Ein paar Worte zu Butscha
Der Westen ist sich schon einig in der Bewertung der Aufnahmen aus Butscha. Aber liegen die Dinge wirklich so klar auf der Hand? Gerade in einem Krieg ist es schwierig, die Wahrheit herauszufinden. Spontane Empörung führt oft in die Irre. Bilder von Toten sind allein noch kein Beweis für ein Verbrechen und die Täter.
von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 03.04.2022 auf RT DE.
Ganz plötzlich beherrscht der Krieg in der Ukraine wieder die Schlagzeilen, und die politische Klasse überschlägt sich mit neuen Sanktionsforderungen. „Die Bilder aus Butscha sind unerträglich“, erklärt beispielsweise Außenministerin Baerbock, und fordert sofort neue Sanktionen gegen Russland. Die Bilder aus dem Ort in der Nähe von Kiew wurden sofort „eingeordnet“ – das kann nur ein russisches Massaker an unschuldigen ukrainischen Zivilisten sein, ein abscheuliches Kriegsverbrechen.
Nun ist die Berichterstattung über jeden Krieg seit jenem in Vietnam im Westen unlauter. Weil die Sichtbarkeit des Elends damals weltweit einen starken Widerwillen gegen jenen Krieg auslöste, werden Bilder aus Kriegsgebieten nur noch in homöopathischen Dosen verabreicht. Dadurch wird schon einmal die erste, grundlegende Tatsache verdrängt: Krieg ist eine kollektive Unternehmung menschlicher Gruppen, deren erstes Ergebnis darin besteht, andere lebende Menschen in tote Menschen zu verwandeln. Das ist ein technischer Fakt. Die einzige Sache, an der es in Kriegen nie mangelt, sind Leichen.
Der zweite Punkt, über den man gerne hinweggeht, ist die Tatsache, dass die Genfer Konventionen zwar der rechtliche Maßstab sind, nach dem Kriegsverbrechen bemessen werden, es aber seit ihrer Verabredung kurz nach dem zweiten Weltkrieg keinen einzigen Krieg gegeben haben dürfte, bei dem sich beide Seiten – oder auch nur eine – in jedem Moment daran gehalten haben. Auch Soldaten sind Menschen, begehen Fehler, haben Angst, reagieren falsch. Artilleristen können sich verrechnen und das eigentliche Ziel verfehlen. Krieg ist nun einmal ein in der menschlichen Psyche nicht vorgesehener Zustand. Das normalerweise starke Tötungsverbot muss aufgelöst werden, um überhaupt einen Krieg führen zu können, und das macht es zu einer schwierigen Aufgabe, dem dennoch Regeln zu setzen. Dass das nicht immer gelingt, liegt in der Natur der Sache.
Es gibt also selbst an Aufnahmen ziviler Toter eigentlich nichts, das überraschen dürfte. À la guerre comme à la guerre. Um zu wissen, ob Empörung angebracht ist und es sich um eine besondere Schuld handelt – und falls ja, um wessen Schuld –, muss man die Dinge schon genauer betrachten und nach Möglichkeit mit einem kühlen Kopf und nicht in spontaner Erregung. (Die homöopathische Berichterstattung hat natürlich auch den Effekt, dass die wenigen Bilder, die dann gezeigt werden, besonders schockierend wirken; aber ich gebe zu, ich habe dennoch in den Jahren seit 2014 allein aus dem Donbass eine solche Menge derartiger Bilder gesehen, dass der schiere Anblick von Toten bei mir keine spontane Erschütterung mehr auslöst).
Die Behauptung, von der Annalena Baerbock auszugehen scheint, ist die, dass es sich um ein Kriegsverbrechen der russischen Armee handelt. Belegt sei dies allein durch die besagten Bilder aus dem Ort Butscha. Nun zeigen die Aufnahmen bestenfalls schlicht tote Menschen; es gibt einen Videoausschnitt, auf dem sich im Rückspiegel des Fahrzeugs einer der zuvor gezeigten Körper wieder aufsetzt; es ist also noch nicht einmal sicher, dass es sich bei allen gezeigten Personen wirklich um Tote handelt. Aber selbst wenn – dann blieben immer noch Fragen: Wer hat sie getötet, wann und warum? Und es ist erst die letzte der Fragen nach dem Warum, bei der der Gedanke eines Kriegsverbrechens überhaupt ins Spiel kommt. Darin unterscheidet sich dieser Fall übrigens sehr deutlich von jenem jüngst aufgetauchten Video von der Misshandlung russischer Kriegsgefangener durch die Ukrainer: in letzterem ist klar erkennbar, wer die Täter waren, mehr noch, die Aufnahme selbst stammt schließlich auch von ihnen selbst. Aber auch hier gibt es noch Unschärfen; The Intercept hat ein Foto veröffentlicht, das am selben Ort mehrere verkohlte Leichen zeigt, es kann also sein, dass wir hier nicht nur von Misshandlungen, sondern von Morden reden, aber das ist nicht so eindeutig wie das besagte Video von Misshandlungen.
Aus Butscha gibt es aber mitnichten Aufnahmen, welche die Frage, wer da agiert hatte, eindeutig klären. Die Bilder aus den Straßen des Ortes tauchten am Nachmittag des 2. April auf. Verlassen wurde der Ort von den russischen Truppen einige Tage zuvor. Bereits am 31. März filmte der Bürgermeister des Ortes ein Video, in dem verkündete, Butscha sei jetzt wieder ukrainisch. Der Ort Butscha hat weniger als 30.000 Einwohner, man sollte davon ausgehen können, dass der Bürgermeister an diesem Tag über alles Vorgefallene informiert ist. Aber er blickt da noch entspannt und munter in die Kamera, nicht zornig oder empört.
Am 2. April jedenfalls sind auf dem ersten Video, das die Getöteten zeigt, auch ukrainische Truppen zu sehen, mit blauen Armbinden. Diese blauen Armbinden waren schon öfter auf Aufnahmen aus Mariupol zu sehen, als Kennzeichen von Asow-Kämpfern.
Wenn man diese Angaben nimmt, müssten die gefilmten Toten also bereits drei Tage lang auf der Straße gelegen haben. Leider gibt es nur eine einzige Aufnahme, nämlich die eines Mannes in einem Abwasserschacht, die einen genaueren Blick zulässt, und ein, zwei Stellen auf Bildern, auf denen man die Hautfarbe sehen kann.
Dieses eine Bild stammt aus einem Tweet von Dmitri Kuleba, dem ukrainischen Außenminister, der es in einer Reihe mit anderen Bildern aus dem Ort veröffentlichte und dazu schrieb, die Russen wollten angeblich so viele Ukrainer wie nur möglich töten.
Bucha massacre was deliberate. Russians aim to eliminate as many Ukrainians as they can. We must stop them and kick them out. I demand new devastating G7 sanctions NOW:
-Oil, gas, coal embargo
-Close all ports to Russian vessels and goods
-Disconnect all Russian banks from SWIFT pic.twitter.com/oZkCAETCQp— Dmytro Kuleba (@DmytroKuleba) April 3, 2022
Nach drei Tagen sind Leichen sehr wächsern. Der Wassergehalt im Körper lässt nach, dadurch fallen die Gesichtszüge ein. Das Blut, das beim Lebenden den Hautton ins Rosige verschiebt (ja, selbst Schwarze werden grau), sammelte sich längst am tiefsten Punkt des Körpers und bildete dort die Leichenflecken.
Der Mann in dem Abwasserschacht kann dort nicht drei Tage gelegen haben. Er ist zu rosig, und die Prellungen sind zu rot; das Hämoglobin, das die rote Farbe bildet, hätte zumindest teilweise zerfallen und die Farbe ins Bräunliche verschieben müssen. Noch irritierender ist das Gewebeband, das auf ihm liegt, weil es an ein Kennzeichen erinnert (vermutlich, ohne es zu sein): das Georgs-Band, das die Gegner des Euro-Maidan nutzten, um ihre antifaschistische Gesinnung zu zeigen, und das auch heute Truppen aus dem Donbass oder aus Tschetschenien in Mariupol zur Kennzeichnung tragen.
Selbst wenn es sich nicht um den eigentlichen Gegenstand handelt – würde ein Angehöriger der russischen Truppen jemanden, den er in einen Abwasserschacht packte, mit etwas dekorieren, das einem eigenen Symbol zumindest sehr ähnelt? Sicher, man kann in einem Krieg so gut wie nichts ausschließen, aber es ist immerhin sehr unwahrscheinlich. Es gibt aber Akteure auf der Szene, die ein solches Band genau auf solche Weise nutzen würden, zum einen, weil sie womöglich keinen Zugriff auf das Original haben, und zum anderen, weil das den verhöhnenden Charakter noch unterstreichen würde. Das sind die Truppen von Asow, genau jene Herren mit den blauen Armbändern, deren Anwesenheit in Butscha durch die Videos eindeutig belegt ist.
In ihrem Code würde ein solches Band einen Gegner kennzeichnen, einen Colorado oder „Kartoffelkäfer“, wie sie die russlandfreundlichen Anti-Maidan-Demonstranten eben wegen des orange-schwarz gestreiften Georgs-Bandes nannten. Natürlich, im Krieg lügt jeder, wie er kann, und es könnte auch ein nur vorgetäuschter Mord durch Asow sein, aber dagegen spricht die simple Tatsache, dass dieser Tod keine drei Tage her sein kann und danach keine russischen Truppen mehr vor Ort waren.
Überhaupt: drei Tage? Und niemand hat bis dahin auch nur ein Bettlaken über die Toten gebreitet? Geschweige denn, sie zumindest an den Straßenrand gelegt? Auch das ist eigenartig. Selbst in den Gegenden von Mariupol, die mehr oder weniger ständig unter Beschuss waren, wurden die Opfer so bald wie möglich bedeckt und oft, wenn es keine andere Möglichkeit gab, im Grünstreifen zwischen den Häusern begraben. Aber dass sich drei Tage niemand darum kümmert, widerspricht allem, was ich bisher gesehen habe. Was ich über acht Jahre hinweg in der Ukraine gesehen habe. Nicht nur die Aufnahmen aus den gegenwärtigen Kämpfen, auch die vergangener Jahre aus dem Donbass belegen, dass sowohl mit eigenen wie mit gegnerischen Toten üblicherweise mit Respekt umgegangen wird. Auf ukrainischer Seite ist das allerdings nicht so sicher. Da gibt es unzählige Berichte, dass eigene Gefallene nicht geborgen, ja, öfter sogar nicht einmal entgegengenommen wurden, wenn die Gegner sie bargen.
Natürlich könnte der Grund sein, dass diese Toten Opfer eines plötzlich einsetzenden Beschusses waren, der in der Folge ununterbrochen anhielt, so dass niemand sich aus den Kellern wagte, um sie auch nur zu bedecken. Nachdem die russische Seite abgezogen war, hätte dieser Beschuss durch die ukrainischen Truppen geschehen müssen. Dafür fehlen aber die Schrapnelle auf der Straße, und es fehlen die sichtbaren, brutalen Verletzungen, die explodierende Granaten verursachen. Niemandem wurde ein Bein oder ein Arm abgerissen. Auch die Blutflecke halten sich in bescheidenen Grenzen.
Die nächste Möglichkeit wäre, dass sie Scharfschützen zum Opfer gefallen sind. Das würde mit dem, was an Verletzungen zu erahnen ist, besser übereinstimmen. Auch da wäre eher zu vermuten, dass das Feuer von ukrainischer Seite kam. Es ergibt jedenfalls keinen Sinn, einsame Scharfschützen zurückzulassen, wenn Truppen abziehen. Deren Aufgabe ist es, militärisch die Deckung der Truppe gegen gegnerische Scharfschützen zu bieten. Selbst wenn man davon ausginge, dass sie die Aufgabe hätten, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren, wie es jene von Asow in Mariupol taten – sie entfernen sich in der Regel höchstens ein paar Kilometer von der Haupttruppe, nicht Dutzende. Beständige Tätigkeit von Scharfschützen würde ebenfalls einen Grund liefern, warum sich niemand um die Toten kümmerte; aber das wäre dann ein ukrainisches Kriegsverbrechen, kein russisches.
Die letzte Option hat mit den Truppen mit den blauen Armbändern zu tun. Aus den Orten im Donbass, die von ukrainischen Truppen im Sommer 2014 eingenommen wurden, ist bekannt, dass die ideologischen Truppen, wie das Asow-Bataillon, dort regelrecht Jagd auf alle machten, die als prorussisch galten. Was, wenn das auch in Butscha passiert ist? Es ist der Tote im Abwasserschacht, der diesen Gedanken ins Spiel bringt. Was, wenn sich das hier wiederholt hat? Schließlich waren russische Truppen längere Zeit in der Gegend. Einige der Toten tragen übrigens weiße Binden am Arm; die russischen Truppen sind zum Teil genauso gekennzeichnet, und diese Bänder sollen genutzt worden sein, um ihnen die „Eigenen“ zu signalisieren, die dann natürlich für die ukrainische Seite die „Anderen“ wären.
Der russische Kriegsreporter Alexander Koz, der für die Komsomolskaja Prawda schreibt und den Krieg im Donbass von Anfang an begleitete, kommt zu genau diesem Schluss. Er war nach eigenen Angaben zumindest kurz auch in Butscha, schreibt aber: „Während dieser anderthalb Monate haben russische Truppen diesen Ort keinen einzigen Tag vollständig kontrolliert. Und die Lage dort war für eine ‚anhaltende‘ Kommunikation mit den Einheimischen nicht günstig. Ständige Gefechte, Granatenbeschuss, direkte Zusammenstöße.“ Und weiter schreibt er: „In Wahrheit verließen die russischen Truppe Butscha mit einer Umgruppierung einige Tage zuvor, ehe die ‚Opfer der Besatzung‘ entdeckt wurden. Die Streitkräfte der Ukraine bemerkten das nicht gleich und bedeckten die Stadt drei weitere Tage lang mit Artillerie, der die Zivilisten gut zum Opfer gefallen sein können. Und als sie zu Sinnen kamen, begannen sie, wie üblich, eine ‚Hexenjagd‘ auf der Suche nach jenen, die ihrer Meinung nach mit den ‚Besatzungstruppen‘ kooperiert hatten.“
Auch er merkt an, dass der Zustand der Toten nicht dem von bereits vor Tagen Verstorbenen entspricht. Und er benennt sogar eine denkbare Option, die Verantwortlichkeit objektiv zu klären: „Es reicht, eine Untersuchung durchzuführen, die den Todeszeitpunkt der Unglücklichen bestimmt. Und das mit den objektiven Daten der NATO abzugleichen (damit meint er Satellitenüberwachung u.ä.), die den Zeitpunkt des Abzugs der russischen Truppen bestimmen. Aber“, fügt er noch skeptisch hinzu, „das macht man, wenn man die Wahrheit sucht. Und wer braucht die im Westen?“
Natürlich finden sich auch in hiesigen Medien Forderungen nach „unabhängiger Untersuchung“. Das Problem dabei ist allerdings, dass dafür Organisationen wie Human Rights Watch genannt werden, die alles andere als „unabhängig“ sind; denn in diesem Fall würde „unabhängig“ bedeuten, eine Instanz, die von beiden kriegführenden Seiten anerkannt würde, zu beauftragen. Eine solche Instanz gibt es nicht mehr; in den letzten Jahren wurden so gut wie alle internationalen Organisationen auf die eine oder andere Art vom Westen derart instrumentalisiert, dass sie ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, jedenfalls außerhalb jener kleinen westlichen Blase, die sich gerne als die „Weltgemeinschaft“ bezeichnet. Die Informationen veröffentlichen, die der NATO vorliegen, um zu klären, wer tatsächlich in Butscha Zivilisten getötet hat? Die Informationen der NATO über MH17 sind bis heute unter Verschluss. Koz dürfte mit seiner Vermutung Recht behalten.
Aber selbst wenn man all diese Punkte, die Zweifel an der so eiligen wie genehmen Deutung des Westens wecken, beiseitelässt und davon ausgeht, dass es aus irgendeinem der ganz am Anfang aufgeführten Gründe tatsächlich russische Truppen waren, ist das kein Grund für die jetzige Reaktion. Denn es müsste einwandfrei geklärt werden, dass es sich weder um einen Unfall noch um ein Versehen oder menschliches Versagen handelt. Ein Kriegsverbrechen setzt Vorsatz voraus. Und die wirklich gefährlichen Kriegsverbrecher, solche wie die Truppen des Nazireiches, zeichnet noch etwas anderes aus: sie sind stolz auf ihre Taten. Sie prahlen damit. So, wie jene, die die Misshandlung von Kriegsgefangenen filmten. Oder das Massaker von Odessa im Jahre 2014.
Und erst einmal wäre es die Handlung einer spezifischen Einheit. Unter keinen Umständen die eines ganzen Volkes. Das sieht der Bürgermeister von Dnjepropetrowsk, Boris Filatow, anders. Er schreibt auf seiner Facebook-Seite: „Jetzt haben wir das volle moralische Recht, ruhig und bei völlig klarem Verstand diese Nichtmenschen auf der ganzen Welt zu töten, mit unbegrenzter Zeit und in der größtmöglichen Menge.“ Er meint damit „die Russen“. Alle Russen. „Nichtmenschen“? Der Tonfall sollte noch bekannt sein.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes