Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Erinnerung an das Massaker in Odessa

Vor acht Jahren am 2. Mai 2014 starben über 40 Menschen durch rechte faschistische Gewalt. Aus diesem Anlass fand am 2.Mai 2022 eine Mahnwache am Brandenburger Tor in Berlin statt. Wir dokumentieren hier die Rede von Liane Kilinc, Vorsitzende des Vereins „Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V.“ und Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes in Berlin. 

Die Rede steht auch als Video zur Verfügung.

Video von AntikriegTV. Direktlink zum Video: https://www.youtube.com/watch?v=cup-4mvnZ6E

 

Liebe Freunde,

wenn ich das Kriegsgetöse höre, das gerade die deutsche Politik bestimmt, dass selbst um den Preis des eigenen Untergangs ‚Solidarität mit der Ukraine‘ üben will, dann denke ich, wo wären wir heute, hätte man damals nicht über Odessa geschwiegen.

Wir wären nicht an der Schwelle zum Weltkrieg oder schon halb darüber hinweg.

Aus heutiger Sicht begann der Weg, der in den Krieg führte, an diesem Datum. Auf vielfache Art und Weise.

Weil das Massaker, das am 2. Mai 2014 stattfand, zeigte, wer, oder besser, was da in der Ukraine Ende Februar an die Macht gekommen war.

Klar und deutlich.

Nicht nur in der Menschenmenge, die vor dem brennenden Gewerkschaftshaus „Heil der Ukraine“ rief;

und ich kann diesen Faschistengruß nicht hören, ohne die Bilder dieses Tages vor Augen zu haben.

Nein, noch klarer, deutlicher, in der Beteiligung des Staates.

Dass die Opfer verhaftet wurden, nicht die Täter.

Dass es nie ein Gerichtsverfahren gab.

Dass seit acht Jahren das Gebäude „renoviert“ wird und das Gedenken Jahr für Jahr behindert.

Und es gab diese anderen Bilder im Netz, diesen Jubel; der Kartoffelkäfer, der über die Kerze gehalten wird.

Diese Schlagworte wie „Separatisten-Barbecue.“

Alles ganz Real, mitten in Europa, im 21.Jahrhundert.

Wer einen Krieg will, muss die Wirklichkeit spalten.

Er muss die andere Seite unsichtbar machen.

Das ist schon während des Maidan begonnen worden, aber am 2.Mai 2014 trennte sich die westliche Welt von der Wirklichkeit in der Ukraine.

Nie zuvor gab es ein solches Verbrechen, das derart sichtbar war.

Und trotzdem hier, in Deutschland und in allen anderen Ländern Westeuropas, im Grunde nie stattgefunden hat, weil nie darüber berichtet wurde.

Wäre es möglich, heute von „Solidarität mit der Ukraine“ zu reden und damit Panzer für die Regierung in Kiew zu meinen?

Nein, das wäre es nicht.

Alle, die damals trotz des Schweigens mitbekommen haben, was dort geschehen war, wissen, dass Solidarität nicht mit dem ukrainischen Staat angebracht ist, sondern mit den ukrainischen Menschen, insbesondere mit ukrainischen Antifaschisten.

Man kann mit einer Macht, die für Ereignisse wie Odessa verantwortlich ist (und es sind an Schlüsselpositionen nach wie vor die gleichen Leute wie 2014), nicht „solidarisch“ sein, ohne die eigene Menschlichkeit preiszugeben.

Und der zweite Mai 2014 steht in mehr als einer Weise an der Wurzel dieses Krieges.

Hätte es die acht Jahre Krieg im Donbass gegeben ohne Odessa?

Niemand im Westen hat sich die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, wie Odessa von der anderen Seite aussah.

Was hieß es denn für die Menschen in Russland, im Donbass, für all jene, die die sowjetische Geschichte, die die erbitterte Verteidigung im zweiten Weltkrieg nicht verleugnen?

Nur das – wenn man Russen umbringt, egal, wie sichtbar, egal, wie unmenschlich, egal, unter wie vielen faschistischen Losungen und Symbolen, dann dreht Westeuropa den Kopf zur Seite und sieht nichts. Wenn eine Putschregierung daran beteiligt ist, die der Westen gerade erst installiert hat, dann dreht er den Kopf zur Seite und sieht nichts.

Wenn diese Regierung danach mit Flugzeugen und Panzern über ihre eigene Bevölkerung herfällt, dann dreht der Westen den Kopf zur Seite und sieht nichts.

Acht Jahre lang ging es so.

Ob die Donbass Republiken beschossen wurden, ob Fernsehsender geschlossen wurden, ob Oppositionelle auf der Straße erschossen wurden, ob hunderte Menschen verschwinden, ob von Folter die Rede ist, der Westen dreht den Kopf zur Seite und sieht nichts.

Oder es werden Märchen erzählt, wie „die Separatisten beschießen sich selbst.“

Ich war dort, wir haben die ganzen acht Jahre lang humanitäre Hilfe in den Donbass geleistet; in die Orte, wo man die Frontlinie sehen kann.

Man hört, aus welcher Richtung Artilleriefeuer kommt.

Weil der Abschuss anders klingt als der Einschlag. Man kann auch Mörser, Haubitzen und Raketenwerfer unterscheiden. Das lernt man einmal und vergisst es nie wieder.

Viele der Kinder, die in den letzten Jahren im Donbass herangewachsen sind, werden nie in aller Unschuld ein Feuerwerk genießen können.

Wir haben in den letzten Wochen viele Schlagzeilen serviert bekommen über angebliche Kriegsverbrechen der russischen Armee. Nichts davon ist auch nur ansatzweise so gut dokumentiert wie das Massaker von Odessa. Das ist unbestreitbare Wirklichkeit, das ist ein Blutfleck, der nicht abgewaschen werden kann. Die Täter von Odessa verkauft man uns heute als die Helden von Mariupol. Dabei waren sie der Schrecken von Mariupol, was jeder versteht, der weiß, was in Odessa geschehen ist.

Dieser Westen, auch dieses Deutschland, zeigte damals, 2014, auf doppelte Weise, dass er einen Krieg gegen Russland führen will.

Er zeigte es, indem er die Opfer missachtete und die Täter stützte.

Und er zeigte es, indem er die Wirklichkeit in zwei Teile zerbrach, was zu nichts anderem dient als dazu, die Bevölkerung auf einen Krieg vorzubereiten.

Niemand, der die Bilder von Odessa kennt, wäre je wieder im Stande, blaugelbe Fahnen zu schwingen, oder „Heil der Ukraine“ zu rufen, ein Ruf, zu dem Menschen, die aus dem brennenden Gebäude flüchten konnten, auf dem Platz davor erschlagen wurden.

Wir Deutschen müssten dieses Schweigen entziffern können.

Als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, als sie gleich anfingen, ihre Gegner zu ermorden, zu verhaften, in Lager zu sperren, hat der Westen ebenfalls geschwiegen.

Es war die damals starke Arbeiterbewegung, die das Schweigen aufzubrechen versuchte, die die Geflohenen aufnahm und schützte.

Aber für die Staaten des Westens war Nazideutschland eine Waffe, die geschmiedet wurde, um sie gegen die Sowjetunion zu richten.

Selbst der Überfall auf Polen war für sie immer noch kein Grund, in den Nazis den Feind zu sehen.

Und die Sowjetunion hatte Nazideutschland kaum bezwungen, tat man mehr, um die Nazis zu retten, als ihren Opfern zu helfen.

Und heute?

Was wäre denn verloren gewesen, wäre damals über Odessa berichtet worden? Hätten die Länder des Westens die Werte, die ihnen angeblich so wichtig sind, damals verteidigt?

Das hätte an dem Abkommen mit der EU vermutlich nichts geändert.

Was hätte es gekostet, weiter russischsprachige Schulen zuzulassen, die Verwaltungen mehrsprachig zu lassen?

Eigentlich sehen es die Regeln der EU so vor, für Länder, in denen es nennenswerte Minderheiten gibt. Man hätte nach Odessa sagen können, beendet das Treiben dieser Nazitrupps, wenn ihr eine europäische Demokratie sein wollt. Man hätte eine Versöhnung in der Ukraine fordern können. Was hätte das gekostet? Es hätte keinen Krieg im Donbass gegeben; es hätte Tausende Menschenleben gerettet.

Warum ist das also nicht geschehen?

Warum wurde weitere acht Jahre lang die Möglichkeit, einen solchen Kurs einzuschlagen, die das Minsker Abkommen bot, nicht genutzt?

Weil all das nicht das Ziel des Putsches war.

Weil eine solche Ukraine sich nicht als Waffe gegen Russland hätte nutzen lassen. Das ist der einzige Grund, der sich für dieses Verhalten finden lässt, heute, acht Jahre danach.

Um eine Waffe gegen Russland zu schmieden, musste in der Ukraine der Hass geschürt werden, und die Ideologie, die dafür gebraucht wird, sie ist dieselbe, die schon einmal dafür gebraucht wurde.

Über Odessa wurde geschwiegen, weil man die ganze Ukraine in eine solche Horde verwandeln wollte, wie sie jubelnd vor dem Gewerkschaftshaus stand.

Was in Odessa geschah, war kein Versehen, kein Zufall, mehr als der Einstieg in einen ukrainischen Bürgerkrieg und auch mehr als ein grauenvoller Zivilisationsbruch.

Odessa war die Kriegserklärung des Westens gegen Russland.

Acht Jahre lang haben wir versucht, das Schweigen zu brechen.

Über Odessa und über den Krieg im Donbass.

Heute sehen wir, wie sich Schritt für Schritt in Deutschland wiederholt, was damals Odessa vorausging.

Gelb-Blaue Hakenkreuze auf sowjetischen Ehrenmälern. In unserem Land, das der Sowjetunion die Befreiung vom Hitlerfaschismus verdankt, wird die Siegesfahne verboten.

Ein Faschist wie der ukrainische Botschafter Melnyk wird hofiert und darf sogar der deutschen Regierung Anweisungen erteilen, als wäre sie die Regierung von Vichy und Melnyk der Sprecher einer ukrainischen Besatzungsmacht.

Vor acht Jahren, am zweiten Mai, an dem Tag, an dem die Nazis in Deutschland einst die Gewerkschaftshäuser stürmten, zeigte der Faschismus mit dem Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa in Europa so offen sein Gesicht, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr geschehen war. Wir hier im Westen haben es nicht geschafft, das Schweigen darüber zu brechen. Wir haben es nicht geschafft, die Einsicht zu verbreiten, dass das in letzter Konsequenz Krieg heißt, Krieg heißen muss, und der Preis, den wir dafür zahlen, ist, dass das Unheil sich ausbreitet und hier Wurzeln schlägt. Wir haben von Odessa gesprochen, aber unsere Stimme war nicht laut genug. Und keiner von uns weiß, ob wir im nächsten Jahr noch werden von Odessa sprechen können.

Wenn wir heute um die Opfer von Odessa trauern, und die ungezählten, unnötigen, die bis heute darauffolgten, dann sollten wir eines nicht vergessen: die Menschheit hat das faschistische Untier einmal niedergerungen. Sie muss und sie kann es erneut tun.

No Pasaran!

Liane Kilinc ist Vorsitzende des Vereins „Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V.“ und Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes in Berlin



Fotostrecke

 Eine Fotostrecke von der Veranstaltung findet ihr bei CO-OP News.


Bild oben: Liane Kilinc (rechts) auf der Kundgebung am 02.05.2022 in Berlin
Foto: n.n., bereitgestellt von Liane Kilinc