Einmischung „mit Fingerspitzengefühl“
Die EU und der italienische Patient
Der Sturz der Regierung Draghi hat in Brüssel und Berlin zu Schweißausbrüchen geführt. Wie geht es weiter mit dem italienischen Patienten? Und wie kann das Land auf dem – aus Sicht der EU-Bürokratie – richtigen Kurs gehalten werden?
von Pierre Lévy
Erstveröffentlichung am 06.08.2022 auf RT DE
Am 21. Juli stürzte die italienische Regierung. Ihr Chef, Mario Draghi, wurde von drei der Parteien, die die Mehrheit bildeten, fallen gelassen und reichte seinen Rücktritt ein. Während Staatspräsident Sergio Mattarella eine Woche zuvor noch versucht hatte, den Rücktritt abzulehnen, in der Hoffnung auf eine combinazione in letzter Minute, blieb ihm diesmal keine andere Wahl, als den Rücktritt anzunehmen. Die Wähler auf der Halbinsel werden am 25. September an die Urnen gehen.
Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass dieses Ereignis in Brüssel und in den großen europäischen Hauptstädten kalte Schweißausbrüche verursacht. „Ein regelrechter Sturm“ ist nun der Ausdruck, der in den Korridoren der Europäischen Kommission und in der Mainstream-Presse auftaucht. In einem Leitartikel von Le Monde (21. Juli 2022) hieß es:
„Der Zeitpunkt hätte für Italien, die Eurozone und die gesamte Europäische Union nicht schlechter sein können.“
„Die Stürme häufen sich“, so die französische Tageszeitung weiter. Und sie erinnert an den Kontext: ein Land, dessen Wirtschaft erheblich unter COVID-19 gelitten hat; das mit einer beträchtlichen Staatsverschuldung belastet ist; das von wieder stark steigenden Anleihezinsen betroffen ist; das unter einer stark ansteigenden Inflation leidet, und dem eine Gasknappheit aus Russland droht, von dem es besonders abhängig ist.
Zwar ist – in unterschiedlichem Maße – die gesamte Europäische Union von diesen Bedrohungen betroffen. Aber das gilt besonders für die drittgrößte Volkswirtschaft der EU. Italien ist übrigens neben Spanien der größte „Nutznießer“ des von der Europäischen Kommission gesteuerten Konjunkturprogramms: Rom wurden 69 Milliarden Euro an Zuschüssen und 123 Milliarden Euro an zinsgünstigen Krediten zugesagt. Aber nur ein kleiner Teil dieser Summe wurde bislang überwiesen. Denn Brüssel nimmt – wie bei den anderen Ländern – eine Auszahlung in Tranchen vor, je nach Fortschritt der „Reformen“, die jedes Mitgliedsland im Gegenzug für die Zuschüsse versprochen hat.
In Italien gab es einen Mann, der die Garantie für die Einhaltung der europäischen „Empfehlungen“ verkörperte: Mario Draghi. Dieser war, nach seiner Zeit als Chef des italienischen Schatzamts, und danach bei Goldman Sachs, von 2011 bis 2019 Präsident der Europäischen Zentralbank. In der europäischen Legende wird er als der Zauberer beschrieben, der den Euro 2012 vor spekulativen Angriffen gerettet hat. Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass seine Präsenz an der Spitze der italienischen Regierung für Brüssel strategisch wichtig war.
Nun sehen die Wahlabsichten bis September die Partei „Die Brüder Italiens“, die oft als „postfaschistisch“ bezeichnet wird, an der Spitze; mit der Möglichkeit, ein Bündnis anzuführen, das zwei andere rechte Kräfte vereinen würde: die Lega, und Silvio Berlusconis Forza Italia. Zwar befürwortet keine dieser Parteien den Austritt aus der EU oder dem Euro; und „die Brüder Italiens“ machen aus ihrer atlantischen Gesinnung keinen Hehl. Aber egal: Wenn eine solche Koalition zustande käme, würden alle Brüsseler Hoffnungen in sich zusammenfallen, und zwar noch vor der ersten Amtshandlung einer solchen Regierung. Mit einem zweiten Orbán – und diesmal innerhalb der Eurozone – wären die Bausteine für das Auseinanderbrechen der EU vorhanden.
So weit ist es noch nicht. Aber um zu ermessen, was auf dem Spiel steht, muss man sich die Zuckungen der italienischen Politik im letzten Jahrzehnt vor Augen halten. Ein wichtiger Wendepunkt war 2018: Im Februar jenes Jahres fegte eine als „populistisch“ bezeichnete Wahlwelle über Italien hinweg. Diese führte zu einer undenkbaren Koalition aus den zwei großen Wahlsiegern: der als „linkes Anti-System“ eingestuften Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), und der oft als rechtsextrem abgestempelten Lega unter der Führung von Matteo Salvini.
Nach einem Moment der Panik in Brüssel beruhigte sich das Gespann, bevor es von Widersprüchen erschüttert wurde. Im Sommer 2019 vollzog der Regierungschef, Guiseppe Conte, der dem M5S nahesteht (und dessen Führung er später übernehmen wird), eine Bündnisumkehr: Er verband diese Bewegung mit der Demokratischen Partei („PD“, oft als „Mitte-links“ beschrieben) – ein Gespann, das unwahrscheinlich erschien. Und die Lega servierte er im Gegenzug ab.
Im Februar 2021 musste Conte allerdings feststellen, dass seine neue Mehrheit nicht mehr tragfähig war. Der sehr EU-freundliche Staatspräsident Mattarella machte sich diskret daran, eine Mehrheit zu bilden, die fast alle Parteien im Parlament umfasste – mit Ausnahme „der Brüder Italiens“. Ein wenig so, als ob in Berlin eine „große Koalition“ entstünde, die von der Linken bis zur AFD reicht. An ihrer Spitze also der Dottore Draghi, als Retter Italiens in der EU.
Sein „wundersames“ Auftauchen erinnerte an den Theatercoup vom November 2011. Damals regierte Silvio Berlusconi das Land. Der Medienmogul war zwar keineswegs antieuropäisch, aber unter dem Druck der Bevölkerung hatte er Schwierigkeiten, die von Brüssel auferlegten drastischen „Reformen“ umzusetzen – Reformen, die umso härter ausfielen, da Italien zu dieser Zeit Beute von Spekulationsangriffen wurde. In Wirklichkeit hatten Brüssel, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy hinter den Kulissen (auf einem EU-Gipfel) diesen schleichenden Staatsstreich inszeniert. Und schon damals gab es eine Wunderfigur, die die Führung der Regierung in Rom übernahm: den ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti. Monti und Draghi haben mindestens drei Eigenschaften gemein: Sie wurden nie gewählt, sie sind eng mit der Geschäftswelt verbunden, und vor allem waren sie Schlüsselfiguren in der Europäischen Union.
Dieser von außen betriebene Quasi-Putsch hatte weitreichende Folgen innerhalb des italienischen Volkes. Aus dieser Zeit stammt die Feindseligkeit gegen die europäische Integration in einem Land, das zuvor als besonders „europhil“ galt. Ähnlich wie damals, als die französischen und niederländischen Nein-Stimmen bei den Referenden über den Entwurf einer europäischen Verfassung im Jahr 2015 missachtet wurden – am Ende wurde ein entsprechender Vertrag (der sogenannte Lissabon-Vertrag) durchgesetzt.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs sind angesichts des italienischen „Rückfalls“ mehr als besorgt. Die Tageszeitung La Stampa glaubte sogar, den Grund für den Rückfall gefunden zu haben: Die politische Krise in Rom sei von Moskau aus gesteuert worden – eine Behauptung, die von den westlichen Medien weitgehend übernommen wurde. Diese „Erklärung“, die die politischen Widersprüche des Landes ausblendet, ist kaum glaubwürdig. Aber selbst wenn sie wahr wäre, ist die EU-freundliche Presse nicht in der Lage, sich über diese angebliche Einmischung zu empören, da sie Montis Fallschirmabwurf, der quasi von Brüssel aus gesteuert wurde, mit beiden Händen bejubelt hatte.
Die beginnende Panik der europäischen Politiker erklärt sich auch durch den Kontrast zwischen Mario Draghi, der einer der entschiedensten Verteidiger der ukrainischen Seite gegen Moskau war; und den Parteien, die gerade seinen Sturz herbeigeführt haben und die an der künftigen Regierung, die aus den Wahlen im September hervorgehen wird, beteiligt sein könnten: Die Lega und Forza Italia auf der einen Seite, die M5S auf der anderen, werden alle einer gewissen Nachgiebigkeit „pro-Putin“ bezichtigt. Und das in einem Land, dessen öffentliche Meinung als die am wenigsten antirussische innerhalb der EU beschrieben wird.
Unter diesen Umständen versteht man die Aufregung und die Ratschläge von Le Monde am Ende des bereits erwähnten Leitartikels:
„Es liegt an den pro-europäischen Italienern, sich zu mobilisieren, und an der EU, mit Fingerspitzengefühl zu handeln, um dieses Albtraum-Szenario zu verhindern.“
Die EU wird also aufgefordert, sich erneut einzumischen. Aber bitte diesmal „mit Fingerspitzengefühl“ …
Pierre Lévy (geb.1958 in Paris), früher Gewerkschaftsfunktionär der CGT-Metall, von 1996 bis 2001 Redakteur bei “L’Humanité“, der Tageszeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs, lancierte 2000 eine „radikal eurokritische, fortschrittliche Monatszeitung“ unter dem symbolischen Titel „Bastille-République-Nation“, die ab Frühjahr 2015 als „Ruptures“ (dt. „Brüche“) fortgesetzt wird, zusätzlich mit der Webseite: https://ruptures-presse.fr/. Die Monatszeitung vertritt eine konsequent fortschrittliche Linie der Verteidigung der Interessen der Arbeitswelt auf sozialem, wirtschaftlichem, wissenschaftlichem und technologischem Gebiet. Sie engagiert sich für nationale Souveränität und Selbstbestimmung. Besonderer Schwerpunkt ist die faktenreiche kritische Berichterstattung über die EU, einschließlich der Zurückweisung gerade der Prinzipien der europäischen Integration und der ewigen Illusionen über ein „anderes Europa“.
Bild: Mario Draghi, Februar 2021
Foto: Quirinale.it, Public Domain
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=99806183