Eskalationspolitik: An die Oberfläche gespülte Todesengel
Womit und mit wem haben wir es bei der derzeitigen Eskalationspolitik im Ukraine-Konflikt zu tun? Wie konnte es so weit kommen und wohin führt es dieses Land? Ein Erklärungsversuch.
Von Tom J. Wellbrock
Erstveröffentlichung am 09.10.2022 auf RT DE
In Politik und Medien scheint es, ein Paradoxon zu geben. Auf der einen Seite wird vor der Gefahr eines Dritten Weltkriegs gewarnt. Auf der anderen Seite wird beschwichtigt und der Hinweis auf einen Atomschlag als Panikmache gewertet, die die Bevölkerung verunsichern soll. Es wird Zeit, dass die Kriegshetzer und Dilettanten das Spielfeld verlassen.
In der heutigen Zeit Politiker der Gegenwart zu zitieren, macht nur in den seltensten Fällen Sinn. Der Großteil der politischen Verantwortungsträger mag Zitierfähiges absondern, das aber bestenfalls später in den Geschichtsbüchern stehen wird, um zu dokumentieren, dass die, welche die Katastrophe herbeigeführt haben, Namen und Biografien haben. Daher begnügen wir uns mit einem Zitat von John F. Kennedy:
„Vor allem müssen die Atommächte bei der Verteidigung ihrer eigenen lebenswichtigen Interessen solche Konfrontationen vermeiden, die einen Gegner vor die Wahl stellen, entweder einen demütigenden Rückzug oder einen Atomkrieg zu führen. Ein solcher Kurs im Atomzeitalter wäre nur ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder für einen kollektiven Todeswunsch für die Welt.“
Erfreulicherweise gibt es auch ein aktuelleres Zitat, das jedoch nicht von einem Politiker, sondern vom amerikanischen Ökonom Jeffrey D. Sachs stammt:
„Es ist dringend notwendig, wieder auf den Entwurf des Friedensabkommens zwischen Russland und der Ukraine von Ende März zurückzugreifen, das auf der Nichterweiterung der NATO beruht. Die heutige angespannte Situation kann leicht außer Kontrolle geraten, wie es in der Vergangenheit schon so oft der Fall war – dieses Mal jedoch mit der Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe. Das Überleben der Welt hängt von Besonnenheit, Diplomatie und Kompromissen auf allen Seiten ab.“
Die Reaktion der verantwortlichen Politik auf diese Warnungen und Appelle: keine.
Todesengel an den Schalthebeln
Das weitsichtige Herangehen Kennedys an die Gefahr einer Eskalation wirkt heute wie die Worte eines Kindes, das bei herannahenden dunklen Wolken nicht darüber nachdenkt, wer dafür verantwortlich sein könnte, dass sie heraufziehen, sondern darüber, was nun zu tun ist, um der Gefahr zu entkommen. Kinder können so etwas, Erwachsenen fällt es meist schwerer, und den Politikern, die uns regieren, ist derartiges Denken eklatant fremd.
Das mag viele Gründe haben, Inkompetenz zählt sicher dazu. Hörigkeit gegenüber einer Macht wie den USA spielt ebenfalls eine Rolle. Und nicht zuletzt sind es egoistische Interessen, die zu Handlungen führen, die der Allgemeinheit und dem Frieden nicht dienen. Man möge sich nur einmal anschauen, wie intim etwa FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann mit der Rüstungsindustrie verbunden ist.
Doch natürlich sind diese Erklärungen – wie viele andere, die hier nicht genannt werden – kein Grund, die Eskalationsbereitschaft zu akzeptieren, entschuldbar sind sie gleichfalls nicht. Denn es geht hier um Leben und Tod, und das ist weder übertrieben noch unnötige Panikmache. Eskaliert hat der Westen schon lange vor dem 24. Februar, als Russland in die Ukraine einmarschierte. Doch seit dem 25. Februar hat die Bereitschaft, selbst die einfachsten diplomatischen Ansätze in einer Art Nebel des Grauens verschwinden zu lassen, in einer Weise zugenommen, dass Kritik an dieser Praxis nicht mehr ausreicht.
Wir, die Menschen im Westen, müssen uns bewusst machen, dass es nicht um die Ukraine geht, dass es nie um die Ukraine ging. Das Armenhaus Europas hat genügend Potenzial, um gnaden- und skrupellos ausgebeutet zu werden. Doch dieses „Privileg“ hatten und haben unzählige andere Länder auch, das macht den Unterschied nicht aus. Was die Ukraine von anderen Ländern unterscheidet, ist ihre Funktion als Eskalationsmaschine. In den letzten Jahren gab es immer wieder vom Westen willkommene und womöglich sogar inszenierte Anlässe, um Konflikte mit Russland zu erzeugen. Abgestürzte Flugzeuge, Giftgasanschläge, Vergiftungen russischer Oppositioneller und andere Vorfälle, die Russland ohne Beweise untergejubelt wurden. Doch all das hatte eine natürliche Grenze der Steigerungsmöglichkeiten.
Mit dem 24. Februar änderte sich das schlagartig. Ähnlich wie bei Corona, als es hieß: „Da sterben Menschen“, läuft die Argumentationskette auch im Ukraine-Krieg immer auf diese Warnung hinaus. Das Leben der Menschen, das sowohl im nationalen als auch im internationalen politischen Agieren bestenfalls eine Nebenrolle spielte, wenn es um die Durchsetzung der eigenen Interessen geht, wurde mit dem Beginn der Corona-Episode zu einem omnipräsenten Argument, das keinen Widerspruch duldete. Wer sich gegen Corona-Maßnahmen oder Waffenlieferungen an die Ukraine aussprach und ausspricht, muss sich unverzüglich den Vorwurf des Menschenfeindes gefallen lassen.
Kritiker wurden und werden auf diese Weise mundtot gemacht und – von Großteilen der Gesellschaft weitgehend akzeptiert oder gar gefordert – aus der Gemeinschaft faktisch ausgeschlossen. Damit einhergehend sind die politischen Masken gefallen, denn war so etwas, wie wir es derzeit gegenüber Russland erleben, vor dem 24. Februar nur schwer vorstellbar, ist das nun anders. Tatsächlich hat sich nichts geändert seitdem. Im Donbass starben acht Jahre lang viele Tausend Menschen, überall auf der Welt werden Kriege geführt, Hungerkatastrophen fordern täglich unzählige Opfer, Folter, Diktaturen und Regime Changes führen zu internationalen Notlagen, die ihresgleichen suchen. Ganz vorn mit dabei stets die USA und ihre Verbündeten bzw. Vasallen.
Der große Unterschied zu den Konflikten auf der Erde und dem Krieg in der Ukraine ist die Maschinerie an Propaganda, die seit dessen Beginn angeworfen wurde. So wurde die Ukraine zu etwas gemacht, was sie ein knappes Jahr zuvor noch nicht war, auch nicht in der medialen Sichtweise: das Land, in dem das volle Paket der westlichen Werte verteidigt wird. Sämtliche kritische Berichterstattung über Korruption, kriminelle Oligarchien und deutliche Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine war vom 24. Februar an Makulatur, niemand in den Redaktionsstuben der „Qualitätsmedien“ wollte sich daran erinnern. Die Geschichte wurde neu geschrieben, was einmal war, wurde eliminiert oder neu bewertet.
An die Oberfläche gespült wurde mit dem Ausbruch des Krieges die große und zuvor eher leise Gruppe der Todesengel, die das Wort, die Führung und die Entscheidungen übernahmen. Still gelenkt und unterstützt durch die USA eskalierte zunächst die Rhetorik, dann kamen Forderungen nach Waffen an die Reihe, und inzwischen haben die Falken des Krieges die politische und mediale Dominanz im Westen übernommen. Sie haben es nicht mehr nötig, leise oder gar diplomatisch zu sein, im Gegenteil, sie werden lauter und lauter und sorgen mit medialer Unterstützung dafür, dass jede Deeskalation im Keim erstickt wird.
Sie müssen gestoppt werden
Wenn wir die Abläufe, die zum Ukraine-Krieg führten, in aller Kürze durchlaufen, fällt auf, dass der 24. Februar keine wirkliche Überraschung war. Der Donbass wurde seit mehr als acht Jahren von Kiew beschossen und bombardiert, die Bevölkerung wurde in Armut gehalten, die russische Sprache verboten, Russland als Teufel tituliert. Minsk II wurde aus allen erdenklichen Richtungen sabotiert, auch und besonders von Deutschlands Außenministerin Baerbock selbst. Die Appelle Russlands an die USA, eine weitere Eskalation im Donbass zu verhindern, wurden ignoriert, zuletzt im Dezember 2021. Joe Biden selbst hat vor Kriegsbeginn eine Art „Wette“ abgegeben, wann Russland die Ukraine angreifen werde. Der Beschuss des Donbass durch Kiew nahm vor dem 24. Februar erheblich zu, die Russen befürchteten – ob gerechtfertigt oder nicht, ist hier nicht entscheidend – weitere massive Attacken auf den Donbass und formulierten das auch vor der internationalen „Gemeinschaft“.
Die Reaktion: keine. Man muss weder ein Militärexperte noch ein geopolitischer Fachmann sein, um die weiteren Entwicklungen als folgerichtig zu bezeichnen. Faktisch – und auch das kann man nicht leugnen, selbst wenn man überzeugter Transatlantiker ist – hat der Westen seit Jahren eskaliert und Russland provoziert, hat sich des Problems des Pulverfasses Ukraine nicht angenommen und stattdessen wiederholte Verschärfungen initiiert oder unterstützt, alleine die Maidan-Proteste waren offenkundig von den USA in die Wege geleitet und finanziert.
Für die deutsche Bevölkerung sind diese Aspekte zwar nicht unwichtig und hilfreich, um die Lage aus einer anderen Perspektive einzuordnen. Doch viel wichtiger ist die möglichst flächendeckende Erkenntnis, dass die Bundesregierung, selbst große Teile der Opposition und die übergroße Mehrheit der Medien nichts anderes können bzw. wollen, als an der Eskalationsspirale zu drehen und damit einhergehend der Bevölkerung schweren Schaden zuzufügen. Diese Tatsache sollte eigentlich ausreichend sein, um den Unmut und die Sorge der Bevölkerung zu wecken, unabhängig vom Willen oder der Fähigkeit, sich umfassend über geopolitische Zusammenhänge zu informieren.
Wie schon oben angemerkt, ging und geht es nicht um die Ukraine. Es geht um geopolitische Interessen, um wirtschaftliche Aspekte und nicht zuletzt um den Fakt, dass die USA – und damit auch Europa – ein wankender Riese ist, der sich verkalkuliert hat und sich mit allen Mitteln gegen die eigene auf sich zukommende Bedeutungslosigkeit wehrt. Sterbende Imperien ergeben sich nicht einfach ihrem Schicksal, sie wehren sich mit Zähnen und Klauen und nehmen dabei weder auf Freund noch Feind Rücksicht. Noch gefährlicher werden Imperien, die die Hoffnung haben, den Verlust ihre Bedeutung abwenden zu können. Und vermutlich ist genau das in der aktuellen Krise der Fall.
Diese Aspekte berühren die Bevölkerung nur am Rande, für sie sind vielmehr die Folgen entscheidend. Und die sind gravierend und werden früher oder später weitreichende Auswirkungen haben. Auswirkungen, die uns alle betreffen werden, denn auf Dauer kann Politik nicht gegen die Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung regieren:
„Generell gelten jene Staaten als fragil (zerbrechlich), in denen die Regierung nicht willens oder in der Lage ist, staatliche Grundfunktionen im Bereich Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und soziale Grundversorgung zu erfüllen. Staatliche Institutionen in fragilen Staaten sind sehr schwach oder vom Zerfall bedroht; die Bevölkerung leidet unter großer Armut, Gewalt, Korruption und politischer Willkür. Darüber hinaus bilden fragile und von Konflikten betroffene Staaten auch ein regionales und internationales Sicherheitsrisiko. Wenn staatliche Strukturen nicht mehr funktionieren, entstehen rechtsfreie Räume, die von Banden der organisierten Kriminalität und terroristischen Netzwerken genutzt werden.“
An diesem Punkt sind wir noch nicht ganz, aber wenn die Bundesregierung ihre Politik nicht ändert, kommen wir ihm immer näher, und zwar nicht in einer fernen, abstrakten Zukunft, sondern in absehbarer Zeit.
Das Zitat stammt übrigens von der Seite des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es dient als Erklärung für folgenden Begriff: fragile Staatlichkeit.
Tom J. Wellbrock ist Texter und Sprecher. Gemeinsam mit Jens Berger betrieb er den Blog Spiegelfechter. Aktuell betreibt er mit Roberto J. De Lapuente den Blog Neulandrebellen.de und führt dort u.a. die Interviews.
Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Beitrages.
Bild: Collage von Ralf Lux, unter Verwendung von:
Protest von FridaysForFuture und anderen zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition. (Berlin, 15.10.2021)
Foto: Leonhard Lenz, CC0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=111022926