13. August 1961 – Einleitung einer Phase des Friedens
Rede von Liane Kilinc
Gehalten am 13.08.2022 auf einer Veranstaltung von ISOR e.V. und der NVA Traditionsverbände in Perleberg
Liebe Genossen,
wenn ich heute etwas zu den Ereignissen rund um den 13 August 1961 sagen soll, vergebt es mir bitte, wenn es mir nicht gelingt, das Damals vom Heute zu trennen.
Das mag schlicht daran liegen, dass ich zur damaligen Zeit noch nicht geboren war; aber es liegt auch daran, dass es gar nicht möglich ist, sich in ein historisches Ereignis rein (sauber) zu betrachten, außer, man will sich unter Historikern streiten.
Für politische Menschen ist es immer ein Beispiel, das andere Ereignisse aufruft, bei dem man sich fragt, welche Lehren gezogen werden könnten, und wie man es vor dem Spiegel der Gegenwart bewertet.
Es sind die Kämpfe dieser Gegenwart, die die Tage füllen, die die Herzen gefangen nehmen, und die uns nötigen, einen Weg zu finden.
Und das Auffälligste bei der Betrachtung der Vorgeschichte der Sicherung unserer Grenze sind die Ähnlichkeiten mit der Zeit vor dem Beginn des russischen Militäreinsatzes in der Ukraine.
Das wundert einen nicht, denn der wichtigste Gegner ist derselbe.
Doch damals gab es in den Vereinigten Staaten noch Verstand in einem Ausmaß, das man heute schmerzlich vermisst.
Denn auch wenn Teile der US-Verwaltung im Frühjahr und Sommer des Jahres 1961 alles daraufsetzten, Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion zu verhindern, fanden sie doch statt, und als unser Staat aus dem endlosen Prozess des wirtschaftlichen Ausblutens die Konsequenzen zog, hat der damalige US-Präsident Kennedy historischen Quellen zu Folge gesagt: „Keine besonders angenehme Lösung, aber eine Mauer ist verdammt viel besser als ein Krieg.“
Gäbe es heute noch eine solche politische Führung in den Vereinigten Staaten, die Minsker Abkommen wären umgesetzt worden. Oder es wäre zumindest eine Reaktion auf die russische Forderung erfolgt, die Ukraine nicht in die NATO aufzunehmen.
Denn im Februar 1961 hatte die Sowjetunion eine diplomatische Note an die USA geschickt, in der stand: „So darf es nicht weitergehen: Entweder man geht einer immer gefährlicheren Zuspitzung der Beziehungen zwischen den Staaten, militärischen Konflikten entgegen, oder man schließt einen Friedensvertrag“.
Das war das eigentliche Ziel der sowjetischen Seite: den unklaren Zustand beider deutscher Staaten durch einen Friedensvertrag beenden.
Ein Friedensvertrag, den es bis heute nicht gibt.
Die Reaktion der USA war zwiespältig.
Oder, anders gesagt, es zeigten sich zwei verschiedene Kräfte in der und um die Regierung. Kennedy traf sich im Juni mit Chrustschow in Wien und führte danach über John McCloy Verhandlungen.
Allan Dulles, immer noch Chef der CIA, schickte währenddessen ein Spionageflugzeug in den sowjetischen Luftraum, das abgeschossen wurde. Dulles, dessen Karriere in der Kanzlei Sullivan und Cromwell in New York begonnen hatte, die die Verträge zwischen den IG-Farben und Rockefeller ausarbeitete; Dulles, der in Bern kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs Verhandlungen mit der SS geführt hatte, der zehntausende Nazis und Nazikollaborateure protegierte und viele davon in die USA und in die CIA brachte.
Wenn das, was man den „tiefen Staat“ nennt, in den USA einen Vater hat, dann hieß er Allan Dulles.
Aber es gab eben auch einen Präsidenten Kennedy, der sich zwar zwei Jahre später in Berlin hinstellte und eine pathetische Rede hielt, nach der er ein Berliner sei, der aber genau wusste, was ein Krieg bedeutet, und in den entscheidenden Momenten den Verstand besaß, die Gefahr zu entschärfen.
„Keine besonders angenehme Lösung, aber verdammt viel besser als ein Krieg.“
Mit einem ähnlichen Satz hätten die USA auch einer Neutralität der Ukraine zustimmen können.
Der Vorlauf zur Zuspitzung der Krise war ähnlich, auch wenn sich die Mittel unterschieden.
Im Donbass wurde acht Jahre lang ohne Unterbrechung geschossen und die DDR war das Ziel wirtschaftlicher Kriegsführung.
Aber in beiden Fällen wurde ein rechtlich unscharfer Zustand genutzt, um Aggressionen zu verüben, und in beiden Fällen endete das erst, als die andere Seite zu entschlossenen Maßnahmen griff.
Oder es wird erst enden.
Es gibt ein Dokument des DDR-Finanzministeriums vom 7. Dezember 1963, in dem dieses versuchte, die Verluste, die der Wirtschaftskrieg der westlichen Seite verursachte, zu berechnen. Das war nur bei einem Teil der Positionen möglich; der Wert gestohlener Patente oder die Verluste aus Sabotageakten erwiesen sich als nicht berechenbar.
Für die Zeit von 1950 bis zum 13.08.1961 spricht dieser Bericht von Verlusten durch Wanderung und dadurch ausgelösten Produktionsausfall in Höhe von 16,4 Milliarden, Erziehungs- und Ausbildungskosten, die der Volkswirtschaft verloren, gingen, in Höhe von 42,4 Milliarden, Produktionsausfall durch Grenzgänger, die oft im Osten lebten und im Westen arbeiteten, in Höhe von 3,9 Milliarden und Verluste durch Währungsspekulation und Schmuggel in Höhe von 17,5 Milliarden.
Insgesamt sind das über achtzig Milliarden, die einer Volkswirtschaft entzogen wurden, die zuvor schon die gesamten Reparationsleistungen an die Sowjetunion allein hatte tragen müssen.
Ich habe etwas suchen müssen, um diese Zahlen in ein fassbares Verhältnis zu bringen, konnte aber für das Jahr 1961 auf die Schnelle keine Zahlen über den Staatshaushalt finden. Aber ich habe sie für das Jahr 1970 gefunden.
Neun Jahre später. Im Jahr 1970 betrug der gesamte Staatshaushalt der DDR nicht ganz 70 Milliarden Mark.
Das heißt, für die Jahre von 1950 bis 1961 betrugen die Verluste aus der Abwerbung von Arbeitskräften und den anderen Posten mindestens ein Zehntel des Staatshaushaltes, jährlich. Das ist ein enormer Schaden.
Ein Schaden, den die heutige Bundesrepublik nach wie vor gerne anderen Ländern zufügt.
Man denke nur an die ständigen Versuche, ausgebildete Pflegekräfte abzuwerben.
So, wie damals das Wachstum in der Bundesrepublik dadurch gefördert wurde, dass sie sich als Parasit beim Bildungssystem der DDR bediente, bedient sie sich noch heute.
In Osteuropa, auf dem Balkan, bis nach Lateinamerika.
Noch.
In vielen Fällen wird dadurch die medizinische Versorgung der dortigen Bevölkerung bedroht. Sie würden vermutlich gerne ihre Grenzen schließen, aber es fehlt ihnen ein entscheidender Faktor: die Souveränität.
Ich denke, es dürfte allen klar sein, warum meine Gedanken an diesem Wort hängenbleibt.
Die Schließung der Grenze war damals der Akt, der die Souveränität der DDR zu einer unbestreitbaren Tatsache machte.
Die westliche Republik konnte ihre Doppelstrategie nicht mehr fortsetzen, einerseits unseren Staat auszubluten und andererseits so zu tun, als gäbe es ihn nicht.
Die unmittelbaren Ziele wurden erreicht.
Das Ausbluten hörte auf, und die BRD bequemte sich bald zu Verhandlungen.
Die Wirtschaft unseres Landes konnte in Ruhe aufgebaut werden und der Konflikt zwischen den beiden Blöcken war vorerst entschärft.
War das nun ein Sieg oder eine Niederlage?
Da wird die Frage schwierig.
Auf jeden Fall kann man sich nicht auf die Sicht einlassen, das habe dem Westen die Propaganda gegen die DDR erleichtert.
Ohne die Grenzschließung hätte er sie in absehbarer Zeit nicht mehr benötigt.
Das wäre dann die zweite große Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung nach dem zweiten Weltkrieg geworden; die erste war schon die Gründung des westlichen Separatstaats.
Wären es die sowjetischen Pläne gewesen, die im August 1961 umgesetzt worden wären, die eine Einschließung Westberlins durch sowjetische Truppen vorsahen, hätte das tatsächlich in einem Krieg enden können.
Das mildere Mittel hat den Frieden bewahrt.
War dieser Frieden es wert?
Wenn ich an den Donbass denke, dieses kleine Fleckchen Erde, mit dem ich in den letzten acht Jahren so viel zu tun hatte, waren die Minsker Vereinbarungen es wert?
Diese acht Jahre eines Nichtfriedens, in dem doch Tag für Tag Granaten niedergingen?
Manchmal kann die Frage so gar nicht gestellt werden.
Denn wenn man heute in den Donbass blickt, sieht man, dass die russische Armee jetzt definitiv bereit war.
War sie es 2014?
Wie war das 1918 mit dem Frieden von Brest-Litowsk?
Als die Entscheidung lautete, einen schlechten Frieden zu akzeptieren und aufbauen zu können, oder mit wehenden Fahnen unterzugehen?
Der Bruch, der sich bei dieser Debatte innerhalb der Bolschewiki auftat, besteht bis heute fort.
Die Konsequenz damals lautete: wenn man Anspruch auf die Macht erhebt und sich die Macht nimmt, dann ist man verpflichtet, im besten Interesse der Menschen zu handeln.
Die Schließung der Grenze war im besten Interesse der Menschen, also war sie legitim; sie sicherte einen schlechten Frieden, aber ohne ihn wären die folgenden dreißig Jahre nicht möglich gewesen.
Und dieser Schritt hatte, das wird gerne übergangen, Folgen für die Westrepublik. Deren Gesellschaft so massiv zwischen Arm und Reich trennt wie kaum eine andere im Westen; in der Klassenzugehörigkeiten vererbt werden und Eheschließungen außerhalb der eigenen Klasse selten sind.
Als der Nachschub an ausgebildeten Kräften aus der DDR ausblieb, mussten im Westen die Universitäten geöffnet werden; es gab eine kurze Phase, in der sich die Studentenschaft mischte, und diese kurze Phase hat gewaltig zu jener anderen kurzen Phase demokratischer Öffnung beigetragen, die die Bundesrepublik Ende der 1960er erlebte. Die die Macht der alten Nazieliten zwar nicht brechen, aber doch zumindest zurückdrängen konnte.
Mit ein wenig Unterstützung aus der DDR, versteht sich.
Wenn man den heutigen Zustand Deutschlands betrachtet, sieht man, wie sehr die DDR fehlt.
Wie sehr sie dafür gesorgt hat, dass politische Auseinandersetzungen auch in der BRD von Vernunft geprägt waren. Mehr noch, wie sehr sie dafür gesorgt hat, überhaupt eine politische Landschaft zu erhalten, den Raum für ein Stück normale bürgerliche Demokratie zu schaffen.
Wenn man sieht, wie sehr die ganze politische Szenerie inzwischen von Konzernen, ihren Stiftungen und Spenden und andererseits von den Agenten der verschiedensten Art beherrscht wird, inländische wie ausländische, und wie inzwischen die absolute, permanente emotionale Überwältigung die politische Auseinandersetzung ersetzt hat; wie die Interessen der unteren Klassen völlig aus der Wahrnehmung verschwunden sind und es auch keine Möglichkeit besteht, sie zu organisieren, dann erkennt man, wie gewaltig der Anteil der DDR selbst im Westen war.
Es war nicht nur die Schaufensterfunktion. Das wurde schnell genug leergeräumt nach 1989.
Wenn man sieht, wie heute politisch entschieden wird, wird es schon schwer, noch den ideellen Gesamtkapitalisten zu entdecken, der eigentlich dafür zu sorgen hat, dass Straßen befahrbar sind und Züge ihre Ziele erreichen. Oder Flughäfen, die benötigt werden, auch zeitnah gebaut werden.
Man kann das der neoliberalen Ideologie zuschreiben, aber das ist zu kurzgefasst. Auch die ist nur ein Werkzeug.
Dahinter steckt die finale Krise des Kapitalismus, der, und das ist zentral, wenn man begreifen will, woher dieser Drang zum Krieg rührt und warum diese Bundesregierung weit weniger souverän ist als es die DDR je war, seit Anfang der 1970er in eine Phase extremer Überakkumulation eingetreten ist, die nur dadurch unter Kontrolle gebracht wurde, dass man eine gigantische Rentenökonomie schuf, die von schlichter Immobilienspekulation über privatisiertes Gesundheitswesen, fast die ganze Internet- und Softwarewirtschaft inzwischen bis zur Besteuerung der Luft über CO2-Abgaben reicht, und die gerade versucht, ihre Zukunftsvision durchzusetzen, die ein grünes Etikett trägt und in Wirklichkeit nur eines bedeutet: das Problem, dass die Produktivkräfte die Produktionsverhältnisse sprengen wollen, durch völlige Kastration der Produktivkräfte zu lösen.
Die Folgen der gegen Russland verhängten Sanktionen sind für diese Visionäre des Rückwärtsgangs Bejubelns wert.
Ohne verlässliche Energie gibt es keine Industrie; die DDR konnte davon ein Lied singen.
Lenin schrieb über den Imperialismus, das Finanzkapital ordne sich den Staat unter.
Das Finanzkapital als Amalgam, zwischen dem Industrie- und dem Bankkapital ist inzwischen in den Hintergrund getreten; vor allem das Industriekapital hat an Relevanz verloren.
Auch, weil die Eigentümer des Industriekapitals selbst natürlich in den letzten fünfzig Jahren immer größere Teile ihrer Erträge aus dieser Rentenwirtschaft zogen; also der Vorstandsvorsitzende von BASF es nicht lustig findet, die Anlagen herunterfahren zu müssen, die Eigentümer das aber gern in Kauf nehmen, wenn nur die Rentenwirtschaft weiterläuft.
Eine Rentenwirtschaft, die zu guten Teilen darauf beruht, dass Produktion ausgelagert wurde; dass der Mehrwert nicht nur andernorts erzeugt, sondern sogar noch andernorts realisiert und erst dann abgezogen wird, weil nennenswerte Profite nur als Extraprofite zu haben sind.
Es ist genau der Moment, an dem die tote Arbeit ihre Hände um den Hals der lebenden legt und ihr die Kehle zuschnürt.
Aber, so sind die kleinen Scherze der Dialektik, genau in diesem Moment, da im Westen jeder Rest Souveränität, selbst jeder Rest Vernunft ausgelöscht zu werden scheint, ist der Rest des Planeten gerade dabei, die Souveränität zu entdecken.
Denn nicht nur hat der Export der Produktion massenhaft Produktionsmittel an Orten verteilt, an denen der Eigentumsanspruch nur schwer, im Bedarfsfalle nämlich nur militärisch, durchzusetzen ist; die Tatsache, dass Waren nicht nur außerhalb produziert, sondern auch noch außerhalb verkauft werden, lieferte die Grundlage dafür, dass die Staaten, in denen sie angesiedelt sind, entscheiden können, auch den realisierten Mehrwert behalten zu wollen; und wir bekommen gerade in der Ukraine vorgeführt, dass der Westen mit der Industrie auch die technische Möglichkeit verloren hat, die Rentenansprüche durchzusetzen.
Es ist eine Welle der Souveränität, die durch Afrika, Asien und Lateinamerika läuft, deren Wucht größer und dauerhafter ist als jene nach dem zweiten Weltkrieg.
Und welche Folgen hat diese Welle der Souveränität?
Keine anderen als die Schließung der Grenze 1961 sie auch hatte.
Land um Land kehrt sich vom Westen ab, wird seine Grenzen nicht nur für westliche Waren, auch für westliches Geld schließen und wird sich daran machen, in Ruhe seine eigene Wirtschaft aufzubauen.
Ohne beständig ausgeblutet zu werden, ohne stetig die besten Köpfe zu verlieren.
Und auch, ohne dem Gesellschaftsmodell des Westens, seiner vermeintlichen Freiheit, hinterherzujagen.
Man muss es nüchtern sehen – so sehr es momentan scheint, als wären die fast dreißig Jahre zwischen 1961 und 1989 vergeblich gewesen – in der weltweiten Sicht, vom heutigen Standpunkt aus, war das eine nötige Phase des Friedens, die dafür sorgte, dass jetzt mit der Volksrepublik China und mit dem heutigen Russland, auch wenn es nicht sozialistisch ist, Kräfte bereitstehen, die all den Ländern, die gerade ihre Souveränität wiederentdecken, den Rücken stärken können.
War es also eine Niederlage, damals, 1961, dass die Grenze geschlossen werden musste?
Ich denke, wenn es der Menschheit gelingt, diese augenblickliche Krise heil zu durchschiffen, wird sich diese Frage niemand mehr stellen.
Denn jeder einzelne Schritt wird sich nur noch eingliedern in das Vorspiel der gewaltigen Befreiung.
Was unser eigenes Land betrifft, bleibt vorerst nur die Hoffnung, dass doch erst das Fressen kommt und dann die Moral, sprich, dass kein Propagandaapparat mächtig genug ist, um über leere Teller und kalte Wohnungen hinwegzutäuschen, und schon gar nicht über eine fundamentale Niederlage.
Und dass dann, angetrieben von den unmittelbaren Interessen der Mehrheit, die deutsche Souveränität wieder erstehen kann, auf der einzigen Grundlage, auf der sie möglich ist, der des Volkes.
Liane Kilinc ist Vorsitzende des Vereins „Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V.“ und Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild: Staatsgrenze der DDR am Brandenburger Tor, Juni 1976
Foto: I. Metzner, CC BY-SA 3.0
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