Empfehlung der ARD: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Nun hat auch die Tagesschau schon einmal vorab erklärt, was man von möglichen zukünftigen Protesten gegen solidarisches Frieren zu halten habe. Und sie preist ein gutes, altes deutsches Modell, dessen Ende vor fünfzig Jahren vorschnell bejubelt wurde: den Untertan.
von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 04.08.2022 auf RT DE
Würde es noch Sinn machen, der jetzigen politischen Klasse und der sie begleitenden Medienmeute einen Grundkurs Demokratie zu verpassen? So zwei Wochen etwa, in denen man Begriffe wie „Volkssouveränität“ und „demokratischer Diskurs“, Versammlungs- und Vereinigungsrecht mal gründlich durchkaut und am Schluss ein paar Prüfungsfragen beantworten muss? Ich fürchte, das wäre vergebene Liebesmüh.
Denn sie haben sich längst auf einen Blick geeinigt, in dem es nur eine nicht anzuzweifelnde Obrigkeit und Untertanen gibt, die sich schicken sollen. „Hier ist er ganz in seiner Sucht, zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Rohheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolgsanbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit.“ Das schrieb Kurt Tucholsky über den „Untertan“ von Heinrich Mann, aber er ist wieder Fleisch geworden und prägt den Alltag der deutschen Republik.
Ehe wir uns das konkrete Beispiel betrachten, erst eine kurze Wiederholung des gegenwärtigen Zustands: Es droht ein Winter des Frierens, nicht aufgrund einer Naturkatastrophe, sondern weil Regierung und Parlament in der Erwartung, Russland zu treffen, Sanktionen verhängt haben, die für Deutschland katastrophal sind. Regierung und Parlament sollen den Willen des Volkes ausführen bzw. vertreten. Wenn das Volk zu dem Schluss kommt, dass diese Entscheidungen nicht in seinem Sinne oder gar in seinem Interesse sind, hat das Volk jedes Recht, diesen Willen nicht nur zu bekunden, sondern auch, ihn durchzusetzen. Nur mal so als Erinnerung, was das Wort Demokratie bedeutet.
Michael Stempfle, ARD-Journalist im Berliner Hauptstadtstudio, befasste sich mit der Frage: „Steigende Preise: Droht ein Herbst radikaler Proteste?“ Und er fängt schon an wie ein guter Untertan: „Politiker der Ampel-Regierung befürchten, dass steigende Gas- und Lebensmittelpreise zu sozialen Unruhen im Herbst führen könnten. Die Sorge dahinter: Die Demonstrationen könnten – ähnlich wie bei den Protesten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen – erst von Extremisten unterwandert und die Demonstranten dann gegen den Staat aufgehetzt werden.“
Nun waren die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen friedlich und unschuldig, wenn auch vielfach Ziel massiver Polizeigewalt; die Radikalität liegt hier allein im Auge des Betrachters. Warum er in ihnen Radikale sieht, zeigt sich in der Formulierung „gegen den Staat aufgehetzt werden“.
Der Souverän, Herr Stempfle, ist der Staat. Nicht die Regierung, nicht die Polizei, auch nicht die Hauptstadtpresse. Sie meinen nicht „den Staat“, Sie meinen die Exekutive und deren Beschlüsse, also die Regierung. Und dass Sie glauben, Demonstrationen könnten von „Extremisten unterwandert“ werden – nun ja, die Demonstrationserfahrungen von Oberschichtsöhnen mit glatter Karriere und Seitenscheitel halten sich gemeinhin in engen Grenzen.
Als das letzte Mal mit annähernd so etwas wie Berechtigung von „von Extremisten unterwanderten“ Protesten die Rede war, ging es um Gorleben, vor etwa fünfzig Jahren. Damals hielt sich der KBW eine recht straff organisierte Schlägertruppe, die bei den dortigen Demonstrationen einschlug. Wer Genaueres darüber wissen will, könnte Ralf Fücks oder Joscha Schmierer fragen. Bei so gut wie allen anderen Demonstrationen, die ich erlebt (und ich war im Verlauf mehrerer Jahrzehnte auf einigen) oder von denen ich zuverlässige Berichte habe, ging die Gewalt entweder von der uniformierten Polizei aus (und löste Gegenreaktionen aus) oder von der nicht uniformierten, sprich, getarnten oder freien Mitarbeitern, war also in jedem Fall gewollt.
In den Fällen, in denen es zu keinen unfreundlichen Akten der staatlichen Gewalt kommt, verlassen die Menschen in der Regel die Demonstration mit ebenjenen Überzeugungen wieder, die sie schon mitgebracht haben. Die einzig wirkungsvolle Methode, die Überzeugungen von Demonstranten, die staatliche Gewalt betreffend, im Verlauf einer einzigen Demonstration zu ändern, liegt im Einsatz dieser staatlichen Gewalt.
Natürlich findet Herr Stempfle Zeugen, die ihm seine Wahnvorstellungen bezüglich plötzlich radikalisierter politischer Überzeugungen bestätigen. Dabei ist er völlig humorfrei. Er zitiert Demonstrationsbezeichnungen aus der „Woche der Demokratie“ namens „Revolte“, „Aufstand“ und „Bürgerkrieg“, ohne zu erkennen, dass diese Bezeichnungen selbst Ironisierungen dessen sind, was er und seinesgleichen schon vorab über Demonstranten verbreiten. Herr Stempfle, ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Zu einem Bürgerkrieg geht man bewaffnet. Dieser Unterschied ist leicht festzustellen.
„Umsturzfantasien“ darf das bei ihm dann Pia Lamberty nennen. In den Augen dieser Generation von Obrigkeitspriestern war die „Freie Republik Wendland“ vermutlich eine separatistische Bewegung.
Die „multiple Krisenlage“, so diese Dame, die angeblich einen „Thinktank“, eine Denkfabrik, leitet (das zuständige Gehirn hat sie vermutlich im Kühlschrank liegen lassen), bestehend aus „Krieg, Klima und Corona“, lasse sich besonders gut ausnutzen.
Nun denn, möchte man zurufen, die Kuh kriegt man doch ganz leicht vom Eis! Weg mit den Corona-Maßnahmen und vor allem mit den irrwitzigen Sanktionen, und alles wird gut! Aber das ist das Spannende an Stempfle und seinen Zeugen, dieser Gedanke kommt nicht.
Der sächsische Innenminister Schuster denkt auf denselben Gleisen. „Auf der einen Seite gebe es Bürger, die Existenzängste haben – etwa, weil sie nicht wüssten, ob sie ihren Job behielten und wie sie am Ende des Jahres ihre Rechnungen begleichen sollten. Hier müsse der Staat helfen.“
Erkannt? „Der Staat“ ist eine völlig von diesen Bürgern abgekoppelte Einheit, die mitnichten etwas mit dem Willen dieser Bürger zu tun hat, sondern über ihnen schwebt, absolute Entscheidungsgewalt besitzt, aber doch gelegentlich ein paar Almosen verteilen sollte, um die „Bürger, die Existenzängste haben“, ruhig zu halten. Denn beim braven Bürger ist es nur Angst, die ihn umtreibt, nicht Empörung oder gar das Verlangen, seine Interessen verwirklicht zu sehen statt jener der Vereinigten Staaten. Wollen tun nur „Gruppierungen, Aktivisten, Parteien“, die „mobilisieren und verhetzen“.
Jetzt mal ganz ruhig, Herr Schuster und Herr Stempfle. Das Mobilisieren, das übernehmen Sie schon selbst. Das macht der Herr Habeck, der Bundesschimmelminister, mit seiner Drohung mit ungeheizten Wohnungen, das machen die Preise im Supermarkt, und das macht die ungeheure Heuchelei, mit der auf der einen Seite für die Ukraine auf die Tränendrüse gedrückt und auf der anderen Seite die eigene Bevölkerung drangsaliert wird. Kein Flugblatt, keine Partei, keine Organisation mobilisiert so gut wie die Wirklichkeit.
Das Beispiel, das Stempfle bringt für den in seinen Augen gefährlichen Protest, sind die Pfiffe, die Habeck auf seiner Sommertour einfing. Er hat sie sich ehrlich verdient, oder? Nein, Stempfle zufolge hat das Volk stumm zu leiden und alles geduldig zu ertragen, das die Regierung ihm aufnötigt.
„Die Gegendemonstranten sprachen sich lautstark für die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 und gegen Russland-Sanktionen aus.“ Soweit berichtet er noch eine Tatsache. Und nun kommt der Spin, die propagandistische Drehung, mit der er seine Leser auf die Seite der Obrigkeit zwingen will: „Anders ausgedrückt: Sie zeigten sich solidarisch mit Putin, mit dessen autoritärem System – brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine hin oder her.“
Ich persönlich fände es nicht unerfreulich, wenn tatsächlich alle Demonstranten gegen Habeck auch erkannt hätten, wer den Krieg in der Ukraine eingerührt hat. Aber ich zweifle daran, dass diese Bewertung stimmt. Sie wollen schlicht im Winter nicht frieren. Das ist simples, unmittelbares, eigenes Interesse, das der Souverän, das Volk, in diesem Fall per Pfeifkonzert zum Ausdruck gebracht hat.
Der brave Untertan, der jeden Verrat seiner Interessen an die Vereinigten Staaten klaglos erleiden soll, bekommt hier signalisiert, wo der Feind steht. Und schon ist die simple Aufforderung, eine unnötige, sinnlose Quälerei, die nebenbei die deutsche Wirtschaft ruiniert, zu beenden, ein Pakt mit dem Bösen, das, wie seit Monaten verkündet wird, immer und nur aus dem Osten kommt.
Dann gibt es einen „Rechtsextremismus-Forscher“, der es auch ganz klasse findet, mögliche Demonstranten schon einzusortieren, ehe sie auch nur einen Fuß auf die Straße gesetzt haben. „Schließlich gehe es darum, ob es den Gewerkschaften und Sozialverbänden gelingen werde, den Ärger über die Preisentwicklungen in demokratische Bahnen zu lenken, um dann für soziale Gerechtigkeit und Umverteilung zu kämpfen.“ Mit Demonstrationen wohl eher nicht, ist gemeint. Mit angemessen hohen Tarifforderungen vermutlich auch nicht. Nein, die Bürger sollen sich schlicht nicht selbst bemühen, sondern sich einreden lassen, andere würden das für sie regeln, in diesem Fall eben Sozialverbände und Gewerkschaften. Und der „Kampf für soziale Gerechtigkeit und Umverteilung“, wie läuft der ab? Auf der Straße, in den Betrieben? Nein, so meint das dieser Herr nicht. Schön brav am Verhandlungstisch. Sonst setzen sich die „Verfassungsfeinde mit ihrer Putin-freundlichen, antiliberalen Haltung“ durch.
So mangelhaft das Grundgesetz als Verfassung auch ist, und so betrüblich die Tatsache, dass es nicht, wie erforderlich, durch eine echte Verfassung ersetzt wurde – darin ist weder Liberalismus als Staatsdoktrin festgelegt, noch immerwährende Feindschaft mit allem Russischen, und schon gar keine spezifische Wirtschaftsordnung. Aber heute gilt: Die Verfassung ist, was die Regierung dazu erklärt.
„Die Politik müsse Räume für Proteste schaffen, die den demokratischen Spielregeln folgen“, wird dann wieder Lamberty zitiert und schlägt „Klimaräte“ vor. Und Herrn Stempfle fällt nichts auf. Er kennt vermutlich das Grundgesetz nicht näher und ist deshalb mit einem Standpunkt bezüglich demokratischer Spielregeln etwas überfordert.
Nur noch einmal als kleiner Hinweis: Es gibt ein Grundrecht, sich zu versammeln. Unter freiem Himmel. Zumindest solange dies unbewaffnet erfolgt. Das Corona-Theater hat in dieses Grundrecht massiv eingegriffen, und das Verfassungsgericht ist inzwischen derart auf den Hund gekommen, dass es dazu nur brav mit dem Schwanz gewedelt hat, aber es gibt dieses Grundrecht dennoch.
Es gilt auch für bewegliche Versammlungen, vulgo Demonstrationen. Sie sind ein legitimes und demokratisches Mittel. Der Raum für Proteste nennt sich öffentlicher Raum, und er besteht aus Straßen und Plätzen. Demokratie ist keine Veranstaltung für kleine Gruppen in geschlossenen Räumen (ich kann schon vor mir sehen, dass Frau Lamberty ihre „Klimaräte“ auch noch mit Masken vor dem Gesicht visualisiert hat). Der Souverän kann und darf seinen Willen direkt und unmittelbar kundtun. Nur der Untertan darf das nicht.
Das ganze restliche Gesülze kann man sich durchaus schenken. Frau Faeser will noch mehr Geld ausschütten, vermutlich, bis alle Antideutschen mit staatlichen Stellen versorgt sind und Welt und Wahrheit erklären dürfen, der sächsische Innenminister will einen Krisenstab … nur das Hauptproblem, den Kältewinter, zu lösen, das beabsichtigt keiner von ihnen. Nur ruhigstellen wollen sie. Zuquatschen. Dabei gibt es doch den hübschen Satz von Brecht, dass ein Geschwätz nicht satt macht.
Wie schrieb Tucholsky? „Sie können alle nur ihre Pflicht tun, wenn man sie ducken und geduckt werden lässt; unzertrenntlich erscheint Bildung und Sklaventum, Besitz und Duodezregierung, bürgerliches Leben und Untergebene und Vorgesetzte.“ Wenn Sie nicht wissen sollten, wer Tucholsky war, Herr Stempfle, er lässt sich googeln.
Immerhin, nachdem Herrn Stempfle die Ironie des „Aufstands“ schon völlig entgangen ist, liefert er in Gestalt eines Zitats des sächsischen Innenministers am Schluss zum Ausgleich einen unfreiwilligen Scherz. „Die Qualität des Krisenmanagements der Bundesregierung wird für das Ausmaß der Existenzängste und damit möglicher sozialer Proteste mitentscheidend sein.“
Krisenmanagement? Da lachen nicht nur die Hühner, da lachen selbst die Regenwürmer. Die einzige Art von Krisenmanagement, die diese Bundesregierung wirklich exzellent beherrscht, ist die Erzeugung von Krisen.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
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