten.
Die ganze extreme Aggression, die während Corona und auch jetzt aus gerade diesen akademischen Kreisen wahrzunehmen ist, ist das Produkt dieser Ausweglosigkeit. Das wird sich erst ändern, wenn nicht mehr die Einwerbung von Drittmitteln, das Liebdienern bei Stiftungen und die Erfindungsgabe für neue Stellen über die akademische Karriere entscheiden, sondern die gesellschaftliche Nützlichkeit. Die besten Argumente sind nutzlos, wenn die Triebkräfte der Überzeugung materielle sind.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: Hörsaal H02 der RWTH Aachen bei der Wissenschaftsnacht am 10.11.2017
Foto: Nima j72, CC BY-SA 4.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64012344