Nichts gesagt ist auch gelogen
Deutsche Medien verschweigen offene Publikumsdiskussion Putins
Auch in diesem Jahr war Putin auf dem Waldai-Forum zugegen. Er hat sich vier Stunden Zeit genommen, um seine Sicht auf die aktuelle geopolitische Situation darzulegen und Fragen zu beantworten. Die deutsche Berichterstattung ist mager und bleibt im Eurozentrismus stecken.
von Gert Ewen Ungar
Erstveröffentlichung am 29.10.2022 auf RT DE
Putin hat auf dem Waldai-Forum ausführlich Stellung zu Themen der aktuellen geopolitischen Situation genommen. Die Welt tritt in eine neue Phase ein, die multipolare Weltordnung wird mit jedem Tag ein Stück weit neue Realität. Außerhalb des Westens schließen sich Staaten auf Grundlage der wechselseitigen Anerkennung ihrer Souveränität sowie des Respekts vor ihren kulturellen Unterschieden auf Basis des Völkerrechts zusammen und bilden eine immer stärkere Allianz gegen den westlichen Dominanzanspruch.
Was aktuell passiert, ist der Gegenentwurf zur westlichen Hegemonie und die Emanzipation der Welt vom westlichen Kolonialismus. Nach Auffassung Russlands und einer großen Zahl von Ländern außerhalb der westlichen Hemisphäre sind die westlichen liberalen Demokratien nämlich genau das nicht, was ihr Name vorgibt: liberal und der Demokratie verpflichtet. Der kollektive Westen ist im Kern aggressiv expansiv und autoritär im Aufzwingen seiner Regeln.
Er unterdrückt und nivelliert kulturelle Vielfalt und Diversität, außer jene, die er zu seinem Machterhalt und seiner Machtausweitung instrumentalisieren kann. Demokratie aus dem Munde westlicher Staatenlenker ist eine hohle Phrase. Das Züchten von Extremismus, Separatismus und Terrorismus ist eine zentrale Strategie des Westens zur Zersetzung jener Länder und Regionen, die sich seinem Diktat widersetzen.
Das ist alles nicht neu. Neu ist lediglich, dass es immer lauter und deutlicher gesagt wird. Neu ist auch, dass es inzwischen Staatenlenker wie Russlands Präsident Putin und Chinas Präsident Xi ganz offen äußern und ihren Willen signalisieren, dem westlichen Unrechtsregime ein Ende zu setzen.
Putin hat das jetzt wieder auf dem Waldai-Forum in Moskau getan. Er hielt dort einen ausführlichen Vortrag und stand einem internationalen Publikum für Fragen zur Verfügung. Derartige Formate, wie sie Putin regelmäßig durchführt, stemmt keiner seiner westlichen Kollegen, die sich zwar Demokraten nennen, sich aber jeder offenen Diskussion aus guten Gründen verweigern.
Interessant ist nun, was deutsche Medien aus dem Auftritt Putins machen. Der Focus und die Zeit machen gar nichts daraus. Für deren Leser hat es die Veranstaltung einfach nicht gegeben. Die Zeit räumt dafür Alice Bota breiten Raum ein, die sich gewohnt undifferenziert zur Ukraine äußern darf, Waffen, Waffen, Waffen fordert und dabei all jene beschimpft, die eine andere Position vertreten. Die Zeit war mal ein Blatt, das als intellektuell und ausgewogen galt. Das ist allerdings schon eine Weile her. Und der Focus warb einst mit dem Slogan „Fakten, Fakten, Fakten“. Aber nur dann, wenn sie ins Narrativ passen.
Auch für die Leser der Süddeutschen Zeitung fand Putins Rede auf dem Waldai-Forum lediglich in einem Nebensatz statt. Ebenso in der Tagesschau. In einem Beitrag von Deutschlands selbst ernanntem Nachrichtenflaggschiff liegt der Fokus auf dem Einsatz von Atomwaffen. Putins „mehrstündiger Auftritt in Moskau“ wird auf diese Frage eingedampft. Aus welchem Anlass Putin mehrere Stunden vor sich hin sprach, erfährt der Gebührenzahler nicht. Da wäre er vielleicht noch auf die absurde Idee gekommen, dass es in Russland Diskussionsveranstaltungen von internationaler Bedeutung geben könnte.
Etwas ausführlicher und zunächst um einen neutralen Ton bemüht, bekommt es das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hin. Lediglich die letzten Sätze des Beitrags gelingen nicht so ganz. Da darf Frank Sauer, Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr, dem russischen Präsidenten attestieren, dass dieser keine Ahnung von Geopolitik habe. Deutsche Arroganz in Vollendung.
Man mag das von einem deutschen Katheder aus so sehen. Insbesondere dann, wenn man meint, Geopolitik habe immer einen kolonialistischen Zug. Es scheint daher eher so zu sein, als könne Sauer sich etwas anderes als den westlichen Expansionismus nicht vorstellen. Das heißt aber, er hat das, was Putin sagt, schon im Ansatz nicht verstanden. Es geht Putin und übrigens auch dem anderen Autokraten, dem chinesischen Präsidenten Xi, in seinen Reden immer um Völkerrecht, Demokratie und die Souveränität der Völker. Darüber macht man sich in Deutschland gerne lustig, schließlich handelt es sich bei den beiden um ausgemachte Despoten. Vermutlich sagt diese Verächtlichmachung aber mehr auf den miserablen Zustand des deutschen Journalismus und seiner Falschberichterstattung zu geopolitischen Themen als über den tatsächlichen Zustand von Russland und China.
In der Realität läuft es für Russland ganz gut, für die EU und Deutschland dagegen nicht, sei Herrn Sauer von der Universität der Bundeswehr gesagt. Und ja, die Adressaten von Putins Rede waren vor allem die nicht westliche Welt. Das hat der zweite befragte Experte für das RND ganz richtig gedeutet. Diese nicht westliche Welt ist allerdings die Mehrheit, und sie tut sich gerade gegen den Westen zusammen. Russland ist eben in keiner Weise isoliert. Der Westen ist es. Auch darüber hätte man Auskunft geben können, wenn man denn gewollt hätte. Putin richtet sich übrigens ganz explizit an noch eine Gruppe: an diejenigen im Westen, die westliche Politik nicht mittragen.
Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung bekommt es halbwegs neutral hin. Aber auch bei ihr fehlt der Kontext, die sich immer weiter beschleunigende Integration von Staaten außerhalb der westlichen Hemisphäre in transnationalen Organisationen auf Basis des Völkerrechts. Auch bei der FAZ bleibt der Blick eurozentrisch verengt.
Ähnlich das Handelsblatt. Den Auftritt Putins lässt man vom US-amerikanischen Außenminister Blinken einordnen. Der versichert, Putin habe nichts Neues gesagt. Na, dann ist ja alles gut. Wie verquer es ist, US-amerikanische Regierungsmitglieder um eine Einordnung von russischen Positionen zu bitten und diese dann unkommentiert stehen zu lassen, fällt deutschen Redaktionen nicht mehr auf.
Einen Wettstreit um die unterirdischste Berichterstattung zum Thema liefert sich der Spiegel mit der Bild. Bei der Bild spricht der „Kremldespot“ auf einer „Propagandaveranstaltung“. Die Bild bedient das etablierte Russlandnarrativ nach Kräften und wirft mit Desinformation um sich. Im Spiegel äußert sich Philipp Wittrock, Chef vom Dienst in Los Angeles. Wittrock meint, Putin lebe in einem Paralleluniversum. Realitätsverweigerung unterstellt er ihm. Nun ja, ein deutscher Journalist in Los Angeles. Die Frage, wer da tatsächlich in einem Paralleluniversum lebt, ist damit wohl auch entschieden. Der kurze Beitrag strotzt von westlicher Arroganz und einem Überlegenheitsgefühl, das man nur dann pflegen kann, wenn man aktuelle geopolitische Entwicklungen völlig ignoriert. Der Spiegel war mal ein ganz gutes Magazin. Ist allerdings wie bei der Zeit auch schon eine ganze Weile her.
Insgesamt schade. Erneut eine vertane Chance. Der Blick der deutschen Medien bleibt eurozentrisch und transatlantisch eingeengt. Es mangelt an Bemühen um Verstehen. Es mangelt an einer kritischen Reflexion des eigenen Standpunktes. Es mangelt an Einsicht in das aktuelle geopolitische Geschehen. Der Westen ist zunehmend isoliert, wäre dann eine zentrale Erkenntnis. Auf dem Waldai-Forum kann man zu dieser Erkenntnis gelangen, denn das Forum ist international ausgerichtet.
Und man könnte dann auch eine große Sorge bemerken. Diese Sorge richtet sich allerdings nicht an Russland oder jene Länder, die in Deutschland unter dem Schlagwort Autokratien subsumiert werden, mit denen der demokratische Westen angeblich in einem Systemkonflikt steht. Die Sorgen, die sich dort in den Fragen artikulieren, betreffen die EU und auch Deutschland. Es ist die Sorge vor der Wiedererstehung des Faschismus, der Radikalisierung des Westens, vor der Förderung des Terrorismus durch den Westen bedingt durch seinen Zerfall. Es wäre dringend an der Zeit, darüber zu berichten.
Die Welt schaut genau auf den Westen, auf die EU und Deutschland. Es wäre gut, würde Deutschland in gleichem Maß auch auf die Welt schauen und sich von seiner voreingenommenen Haltung befreien.
Gert-Ewen Ungar studierte Philosophie und Germanistik und arbeitet als Pädagoge in der Sozialpsychiatrie in Berlin
Bild: Plenarsitzung des 15. Treffens des Valdai International Discussion Club, 2022.
Foto: Verwaltung des Präsidenten der Russischen Föderation / kremlin.ru, CC BY 4.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=73762929