Die Hintergründe des Krieges
von Dagmar Henn
Navigation:
Teil 1 – Inflation, Schuldenkrise und Kolonialismus
Teil 2 – Schattenbanken, Spekulation und Monopole
Teil 3 – Monopole, Hunger und Staatsbankrotte
Teil 1 – Inflation, Schuldenkrise und Kolonialismus
Erstveröffentlichung am 07.10.2022 auf RT DE
In diesem Dreiteiler geht es, anhand aktueller Informationen aus dem neuesten UNCTAD-Bericht, um die ökonomischen Hintergründe der globalen Krise. Die Inflation, unter der wir leiden, dient einem Zweck und wiederholt ein Machtspiel, das bereits in den 1980ern stattfand.
Der neu erschienene „Trade and Development Report“ (TDR), übersetzt Handels- und Entwicklungsbericht der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD), ist ein äußerst spannendes Dokument. Auch wenn die Autoren die Auswirkungen der momentanen Entwicklungen an manchen Punkten weit unterschätzen dürften und man den Report an einigen Stellen ergänzen muss und, wie bei diplomatischen Dokumenten üblich, die wichtigen Aussagen sehr vorsichtig formuliert wurden – es finden sich einige bedeutsame Belege darin. Mit seiner Hilfe kann man manche verdeckte Absicht erkennbar machen.
Wichtig an diesem Papier ist dabei vor allem der globale Blick. Wie im vergangenen Jahr bei der Sicht auf die wirtschaftlichen Folgen der Coronamaßnahmen wird selten darüber berichtet, welche Auswirkungen außerhalb Europas oder der Kernländer des Westens auftreten – selbst wenn diese Folgen gravierend sind. „Wie im letztjährigen Bericht beschrieben, verursachte die Pandemie in den Entwicklungsländern größere wirtschaftliche Schäden als die Finanzmarktkrise.“ Das war die Phase nach dem Krisen-Höhepunkt im September 2008, als im Gefolge einer Reihe von Bankzusammenbrüchen oder beinahe Pleiten der globale Handel für einen Zeitraum von drei Monaten fast völlig zum Stillstand kam.
„Mit 46 Entwicklungsländern, die bereits durch die hohen Kosten für Nahrung, Brennstoffe und Kredite finanziellem Druck ausgesetzt sind und einer doppelt so hohen Zahl, die zumindest eine dieser Bedrohungen erlebt, ist die Möglichkeit einer weit ausgedehnten Schuldenkrise der Entwicklungsländer sehr real und weckt schmerzhafte Erinnerungen an die 1980er.“
Die damalige Schuldenkrise entwickelte sich primär in den lateinamerikanischen Ländern. Im August 1982 erklärte Mexiko, seine Schulden nicht mehr tilgen zu können. Nachdem es unmöglich geworden war, die Gläubiger die Verluste tragen zu lassen, folgten darauf für Lateinamerika zehn verlorene Jahre, geprägt von IWF-Auflagen, hoher Inflation und ökonomischem Stillstand. Tatsächlich gerettet wurden dadurch die Kreditgeber! Schon diese Krise hatte das Potenzial, reihenweise Banken zusammenbrechen zu lassen.
Die Schuldenlast war aber so angewachsen, weil durch die Etablierung des Petrodollar-Systems und durch die Hochzinsphase in den USA, die dort die Inflation bekämpfen sollte, der Dollar im Verhältnis zu den einheimischen Währungen stark gestiegen war. Das ist ein Szenario, das man im Hinterkopf behalten muss, wenn es um die gegenwärtige Entwicklung geht.
Diese Krise war zum einen eine erfolgreiche Abwälzung eines eigentlich aus der US-Ökonomie stammenden Problems auf Lateinamerika, zum anderen bahnte sie den Weg, die Länder für weitere Jahrzehnte an die Struktur aus Weltbank und IWF zu ketten und damit wirtschaftlich in Abhängigkeit zu halten.
In den USA lag im Jahr 1980 die Inflation bei bis zu 15 Prozent, und die Fed (US-Zentralbank-System) erhöhte, um diese Inflation zu beenden, die Zinsen in den USA auf bis zu 20 Prozent (eine Geldpolitik, die heute wirklich die Inflation kontrollieren wollte, müsste den damaligen Zinssatz noch übertreffen). Das führte dort zu einer Rezession und zu hoher Arbeitslosigkeit. Aber die Folgen für Lateinamerika waren noch weitaus gravierender, weil die US-amerikanischen Zinsen auch dort die Zinsen nach oben trieben. Und was in den USA der Einstieg in den Abstieg der Arbeiterschaft war (die Löhne erreichten real nie wieder die Werte wie vor dieser Phase), führte dort zu manifestem Elend.
So ähnlich wirkt sich auch heute bereits die Kombination aus Pandemie-Maßnahmen und steigenden Rohstoffpreisen aus. Für Juni 2022 benennt der Bericht 69 Länder mit einer zweistelligen Inflation, im Jahr davor waren es nur 23 Staaten. Abgesehen von einem Land, dessen Inflationswerte tatsächlich niedriger liegen als im Bericht angegeben (Russland), hat sich seit Juni die Zahl der Länder mit zweistelliger Inflation deutlich erhöht – schließlich liegt sie inzwischen selbst in Deutschland bei 10 Prozent.
„Der Anstieg der Inflation Ende letzten Jahres strafte die Hoffnungen Lügen, dass es sich um eine kurzlebige Unbequemlichkeit handeln würde. Die Belege deuten jedoch nicht darauf hin, dass dieser Anstieg durch eine weitere Lockerung der Fiskalpolitik [damit sind die Rettungspakete in den Industrieländern während der Lockdowns gemeint] oder Lohndruck entstand, sondern stattdessen vor allem aus Kostensteigerungen entspringt, vor allem für Energie, und einer zögerlichen Angebotsreaktion, die durch eine lange Geschichte eines schwachen Investitionswachstums ausgelöst wurde. Diese wurden durch preisbestimmende Unternehmen in hoch konzentrierten Märkten verstärkt, die ihre Gewinnziele bei zwei raren Gelegenheiten hochsetzten – im Jahr 2021 beim Anstieg der Nachfrage durch die globale Erholung, und im Jahr 2022 beim Anstieg spekulativen Handels, der aus einer Welle globaler Sorge um die Verfügbarkeit bestimmter Energiequellen entsprang, ohne dass sich insgesamt Angebot und Nachfrage wesentlich geändert hätten.“
Übersetzt heißt das, Konzerne mit marktbeherrschender Stellung haben die Gelegenheit genutzt, ihre Preise massiv zu erhöhen. Das ist übrigens auch im Zuge der Impfkampagnen geschehen. Und der Preisanstieg bei den Energiequellen, also Erdöl, Erdgas und so weiter, ist vor allem, das führt dieser Bericht noch genauer aus, Produkt der Spekulation.
„Unter diesen Umständen hat eine fortgesetzte verknappende Geldpolitik – durch steigende Zentralbanksätze und die Normalisierung ihrer Bilanzen – wenig direkte Auswirkungen auf die im Angebot liegenden Quellen der Inflation und wird stattdessen indirekt dafür sorgen, die Inflationserwartungen weiter zu verankern, indem die Nachfrage nach Investitionen weiter verringert und jedem beginnenden Druck des Arbeitsmarktes zuvorgekommen wird.“
Diesen Absatz muss man ein wenig übersetzen. Die Zinserhöhungen verstärken die ohnehin vorhandene Rezession und führen dadurch dazu, dass die zum Inflationsausgleich nötigen Lohnerhöhungen nicht durchgesetzt werden können. Was die Nachfrage weiter senkt und die Rezession verstärkt.
Leider ist der dritte Teil des Berichts noch nicht veröffentlicht, in dem das Thema des „schwachen Investitionswachstums“ behandelt wird. Die Investitionsrate in der realen Produktion ist jedenfalls spätestens seit der Krise 2008 extrem niedrig, so niedrig, dass im Grunde nicht einmal mehr die Ersatzinvestitionen gedeckt sind, zumindest in der Eurozone. Staatliche Investitionen sind, daran wird man sich in Deutschland noch erinnern, dank Schuldenbremse auch unterblieben, wovon der schlechte Zustand der Infrastruktur Zeugnis ablegt.
Die ganzen Rettungspakete, die in den reichen Ländern zu Coronazeiten geschnürt wurden oder auch jetzt wieder geschnürt werden, um die Explosion der Energiekosten abzufangen, sind Geldausgaben, die keine realen Werte erzeugen und daher auch günstigenfalls mit dem ausgegebenen Betrag, im ungünstigen Fall aber mit weit weniger zum Inlandsprodukt beitragen, während wirkliche Investitionen sich immer mit einem Faktor über 1 abbilden. Ich kann nur vermuten, dass die Aussagen im dritten Teil des Berichts ähnlich lauten werden.
„Da die finanziellen Verstrickungen seit der globalen Finanzkrise zunehmend global geworden sind, stellen komplexe, nicht vorhergesehene Schocks, einschließlich Ausbrüchen von finanzieller Panik oder extremer Preisvolatilität, oder eine Kombination externer Auslöser eine gegenwärtige Gefahr da. Monetäre Verknappung erzeugt zusätzliche Risiken für die reale Wirtschaft und den Finanzsektor: Bei der hohen Fremdfinanzierung nicht finanzieller Unternehmen würden steigende Kreditkosten einen steilen Anstieg in notleidenden Krediten verursachen und eine Kaskade von Pleiten auslösen. Da direkte Kontrollen von Preisen und Handelsspannen als politisch inakzeptabel ausgeschlossen sind, und wenn die Geldpolitik sich als unfähig erweist, die Inflation schnell zu stabilisieren, könnten die Regierungen zu zusätzlichen Sparmaßnahmen greifen. Das würde nur dazu beitragen, eine schärfere globale Rezession herbeizuführen.“
Das ist ein typischer Fall diplomatischer Höflichkeit. Für kurze Zeit gab es nach der Krise im Jahr 2008 eine Debatte, man müsse die Banken wieder unter Kontrolle bringen, Schattenbanken beseitigen, dafür sorgen, dass hohe Hebel (kreditfinanzierte Geschäfte mit wenig Eigenkapital) begrenzt und die tief miteinander verflochtene Finanzwirtschaft entflochten werden müsse. Geschehen ist das Gegenteil, was die UNCTAD sehr diskret andeutet. Wenn man die Sätze aufmerksam liest, kann man auch sehen, dass sie eigentlich genau das „politisch Unakzeptable“ für geboten hält – eben die Kontrolle von Preisen und Handelsspannen.
Zinserhöhungen in den Vereinigten Staaten um ein Prozent, führt der Bericht weiter aus, verringern das Inlandsprodukt in den entwickelten Ländern nach drei Jahren um 0,5 Prozent, in den Entwicklungsländern aber um 0,8 Prozent. Das muss man nur in Bezug setzen zu den Zinsen in den USA im Jahr 1980, und es ist klar, warum die lateinamerikanischen Länder dadurch in solche Probleme gerieten. „Drastischere Erhöhungen um 2 oder 3 Prozent würden daher die bereits schwache wirtschaftliche Erholung in den Wirtschaften der Schwellenländer um weitere 1,6 bis 2,4 Prozent senken.“
Die Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), die auch „Zentralbank der Zentralbanken“ genannt wird, hat schon entsprechende Hinweise an die Zentralbanken gegeben: „Angesichts des Ausmaßes des inflationären Drucks, der sich im vergangenen Jahr entwickelt hat, werden die realen Leitzinssätze deutlich steigen müssen, um die Nachfrage zu dämpfen.“
Die UNCTAD kommentiert dies nicht gerade freundlich. „Diese Politikempfehlungen, zusammen mit Aufrufen zu Sparmaßnahmen, um die Sorgen der Investoren durch eine Bereinigung der öffentlichen Haushalte zu verringern, erinnern sehr an die vorherrschenden Politikempfehlungen der frühen 1980er, und diese erwiesen sich als katastrophal, insbesondere für Entwicklungsländer, in Hinsicht auf Wirtschaftswachstum, Ungleichheit und Armut.“
Man könnte das auch anders formulieren: Zinserhöhungen in den Kernländern des Westens sorgen dafür, dass die Inflation, die dort bekämpft wird, schlicht in die ärmeren Länder exportiert wird. Was, wie man an der weiteren Entwicklung nach der lateinamerikanischen Schuldenkrise sehen kann, gleichzeitig eine günstige Gelegenheit bietet, diese Länder dann wieder fester in ein koloniales Schuldverhältnis zu binden. Für die Bevölkerung auf beiden Seiten ein leidvoller Prozess, auch wenn sich die Tiefe des ausgelösten Elends unterscheidet, aber ein Rettungsanker für ein globales Wirtschaftssystem, das auf globaler Ausbeutung beruht.
Allerdings ist die Lage heute grundsätzlich anders als vor vierzig Jahren. Damals gab es für die Länder, die unter dieser Hochzinspolitik litten, keine Alternative zum IWF, es hieß „friss oder stirb“. Inzwischen sind aber die USA und die EU nicht mehr alleinige Akteure, und auch, wenn die Krise wieder einmal in diesen Ländern gemacht wurde, heißt das nicht, dass sie davon diesmal eine Ernte einfahren werden. Genau das ist der Kernpunkt der gegenwärtigen geopolitischen Auseinandersetzung.
Die gegenwärtige Inflation unterscheide sich, so der Bericht, in mehreren Punkten von jener der 1970er Jahre. Zum einen sei der Anteil der Energiekosten an den Produktpreisen seitdem stetig gesunken, zum anderen sei die Kerninflation (die nur langlebige Güter enthält) weit unter der Inflation bei Nahrungsmitteln und Energie. Außerdem sei durch den schwachen Organisationsgrad der Beschäftigten unwahrscheinlich, dass der Wertverlust der Löhne durch Lohnerhöhungen aufgefangen würde, was eine Lohn-Preis-Spirale auslösen könnte, und der Schuldenstand sei sowohl bei Privatpersonen als auch bei Staaten deutlich höher. Dabei wären die Schulden der Entwicklungsländer hauptsächlich in Fremdwährungen und kurzfristig, also besonders riskant.
Der Schuldenstand aller, auch der westlichen Kernländer, ist heute wesentlich höher als die 65 Prozent des Inlandsprodukts, die im Jahr 1980 den globalen Schnitt darstellten. In der Eurozone liegt der Durchschnitt zurzeit bei 87,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die heutigen Schuldenstände stellen eine extreme Belastung für die Staatshaushalte von Entwicklungsländern dar. Weiter hinten im Bericht werden dazu Zahlen genannt. Der Extremfall ist Somalia, das 90 Prozent seines Staatshaushalts für die Bedienung der Verschuldung aufwenden muss (und unter anderem deswegen gerade wieder unter einer Hungersnot leidet). Bei einer ganzen Reihe von Ländern liegt der Schuldendienst zwischen 30 und 40 Prozent der Staatseinnahmen.
Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte hat dafür gesorgt, dass die Lohnquote weltweit gefallen ist. In den entwickelten Ländern übrigens weit stärker als in den Entwicklungsländern. Das mag allerdings auch damit zu tun haben, dass die dort weitverbreitete ländliche Subsistenzwirtschaft, von der der ärmste Teil der Bevölkerung lebt, eben kein Teil der Lohnquote ist, und diejenigen, die für Lohn beschäftigt werden, schon in vergleichsweise sicheren Verhältnissen leben. Die gesunkene Lohnquote in den westlichen Kernländern hat zwar dafür gesorgt, dass durch diesen Transfer von Arbeitseinkommen zu Gewinneinkommen weiter Gewinne entstehen konnten, aber gleichzeitig das schon der „Ölkrise“ der beginnenden 1970er Jahre zugrunde liegende Problem von zu viel aufgehäuftem Geld, das irgendwo gewinnbringend angelegt werden will, noch weiter verschärft.
Teil 2 – Schattenbanken, Spekulation und Monopole
Erstveröffentlichung am 08.10.2022 auf RT DE
Als die große Finanzmarktkrise 2008 die Welt erfasste, war viel die Rede davon, das spekulative Finanzsystem wieder unter Kontrolle zu bringen. Passiert ist das Gegenteil. Die Spekulation ist stärker als je zuvor. Und ist noch gefährlicher als damals.
Der wichtigste Unterschied zwischen 1980 und heute liegt aber dem UNCTAD-Bericht zufolge im Schattenbankensystem. Schattenbanken sind Finanzdienstleister, die durch die Schaffung von Krediten Geld schaffen können, aber nicht der Kontrolle durch die Zentralbanken unterstehen. Dazu zählen beispielsweise Investmentfonds, Wertpapierhändler und Holdings. Auch die beiden Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac, deren Kollaps die Krise 2008 einleitete, gehören zum Schattenbankensystem.
„Dieses sich entwickelnde „Schattenbanken“-System, weitgehend von den Regierungen vor der Finanzkrise ignoriert (wenn nicht gar ermutigt), verringert die Wirksamkeit von Geldpolitik deutlich. Über ein Jahrzehnt später stellen die Schattenbanken erneut Gefahren für die finanzielle Stabilität dar, in entwickelten und Entwicklungsländern gleichermaßen.“
Das Wachstum dieser Strukturen ging nach 2008 ungehindert weiter, und dies ist ein Beispiel für wichtige Zahlen, die der Bericht liefert.
„Der Anteil globaler Finanzanlagen, die von Schattenbanken gehalten werden, wuchs global von 42 Prozent im Jahr 2008 auf beinahe 50 Prozent 2019. Im Jahr 2020 schufen Schattenbanken mehr als zwei Drittel aller Hypotheken in den USA; der Anteil an Unternehmenskrediten, die sie halten, ist beinahe so hoch wie jener der Banken. Und auch wenn während der Pandemie der Anteil des Schattenbanksektors an den gesamten globalen Finanzanlagen von 49,7 auf 48,3 Prozent im Jahr 2020 sank, kontrollierten die Schattenbanken 2021 226,6 Billionen US-Dollar von den Gesamtanlagen in Höhe von 468,7 Billionen Dollar.“
Warum sind Schattenbanken gefährlich? Man erinnert sich vielleicht noch daran, dass nach der Finanzkrise 2008 in der EU die Eigenkapitalanforderungen an Banken erhöht wurden, in mehreren Schritten, über Basel II und Basel III, was bei den Banken ein großes Jammern auslöste. Gleichzeitig gab es Versuche, die Möglichkeiten der Banken, Geschäfte auf eigene Rechnung zu machen, einzuschränken (ohne große Erfolge).
Das Zauberwort in diesem Zusammenhang heißt „Hebel“. Der Hebel ist das Verhältnis zwischen vorhandenem Eigenkapital und verwendetem Fremdkapital bei einem bestimmten Geschäft. Sagen wir einmal, ich habe hundert Euro, ich nehme zu diesen hundert Euro einen Kredit von weiteren neunhundert Euro auf, zu einem regulären Zinssatz, bin dann besonders gut informiert und kaufe, sagen wir, BioNTech-Aktien am Tag, ehe die EU einen Impfstoffvertrag von hunderten Millionen verkündet, verkaufe diese Aktien am nächsten Tag wieder und streiche die Differenz abzüglich der für den Kredit zu zahlenden Zinsen ein. Wenn ich für das Geld statt der Aktien selbst Optionen auf diese Aktien kaufe, also das Recht, sie zu einem späteren Zeitpunkt für den Kurs des heutigen Tages zu erwerben, steigt die Summe, die ich dadurch bewege, weiter, weil ich für denselben Betrag das Zehn- bis Hundertfache an Aktien wandern lasse. Im Falle eines Kaufs von Optionen (das sind die sogenannten „Futures“) steigt mein Hebel ins Unermessliche.
Das Problem beginnt dann, wenn ich mich irre. Wenn ich im Gewinnfall auf diese Weise aus meinen hundert Euro hunderttausend machen kann, sieht das im Verlustfall ganz anders aus. Denn meine Gläubiger (das ist im Fall eines Optionshandels nicht nur die Bank, die mir den Kredit gegeben hat, sondern auch die zukünftigen Käufer der Aktien, die ich gar nicht besitze) finden bei mir nicht mehr als die hundert Euro, die ich ursprünglich hatte, und das ist, im Verhältnis zum Volumen des Geschäftes, gar nichts.
Abgesehen von der Frage, wieweit die Gewinne solcher gehebelten Geschäfte noch irgendeine reale Grundlage haben können (wirkliche Produktion vertausendfacht sich eben nicht), ist absolut klar, dass die Verluste, wenn sie auftreten, kaskadenartig durch das ganze System ziehen. Das ist 2008 passiert, als alle, die Schattenbanken wie die Geschäftsbanken, massiv in bündelweise weiterverkaufte, verpackte Hypotheken investiert hatten und dann in den USA die Hauspreise purzelten. Die Hebelung sorgte dafür, dass eine an sich auf einen ökonomischen Sektor begrenzte Entwicklung sich im gesamten Finanzsystem ausbreitete wie ein Steppenbrand. Deshalb war eine Begrenzung der Hebelung (exakt das stellt die Eigenkapitalanforderung dar) eine der Konsequenzen dieser Krise; aber sie erreichte nie das Schattenbankensystem.
Deren Hauptgeschäft ist vor allem sehr kurzfristige Anlage (teilweise in Sekunden bemessen, im sogenannten Hochfrequenzhandel) mit einem sehr großen Hebel. Sie investieren auch weniger in Aktien, sondern eher in Optionspapiere und Derivate. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 waren übrigens solche Instrumente lange verboten; Optionen tauchten beispielsweise in Deutschland erst in den 1980ern wieder auf. Aber während nach 1929 tatsächlich dieser Spekulationsmarkt geschlossen wurde und es in den USA beispielsweise bis Anfang der 1970er Banken streng untersagt war, sich an Unternehmen zu beteiligen oder im eigenen Namen Börsengeschäfte zu tätigen, waren solche Regeln nach 2008 nicht durchsetzbar. Stattdessen wurden die Schulden, die bei den Banken gelandet waren, von den Staaten übernommen und seitdem läuft die Geldschöpfung über den Rückkauf von Staatsanleihen durch die Zentralbanken auf Hochtouren. Anders gesagt: Das Problem, das sich mit der Finanzmarktkrise 2008 zeigte, wurde nie gelöst, sondern nur auf Pump vertagt. Inzwischen kontrollieren Schattenbanken selbst in den Entwicklungsländern 27 Prozent der Finanzanlagen.
„Die große Rolle des Schattenbanksektors bedeutet, dass Zentralbanken die Krediterweiterung in großen Teilen des Finanzsystems nur sehr beschränkt kontrollieren können. Das trifft noch verstärkt für Zentralbanken in Entwicklungsökonomien zu, da sie ein zerbrechlicheres Finanzsystem haben, höhere Schulden in Fremdwährungen, und Schocks auf dem Rohstoffmarkt stärker ausgesetzt sind. Tatsächlich haben viele von ihnen bereits Ende 2021 begonnen, die Zinssätze zu erhöhen, aber der Inflationsdruck hat nicht abgenommen, und die finanziellen Verwundbarkeiten haben sich weiter aufgebaut.“
Die politischen Empfehlungen der UNCTAD stehen völlig im Gegensatz zu den neoliberalen Glaubenssätzen, die sich nach wie vor beispielsweise in dem ökonomischen Ermächtigungsgesetz der EU-Kommission, SMEI, verwirklicht finden.
„Politiker sollten ernsthaft alternative Handlungsmöglichkeiten in Betracht ziehen, um die Inflation auf sozial wünschbare Weise zu senken, einschließlich strategischer Marktpreiskontrollen, besserer Regeln, um spekulativen Handel in Schlüsselmärkten zu verringern, gezielte Einkommenshilfen für verwundbare Gruppen und Entschuldung.“
Wenn irgendjemand bei dem Stichwort Preiskontrolle an die Gaspreisbremse denkt, die die Bundesregierung mit Milliarden öffentlicher Subventionen einführen will, täuscht er sich allerdings. Denn der erste erforderliche Schritt wäre, wie die UNCTAD das so nett formuliert, „spekulativen Handel in Schlüsselmärkten zu verringern“, also schlicht, die von der EU eingeführten Spotmärkte für Gas und Strom aufzulösen und zu langfristigen Verträgen zurückzukehren. Was augenblicklich – nicht nur in Deutschland – geplant ist, bedeutet, die spekulativen Preise an diesen Börsen unangetastet zu lassen, um sie dann für die Verbraucher mit staatlichem Geld auf eine erträglichere Höhe (immer noch das Vierfache des letztjährigen Preises) herunter zu subventionieren. Was letztlich nichts anderes bedeutet, als dass dieses Geld bei den Spekulanten auf den Spotmärkten landet.
„Wenn die monetäre Verknappung in den entwickelten Ökonomien sich im kommenden Jahr fortsetzt, ist eine globale Rezession jedoch wahrscheinlicher, und selbst wenn die Geldpolitik lockerer ist als in den 1980ern, wird sie fast unvermeidlich die mögliche Wachstumsrate in Entwicklungsökonomien schädigen. Der dauerhafte Schaden für die wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern wird nicht nur beträchtlich sein, er wird auch das Ziel, bis 2030 eine bessere Welt zu erreichen, am allerdünnsten Faden hängen lassen.“
Man kann sich durchaus fragen, wieweit ein solches Ziel jemals existiert hat, wenn man betrachtet, welche Folgen die „Klimapolitik“ tatsächlich für Entwicklungsländer hat. Wie das Modell Sri Lanka belegt hat, führt die Befolgung dieser Vorgaben unmittelbar in die Katastrophe. Das Verbot von Kunstdünger hatte logischerweise eine Hungersnot zur Folge, und die Umstellung auf erneuerbare Energien brachte die Energieversorgung zum Zusammenbruch; gleichzeitig stieg die Verschuldung massiv… Genauso wie die Verbote der Entwicklung von fossilen Rohstoffvorkommen zeigt dieser Fall, dass der „Klimaschutz“ ein Versuch ist, Abhängigkeit künstlich zu verlängern.
Trotzdem liefert der Bericht an vielen Stellen einen sehr deutlichen Blick auf den ökonomischen Zustand. So wird das Verhalten großer globaler Konzerne nach 2008 beschrieben:
„Dank ihrer Marktmacht, haben sie öfter Einkommen durch die Erzeugung von Mangel als durch die Herstellung von Gütern oder Dienstleistungen generiert. Die Verbreitung solchen Verhaltens durch Wissensmonopole, Zusammenschlüsse und Aufkäufe, Regierungsverträge etc. wurde von systematischer Steuervermeidung begleitet, einschließlich der Kanalisierung von Profiten durch Offshore-Steuerparadiese, das begleitende Wachstum illegaler Finanzströme und die weit verbreitete Nutzung gehebelter Übernahmen und Aktienrückkäufe. In vielen Fällen hat das zu einem Auseinanderklaffen zwischen großen, im Geld schwimmenden Konzernen und kleinen, an Geldnot leidenden Firmen geführt und einer gleichzeitigen Tendenz hin zu noch höher konzentrierten Märkten. Diese Tendenzen haben sich verfestigt und in einigen Fällen den bereits hohen Grad an Ungleichheit, der vor der Finanzkrise bestand, noch übertroffen.“
Auch das muss man ein wenig übersetzen. Während die großen, globalen Konzerne gewaltige Mittel an sich zogen, fehlt am anderen Ende, bei kleinen oder neu gegründeten Firmen – die historisch gesehen oft innovativer sind – die Möglichkeit, überhaupt Kapital zu bilden. Das wiederum, so die UNCTAD, verringert die mögliche Wachstumsrate; auch, weil die verbliebenen Teilnehmer in diesen hoch konzentrierten Märkten gar kein Interesse an einer Ausweitung des Angebots haben, sondern eher auf Knappheit setzen, weil das ihren Gewinn erhöht. In den Entwicklungsländern wurde dies durch die vom IWF vorgegebenen Liberalisierungen und die dadurch verursachte Verhinderung industrieller Entwicklung noch verschärft, so dass sich die Abhängigkeit von Rohstoffexporten als Devisenquelle erhöht hat.
Die Menge des Geldes, das sich in den Händen der Großkonzerne und Schattenbanken befindet, wurde während Corona noch einmal gewaltig erhöht. Im Verlauf des Jahres 2020 haben die führenden Zentralbanken insgesamt 9 Billionen US-Dollar in die Finanzmärkte gepumpt; „annähernd das Neunfache des Betrags, der Ende 2008 bis Ende 2009 injiziert wurde“. Auch das muss man umformulieren.
2008 bis 2009 war Bankenrettung I; in den USA ging es dabei vor allem um den Versicherer AIG, in Deutschland vor allem um die Deutsche Bank, die jeweils mit Milliardenbeträgen gestützt wurden. Die „Eurokrise“ war dann Bankenrettung II, weil die Staatsdefizite der Schuldnerländer das Ergebnis von weiteren Bankenrettungen waren (in Irland beispielsweise wieder einer Tochter der Deutschen Bank). Während Corona lief folglich bereits Bankenrettung III, mit von Runde zu Runde steigenden Beträgen, und die „Rettungspakete“, die augenblicklich in Europa geschnürt werden, um die Gaspreise zu senken, und die letztlich in den Taschen der Spekulanten landen, können dann wohl als Bankenrettung IV gezählt werden. Denn das wirkliche Ziel dieser Pakete sind nicht die Haushalte, sondern die Energieversorger, die mit unzähligen Milliarden von Optionen in der Kreide stehen und zusammenbrechen würden, woraufhin dann deren Banken… wir kennen das Spiel, es wird nur ein weiteres Mal wiederholt.
Und auch die Corona-Runde, Bankenrettung III, hat das bestehende Problem nur weiter verschärft.
„Als die Unterstützung der Zentralbanken ein Ansteigen auf den Aktienmärkten auslöste, war dieser Boom in Richtung großer Unternehmen in ausgewählten Sektoren verzerrt, insbesondere High-Tech und Pharma, während viele in der alten Ökonomie weiter in Schwierigkeiten steckten, was die Polarisierung der vorhergegangenen Dekade weiter vorantrieb.“
Es ist normal in kapitalistischen Gesellschaften, dass Geld dorthin fließt, wo der höchste Gewinn erzielt wird. Monopole oder Kartelle im Bereich High-Tech und Pharma versprechen da das Meiste, weil sie durch ihre Macht (die die Voraussetzung dafür ist, sich dauerhaft Steuern entziehen zu können) und den extremen Abstand zwischen materiellem Wert ihrer Produkte und deren Preis die besten Gewinne versprechen. Die Konzentration ist so weit fortgeschritten, dass eine Innovation „von unten“ nicht mehr möglich ist.
Die Extraprofite insbesondere dieser Monopole, die alle miteinander auf „geistigem Eigentum“ beruhen, also auf Markennamen, Patenten etc., sind aber völlig abhängig davon, sie auch durchsetzen zu können. In den Ländern, in denen sie die Ökonomie dominieren, also den Kernländern des Westens, ist das kein Problem. Aber im größeren Rest der Welt gibt es nur zwei Faktoren, die das sichern können: entweder überwältigende ökonomische oder militärische Macht. Der Westen verliert gerade beides. Und der UNCTAD-Bericht belegt, dass sämtliche Maßnahmen, die krisenbekämpfend wirken sollten, tatsächlich dieses Problem immer weiter verschärft haben. Der Mangel an realen Investitionen und die immer extremere Verlagerung hin zu diesen Monopolen hat der wirklichen Produktion gewissermaßen die Füße unter dem Leib weggezogen.
Teil 3 – Monopole, Hunger und Staatsbankrotte
Erstveröffentlichung am 09.10.2022 auf RT DE
Die Inflation, die fast weltweit ansteigt, ist, das belegt die UNCTAD, zu mindestens der Hälfte das Ergebnis von Monopolen. Sie löst eine Not aus, die dazu zwingen soll, unter die Knute des IWF zurückzukehren. Das Spiel mit Staatsbankrotten und Elend könnte diesmal aber scheitern.
Die Wachstumsprognosen, die die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) für das kommende Jahr vorlegt, liegen zwar unter denen, die zum Beispiel die EZB macht, aber sie sind, wenn man die wirklichen Folgen der Sanktionspolitik betrachtet, zumindest für Europa unrealistisch günstig, weil sie den Einbruch in der realen Produktion unterschätzen. Das liegt natürlich auch daran, dass sie die verheerenden Konsequenzen der Klimapolitik auf dem Energiesektor nicht benennen darf. Auch die Inflationsprognose dürfte nicht stimmen – aber sie kann natürlich die neuesten „Rettungspakete“ noch nicht beinhalten, die einen weiteren inflationären Schub verursachen dürften.
Augenblicklich ist die Inflation unter den Schwellenländern in der Türkei mit über 70 und in Argentinien mit über 60 Prozent am höchsten, gefolgt von Nigeria mit 18 Prozent. Auch hier sind es die Rohstoffpreise, die die Inflation antreiben. Der Rohstoffpreisindex des IWF, der einen globalen Mittelwert über alle Rohstoffe darstellt, ist vom Jahr 2020 bis zum Jahr 2022 von 120 auf 190 gestiegen. Bei Nahrungsmitteln gab es im Verlauf dieser zwei Jahre einen Anstieg von 90 auf 130 (in beiden Fällen wurde der Index 2016 auf 100 gesetzt). Allerdings ist es von der Währung abhängig, in der solche Käufe getätigt werden, wie die Anstiege sich real umsetzen – im Augenblick erlebt die Eurozone das, was die Entwicklungsländer ständig erleben. Während der Ölpreis phasenweise sogar fällt (bereits wegen des Rückgangs industrieller Produktion), steigt er real weiter, weil die Ware in Dollar gehandelt wird und der Dollar selbst im Verhältnis zum Euro deutlich gestiegen ist.
„Allein die höheren Nahrungspreise werden schätzungsweise im Jahr 2022 zusätzliche 75 Millionen Menschen in extreme Armut stürzen, zu den 95 Millionen, die das bereits waren. (…) Oxfam warnt, dass höhere Nahrungs- und Energiepreise und anhaltende Krisenbedingungen die Zahl der Menschen in extremer Armut im Jahr 2022 um 263 Millionen erhöhen könnte.“
Monopolprofite sind ein Hauptantreiber der Inflation. „Zwischen den Jahren 2020 und 2022 waren schätzungsweise 54 Prozent der durchschnittlichen Preissteigerungen im Nichtfinanzsektor der Vereinigten Staaten auf höhere Gewinnspannen zurückzuführen, verglichen mit nur 11 Prozent in den 40 Jahren davor. (…) Prozyklische Handelsspannen waren ein entscheidender Faktor.“ Anders formuliert, in all jenen Märkten, in denen beherrschende Monopole existieren, haben diese die Gelegenheit genutzt, schlicht die Preise heraufzusetzen. Das betrifft nicht nur die USA oder andere westliche Kernländer, sondern ebenso die Entwicklungsländer, die darunter noch deutlich stärker leiden.
Die Lösungsvorschläge der UNCTAD klingen völlig illusorisch. Eine Anti-Trust-Politik, die praktisch die Zerschlagung dieser Monopole bedeutet, höhere öffentliche Investitionen, höhere Arbeitseinkommen, Wiedereinbindung der Zentralbanken in die Wirtschaftspolitik und ein neues Bretton Woods. Nichts davon ist im Westen politisch durchsetzbar. Im Gegenteil. Die Tendenz im Westen geht zu immer stärkerem Gewicht der Spekulation.
„Vor 2002 lag der Anteil nichtkommerzieller Spekulanten auf dem Markt für Ölpreisoptionen bei 20 Prozent, im Jahr 2009 stieg er auf annähernd 50 Prozent. Jüngere Schätzungen sehen ihn zwischen 70 und 80 Prozent. Alle größeren Ölgesellschaften, führende Banken der USA und private Energiehandelsunternehmen, geführt von Vitol, Trafigura, Mercuria und Glencore sind am spekulativen Energiehandel beteiligt. Die Wirkung der exzessiven Spekulation ist eine überwältigende Volatilität der Ölpreise, die oft den Preis für ein Barrel Rohöl um 25 bis 30 Dollar über das hinaus treiben, was die Marktgrundlagen ergeben. Auf die gleiche Weise hat die spekulative Aktivität von Hedgefonds, Investmentbanken und Pensionsfonds die Weizenpreise hochgetrieben.“
Diese Spekulation ist also kein Gerücht und keine Verschwörungstheorie. Die finanziellen Faktoren haben einen ebenso starken Einfluss auf die Entwicklung der Rohstoffpreise wie die realen Veränderungen von Angebot und Nachfrage, quer durch das gesamte Rohstoffspektrum.
„Das deutsche Forschungsinstitut ZEF fand heraus, dass der Anteil nichtkommerzieller Händler (Spekulanten), die lange Positionen in Hartweizen und Mais hielten, Anfang 2022 abrupt auf 50 Prozent stieg, eine Lage, die oft mit Preissteigerungen verbunden ist. Lighthouse Reports, eine NGO für investigativen Journalismus, berichtete, dass Investoren im April 2022 1,2 Milliarden in zwei größere landwirtschaftliche Fonds pumpten, verglichen mit nur 197 Millionen im ganzen Jahr 2022.“
Und es gibt noch ein weiteres Problem auf dem Getreidemarkt: „IPES-Food berichtet, dass die beste Kenntnis davon, wie viel Getreide zu einer bestimmten Zeit an jedem beliebigen Ort der Welt vorhanden ist, bei privaten Unternehmen zu finden ist, insbesondere bei dem ‚ABCD‘ der Getreidehändler: Archer Daniels Midlands, Bunge, Cargill und Louis Dreyfus. Da diese Firmen den globalen Getreidehandel zu 70 bis 90 Prozent beherrschen, dürften ihre Reserven entsprechend groß sein. Und mit steigender Spekulation bei Rohstoffen, haben sie einen klaren Anreiz, ihre Reserven zurückzuhalten, bis die Preise den Gipfel erreicht haben.“
„Im April 2022 waren sieben von zehn Käufern von Verträgen in Weizen-Futures Investmentfirmen, Investmentfonds, andere Finanzinstitutionen und kommerzielle Unternehmen, die sich nicht dadurch absichern, sondern vom Preisanstieg profitieren wollten.“
Die von der EU etablierten künstlichen Gas- und Strommärkte leiden unter dem gleichen Problem. Nicht nur, dass die Spekulation auf diesen Märkten die Preise noch weit über das (ebenfalls künstlich, weil durch politische Entscheidungen) verknappte Angebot hinaustreibt, da auch die Versorger inzwischen weitgehend privatisiert sind, gibt es auch keine direkte Möglichkeit der Preiskontrolle mehr. „Jene [Länder], die die Kontrolle über die heimischen Energiegesellschaften und/oder die Bildung derer Endverbraucherpreise gehalten haben, konnten auch die Verteilungswirkung auf die heimische Inflation unter Kontrolle halten.“ Die Liberalisierung beißt in diesem Falle also gleich zweimal.
Die Folgen der Entwicklung für die Ökonomie in der EU, insbesondere in Deutschland, betrachten wir ja regelmäßig. Das, gekoppelt mit den Zinserhöhungen der Fed (US-Zentralbank-System), führt zu einem stetig sinkenden Kurs des Euro. Das verteuert insbesondere Energieimporte weiter, für die Vereinigten Staaten eine Möglichkeit, die eigene Inflation abzuwälzen. Aber die Nachteile für Europa sind bei Weitem nicht so verheerend wie die Folgen für jene Länder, deren Schulden in Fremdwährungen, und da eben wieder primär in Dollar, nominiert sind.
Die beiden Produkte, deren Preise besonders stark steigen, Nahrung und Energiequellen, sind gleichzeitig solche, deren Erwerb man nicht einfach lassen kann. Menschen verhungern ohne Nahrung. Es ist also eine Situation entstanden, in der die ärmeren Länder die Waren, deren Preise explodieren, kaufen müssen, und sei es auf Kredit. Gleichzeitig steigt der Dollarkurs und damit die Schuldenlast. Das Ergebnis kann, das sagt auch die UNCTAD, eine ganze Welle von Staatsbankrotten sein. Was sie nicht sagt, ist, dass das genau dem Muster der 1980er Jahre entspricht, als Lateinamerika rekolonisiert wurde.
Man könnte sagen, es ist ein besonders bösartiges Pokerspiel. Und in diesem Zusammenhang machen die Sanktionspakete Sinn, denn sie fördern die Entwicklung einer solchen Staatsbankrottkrise in den Entwicklungsländern, von denen bereits einige auf Sonderziehungsrechte des IWF zurückgegriffen haben. Die Klimapolitik, die Inflation und die Sanktionspakete bilden ein Bündel, das zusammengenommen einen Versuch darstellt, große Teile der Welt wieder in die völlige ökonomische Abhängigkeit zurückzustoßen und an einer eigenständigen Entwicklung zu hindern.
Für die betroffenen Länder wäre das eine Katastrophe. Menschen, die an Hunger sterben, irgendwo in Afrika oder Asien, tauchen natürlich nicht so prominent in den westlichen Medien auf, wie gerade die Ukrainer. Aber ein Erfolg dieses Versuchs würde Millionen das Leben kosten.
Wie zentral dabei die Sanktionen sind, lässt der UNCTAD-Bericht in einer kurzen Bemerkung erkennen: „Die Freigabe von 180 Millionen Barrel aus den strategischen Erdölreserven der Vereinigten Staaten [die allerdings mit dem Ziel erfolgte, die US-Wähler milde zu stimmen, D.H.] sowie die Bereitschaft von Indien und China, russische Ölexporte anzunehmen, erwies sich als ausreichend, um sicherzustellen, dass sich das globale Ölangebot nicht weiter verknappte.“ Anders gesagt, hätten die USA ihren Willen durchsetzen können und China und Indien hätten sich den Sanktionen angeschlossen, dann wären die Ölpreise noch weiter gestiegen, und die Folgen für von Importen abhängige Entwicklungsländer wären noch gravierender.
Zum Glück gibt es gegen diese Entwicklung, die man durchaus als einen Generalangriff auf den Globalen Süden werten kann, eine deutliche Opposition. Der Erfolg dieses ökonomischen Raubzugs ist die eigentliche Beute, um die der Westen gerade auf dem Boden der Ukraine kämpft. Die Sanktionen sind Teil dieses Raubzugs, und Russland und China erweisen sich als die Gegner, die seinen Erfolg verhindern können. Es geht nicht nur um das Überleben Russlands als staatliche Einheit, oder darum, die russischen Ressourcen nicht unter die Kontrolle der westlichen Oligarchie gelangen zu lassen, es geht um das Überleben der unzähligen Millionen, die einer gigantischen Reinszenierung der Lateinamerika-Krise der 1980er Jahre zum Opfer fallen würden. Und letztlich darum, die Menschheit von der Macht dieser westlichen Oligarchie zu befreien, die inzwischen jeden Versuch einer weiteren Entwicklung, nicht nur in den Ländern des Südens, sondern auch im Westen selbst, in der Wiege erstickt.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild: pixabay.com / geralt / Pixabay License /