Bundestag: 50 Schattierungen der Wirklichkeitsverleugnung …
– und eine Stimme aus Mansfeld
Nicht nur bei großen Debatten ist der Bundestag weit entfernt vom Leben und den Sorgen der normalen Deutschen, auch bei seinem Alltagsgeschäft. Ein deprimierendes Erlebnis – wenn es nicht einen Redebeitrag gegeben hätte, der Hoffnung gibt.
von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 23.09.2022 auf RT DE
Ist es nur mein Eindruck, dass die Debatten des Bundestages mehr und mehr den Charakter einer Sektenversammlung annehmen? Bei denen alle Positionen, die nicht der so grandiosen Mehrheit entsprechen, auf die sich diese Regierung stützt, schlicht nicht mehr vorkommen?
Zugegeben, in den Debatten, die ich mir angesehen habe, war nicht wirklich etwas zu entscheiden. Entsprechend gab es die Minimalbesetzung mit den jeweiligen Ausschussmitgliedern. Eine erste Lesung und ein Fraktionsantrag. Bundestagsalltag also, das gewöhnliche Geschäft.
Aber da wurde über ein Energiesicherungsgesetz debattiert, das die Probleme, die auf das Land zukommen, lösen soll, und die zwei entscheidenden Gründe für diese Probleme werden nicht einmal erwähnt: die ideologische Fixierung auf die erneuerbaren Energien, und die Sanktionen, die eine sichere und günstige Energiequelle versperren.
Stattdessen erklingen dekorative Sätze. „Dass wir zusammenstehen für die Menschen in diesem Land, die große Not erleiden durch die hohen Energiepreise, gegen Putin.“ So Ingrid Nestle von den Grünen. Wer erwartet, dass da zumindest ein schlechtes Gewissen ist, weil inzwischen klar ist, dass viele, selbst relativ gut Verdienende, nicht wissen, wie sie durch den Winter kommen sollen, der täuscht sich; obwohl sie alle miteinander für diese Misere verantwortlich sind.
Dann kommen Beteuerungen, wechselseitig vorgetragen, die „Potentiale der Bioenergie auszuschöpfen“. Bioenergie – das ist das, was auf den deutschen Äckern wächst, anstelle von Kartoffeln. Die Bioenergie ist einer der Gründe, warum Deutschland 80 Prozent seiner pflanzlichen Nahrungsmittel importiert. Und da reden diese Herr- und Damenschaften davon, sich bei der Energie unabhängig zu machen. Unter anderem mit Bioenergie, mit der man sich in eine Abhängigkeit bei der Ernährung begeben hat, zu einer Zeit, in der auch noch der Kunstdünger knapp und teuer ist.
Es ist die allererste Aufgabe einer Regierung, das Leben ihrer Bevölkerung zu sichern. Was wurde nicht vor einem Jahr noch getönt, alle müssten sich Masken vors Gesicht hängen und ihre Tage am besten einsam in der Kammer verbringen, um Leben zu retten. Gehen diese Politiker wirklich davon aus, dass die Orgie der kalten Buden keine Folgen hat? Dass dann eben dieselben pflegebedürftigen Alten, für deren vermeintlichen Schutz auch noch das letzte Grundrecht kassiert wurde, nun in kaum beheizten Heimen mit noch weniger Personal dann eben ein Jahr später an ordinärer Lungenentzündung eingehen?
Sie haben sich tatsächlich angeschrien, phasenweise, bei dieser Debatte um das Energiesicherungsgesetz. Obwohl gar niemand da war, der erklärte, dass die Stromversorgung nicht sicherer wird, wenn man Windräder auch nachts laufen lässt. Oder dass das Problem bei der tollen Wind- und Solarenergie eben darin besteht, dass keine der Parteien im Bundestag den Wind zum beständigen Wehen oder die Sonne zum beständigen Scheinen zwingen kann.
„Energiesouveränität“ will Herr Kruse von der FDP, der von den „Schlingen der Abhängigkeit des Diktators“ redet. Der SPDler Bergt meint, man müsse die Erfolge hervorheben, die diese Regierung bereits erzielt habe; schließlich seien die Gasspeicher knüppelvoll.
Die Meldungen aus der wirklichen Welt liefern so abscheulich hohe Gas-, Strom- und Heizrechnungen, dass nur noch wenige sicher sagen können, genug Geld fürs Essen übrigzuhaben; oder sich nicht entscheiden zu müssen, ob sie Essen oder Strom konsumieren wollen. Wie ernst das ist, an wie vielen Stellen bereits die Sicherheit der Versorgung brüchig wird, das scheint in Berlin nach wie vor nicht angekommen. Knüppelvolle Gasspeicher?
Die Gasspeicher in Deutschland sind Überbleibsel des Kalten Krieges. Sie sollten die Versorgung für drei Monate sicherstellen, allerdings auf Grundlage der Menge, die vor über vierzig Jahren verbraucht wurde. In den vergangenen Jahren dienten sie dazu, den höheren Verbrauch in den Wintermonaten zu decken, zusätzlich zu dem Erdgas, das bis vor wenigen Monaten durch Pipelines aus Russland geliefert wurde. In kalten Wintern waren sie im Frühjahr trotzdem leer. Das Wort „zusätzlich“ scheint den Herrschaften im Bundestag nicht bekannt zu sein; sie ergehen sich in der Illusion, wenn nur die Speicher voll wären, gäbe es kein Problem, wenn kein Gas mehr geliefert wird. Davon, dass auch noch Nachbarländer auf den Inhalt der deutschen Gasspeicher setzen, ganz zu schweigen.
Die einzig interessante Information lieferte der AfD-Abgeordnete Kotré, der berichtete, es gebe Firmen, die die Produktion stilllegen und die nicht benötigte Energie weiterverkauften und damit mehr Gewinn machten als mit der Produktion.
Das könnte den starken Rückgang des Gasverbrauchs ebenso erklären wie die Tatsache, dass der Protest aus der Industrie nach wie vor viel zu leise ist. Das hieße dann eben, da wird noch einmal ein Schnitt gemacht, ehe man die Bude ganz schließt. Denn natürlich dreht sich volkswirtschaftlich die Spirale nach unten weiter, je weniger Produktion stattfindet, und die Geldnot, in die weite Teile der Bevölkerung geraten, wird Handel und Produktion zusätzlich zu schaffen machen, was dann wiederum …
Auch die Linke hielt sich an das Tabu und tat so, als hätten die Energieprobleme rein gar nichts mit den Sanktionen zu tun. Frau Lötzsch blieb brav auf Linie und wollte nur, dass der Staat „einen Teil der Kosten“ finanziert. Und der Abgeordnete Gremmels (SPD) schlug vor, man solle doch Beschränkungen für Balkonsolaranlagen aufheben. Das wird sicher im kommenden Winter zu großen Erleichterungen bei den Stadtbewohnern führen. Schließlich ist dann an sonnigen Tagen wenigstens mal das Handy geladen.
Es kommt einem vor wie in dem alten Science-Fiction-Film „Die Frauen von Stepford“. In diesem Film zieht ein Paar in einen Vorort; die Frau freundet sich mit einigen Nachbarinnen an, aber nach einiger Zeit verwandeln sich diese alle nacheinander in biedere Hausmütterchen, die nur noch Kochen, Backen und Putzen im Sinn haben. Schließlich findet sie heraus, dass die Männer alle ihre Frauen entsorgt und durch Roboter ersetzt haben.
So war das schon in der Debatte zur Energie. Als habe man sie alle durch NATO-Roboter ersetzt, die sich schon deshalb nicht zur Wirklichkeit verhalten, weil ihre Programmierung das nicht vorsieht. Noch nie hat eine deutsche Regierung in so kurzer Zeit eine solche Zerstörung angerichtet, aber die Abgeordnetenroboter haben in ihrer Programmierung keine Krise vorgesehen, kein Mitgefühl, keine Verantwortung.
Das darauf folgende Schaulaufen zum Antrag der CDU, Kampfpanzer in die Ukraine zu liefern, war dann der Moment, in dem die Programmierung der Roboter ganz die Kontrolle übernahm. Natürlich lieferten sich die Regierungsparteien und die CDU kleine Gefechte zur Frage, ob man die Panzer gleich liefern solle oder erst, wenn die US-Amerikaner das auch tun; als entspräche es dem Bedürfnis der Deutschen, sich zwischen Krieg oder noch mehr Krieg entscheiden zu dürfen. Und dass die „Offensive“ bei Isjum als großer Sieg der Ukraine gesehen wird (ja, sie scheinen es tatsächlich zu glauben) und niemand dieses klitzekleine Problem Friedensvertrag/Waffenstillstand anspricht – eine weit überwiegende Mehrheit hat sich in der Vorstellung eingerichtet, Deutschland sei auf dem Weg zu einer ganz großen Führungsrolle in der Welt, und die Ukraine sei dabei zu siegen.
Es ist dieser Wahn, der sie davon abhält, die Bedeutung der Referenden zu begreifen. Der CDU-Abgeordnete Wadephul wirft der Bundesregierung vor, „eine tiefe Spaltung Europas“ zu verursachen, weil sie nicht sofort das tut, was Polen und die Baltenstaaten gerne hätten, und die SPD-Sprecherin Heinrich wähnt, die Ukraine sei mithilfe der deutschen Waffen „so erfolgreich, dass Putin sich zur Teilmobilisierung und zu übereilten Referenden gezwungen fühlte“.
Man würde gerne dazwischenschreien. Und es läuft die ganze Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte, die Medienlandschaft und Politik so veränderten, vor dem inneren Auge ab; wie unter Schröder alle Medien einander immer gleicher wurden und soziale Themen weitgehend verschwanden, und wie sich Medien und Politik nur noch wechselseitig spiegeln, aus immer geringerer Distanz, und jede Luke, durch die Realität eindringen könnte, sorgfältig abgedichtet wird. Jetzt senden die Sender, was die Politiker sagen sollen, und dann noch einmal, wenn sie es gesagt haben, wobei die einen so tun, als wären sie das Volk, und die anderen so tun, als verträten sie es, aber eben nur das, das sich aus den Aussagen der Medien basteln lässt. Also ist ganz Deutschland für Panzer für die Ukraine, die einen sofort und die anderen ein bisschen später.
Omid Nouripour bestätigte nebenbei noch die Leidenschaft der Grünen für Denunziation und forderte tatsächlich die CDU auf, zu einem „Bericht von Correctiv“ Stellung zu nehmen, der enthüllt hätte, dass jemand, der an Nord Stream verdient habe, Mitglied der CDU sei. Das passt zu seinem Wirtschaftsminister Robert Habeck und dessen Jagd auf russische Spione in seinem Ministerium. Vielleicht arbeitet er ja zusammen mit Correctiv bereits an einer deutschen Version der Mirotworez-Liste.
Strack-Zimmermann war ähnlich unappetitlich, zumindest wenn man zuvor die Bilder zerfetzter Körper aus Donezk gesehen hat, das gerade mal wieder in den Genuss von NATO-Granaten kam: „An jedem Tag töten russische Soldaten unschuldige Menschen.“ Russische Menschen können umgekehrt offenbar nicht unschuldig sein, sie sind schließlich Russen. Während Ukrainer selbstverständlich tapfere Demokraten und absolute Unschuldsengel sind, selbst wenn auf ihrer Haut zwischen Hakenkreuzen und Nazisprüchen kein Platz mehr ist.
Wobei Strack-Zimmermann zu ihrer Entlastung immerhin anführen kann, sie sei schließlich Rüstungslobbyistin und werde für sowas bezahlt. Was sie selbst glaubt oder denkt, ist ihr vermutlich egal, solange die Schecks nicht ausbleiben. Das kommt mir, verglichen mit wirklich Gläubigen wie Nouripour, der es nötig fand, zu betonen, dass die Grünen schließlich schon auf dem Maidan „zur Ukraine standen“, fast unschuldig vor.
Zwei halbe Gegenstimmen gab es noch. Eine von Alexander Gauland, der immerhin erklärte, „es ist einfach nicht wahr, dass in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird“, und der von Wirtschaftskrieg sprach, davon, die Flammen austreten zu helfen, statt sie zu schüren, aber den Kotau vor dem „verbrecherischen Angriffskrieg“ nicht lassen konnte. Die zweite von Ali Al-Dailami, der sagte: „Wenn sie ernsthaft an der Beendigung des Krieges interessiert sind, erfordert das eine verbale, aber auch materielle Abrüstung.“ Und der die 18 Panzerhaubitzen für 260 Millionen Euro rügte, die für die Ukraine bei der Rüstungsindustrie in Auftrag gegeben worden seien (die Aktien von Rheinmetall liegen derzeit gut im Rennen).
Das macht aber nicht wirklich glücklich zwischen all der Lobpreisung der „tapferen Ukraine“ und den Beteuerungen, man müsse den Bürgern „die Gewissheit geben, dass wir alle jetzt einen Preis für unsere Freiheit zahlen müssen“ (Nietan, SPD). Diese Art der Freiheit zwischen Black-outs, Kälte, Kriegsgeheul und Denunziation haben sicher die wenigsten bestellt; warum sollten sie dann dafür bezahlen?
Die Stimme, die dann wenigstens die Ehre rettete, war kaum zu hören, so laut wurden die Proteste der Mehrheit. Der inzwischen fraktionslose Abgeordnete Robert Farle war der einzige, der versuchte, ein paar der Tatsachen ins Gedächtnis zu rufen, die dem russischen Militäreinsatz vorausgingen. Dass die ukrainische Regierung schon 2019 erklärt habe, die Minsker Vereinbarungen nicht umsetzen zu wollen, und 2021 beschlossen habe, bei Gelegenheit die Krim erobern zu wollen. Zumindest kann der Rest der Anwesenden nicht behaupten, nichts gewusst zu haben. Sie wollten es nicht hören. So, wie sie nicht verstehen wollen, dass sie ein gefährliches Spiel treiben, und schon gar nicht begreifen, dass die Macht des Westens, an der sie so hängen, mit vielem zu tun hat, aber nicht mit Frieden, und für den größeren Teil des der Welt schon gar nichts mit Freiheit.
Farle zog über ein Direktmandat in den Bundestag ein; die AfD hatte ihn nicht aufgestellt. Dass es ein Mansfelder Abgeordneter ist, der der Wahrheit eine Stimme verlieh, als einziger, der ganzen Wahrheit, ohne Kniefall, das war der einzige Lichtblick. Ein Lichtblick, weil diese Gegend, eine der ältesten Bergbauregionen Deutschlands, eine lange Geschichte des Widerstands hat. Angefangen mit Thomas Müntzer. Die Mansfelder Kumpel waren ein aufrührerisches Völkchen, und aus dieser Gegend stammt auch die Geschichte der Fahne von Kriwoi Rog, eines Geschenks aus der Sowjetunion, das zwölf Jahre lang vor den Nazis versteckt wurde.
Kriwoi Rog ist der Geburtsort des ukrainischen Präsidenten Selenskij, eine sowjetische Bergarbeiterstadt. Die Fahne liegt heute irgendwo im Depot im Deutschen Historischen Museum. Aber dass gerade ein Abgeordneter aus Mansfeld in dieser Debatte die Stimme für die Nachfahren der Kumpels erhoben hat, die damals diese Fahne schickten; dass dieses Bild der Nähe und Verbundenheit damit wieder aufgegriffen wurde, bewusst oder unbewusst, das ist ein kleines Stück der Hoffnung.
Selbst wenn man sich heute Sorgen machen muss, ob dieser eine Abgeordnete mit Strafverfahren überzogen wird, wie augenblicklich alle, die es wagen, Gründe für den russischen Militäreinsatz zu benennen, und weil er den Kotau vor dem „verbrecherischen Angriffskrieg“ nicht vollzogen hat. Seit den Zeiten Müntzers steht Mansfeld für das bessere Deutschland, und auch wenn die Stimme schwach war, sie ist nicht verstummt.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
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