Weltliche Trauerkultur

„Das war nicht das Ende der Geschichte!“

Nachruf auf den letzten Chef der DDR-Auslandsaufklärung

Werner Großmann, der letzte Chef der DDR-Auslandsaufklärung im Rang eines Generalobersts, ist am 28. Januar nach kurzer, aber schwerer Krankheit verstorben. Mit seinen 92 Jahren war er bis zuletzt bei Gesprächen am Krankenbett mit glasklarem Verstand und ungetrübten Erinnerungen gesegnet.

Von Rainer Rupp und Karl Rehbaum

(Erstveröffentlichung am 29.01.2022 auf RT DE)

Mit Großmann ist ein großer, geradliniger und aufrechter Mann von uns gegangen, der nach der Übernahme der DDR durch die BRD sogar bei ehemaligen Gegnern aus ausländischen Nachrichtendiensten Respekt und Anerkennung genoss. Nur in der BRD konnten sich weder die westdeutschen Politiker noch deren Geheimdienste und noch viel weniger die Medien wenigstens zu einem fairen und unvoreingenommenen Umgang mit der DDR und ihrer Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) durchringen.

Für die tiefverwurzelte und teils verbitterte Feindseligkeit, die selbst 30 Jahre nach dem Ende der DDR den Ehemaligen der HVA von westlich-deutscher Seite immer noch entgegenschlägt, wie jetzt wieder im Fall Großmanns, haben ausländische Kenner des Kalten Krieges und der damaligen Geheimdienstszene ihre eigene Erklärung: Damals war allgemein bekannt, dass nach dem israelischen Mossad die HVA weltweit als der erfolgreichste Geheimdienst für Auslandsaufklärung galt. Hinzu kam, dass die HVA mit erstaunlich geringen finanziellen Mitteln spektakuläre Spionageerfolge gegen den BND, gegen Parteien und Politiker der Bundesregierung in Bonn und gegen die NATO in Brüssel einfuhr.

Das alles habe das Selbstverständnis der Westdeutschen derart gekränkt, dass sie bis heute nachtragend seien und mit ihren ehemaligen Gegnern der HVA nicht „sportlich-fair“ umgehen könnten, wie das zum Beispiel Vertreter der britischen Dienste und oder der CIA taten. Dafür, dass selbst die NATO-Verbündeten, vor allem die USA, vom westdeutschen BND nicht viel hielten, spricht auch aus der Aussage eines hohen CIA-Vertreters bei einem Gespräch in Washington Anfang der 1980er-Jahre, als er Rainer Rupp gegenüber in Bezug auf den BND von den „Boy Scouts (Pfadfindern) in Pullach“ sprach.

Dagegen bescheinigten am 17./18. November 2007 anlässlich der Internationalen Konferenz an der Süddänischen Universität Odense zum Thema „Geschichte, Aufgaben und Einsichten in die HVA“ eine ganze Reihe von ehemaligen Gegnern aus NATO-Ländern den anwesenden Führungskadern der aufgelösten HVA außerordentliche Effizienz und große Professionalität. Zugleich sprachen sie ihnen wegen ihrer Beiträge zu Sicherung des Friedens in den gefährlichsten Zeiten des Kalten Krieges ihre Anerkennung aus.

Bereits drei Jahre zuvor hatte auf einer ähnlichen Konferenz am 7. Mai 2004 in Berlin Mr. Milton Bearden, der u. a. in Deutschland Stationschef der CIA gewesen war und später zum Leiter der Sowjet- und Osteuropaabteilung im CIA-Hauptquartier aufstieg, den Beitrag der HVA zur Erhaltung des Friedens explizit gewürdigt. In seinem Vortrag sagte Bearden, dass es im Kalten Krieg in Situationen zugespitzter Spannungen auf beiden Seiten, sowohl in den USA als auch auf in der Sowjetunion, immer wieder zu gefährlichen „Fehleinschätzungen“ und „schwerwiegenden Fehlkalkulationen“ gekommen sei.

Wörtlich sagte Bearden: „In der Tat ist hier die Frage angebracht, wie sehr das allgemeine Niveau des Verständnisses über die Lage auf der anderen Seite dafür gesorgt hat, dass der Kalte Krieg kalt geblieben ist. Das ist auch durch die von der HVA … gesammelten Erkenntnisse zusätzlich befördert worden.“ Abschließend betonte der hochdekorierte CIA-Mann, dass die HVA nicht nur der DDR, „sondern auch der Sache des Friedens gut gedient hat“.

Zu einer derartigen Anerkennung, selbst in sehr abgestufter Form, sind die westdeutschen Gegner der HVA bis heute nicht fähig. Der Tod Großmanns hätte für ein solches Signal eine gute Gelegenheit geboten. Stattdessen wird sein Tod in perfider Weise dazu benutzt, erneut alte mediale Messer zu wetzen und mit abgedroschenen Parolen gegen DDR und HVA das Andenken an den Toten zu beschmutzen.

Der von der dpa verbreitete Text zum Tod Großmanns, der vom Spiegel über zahlreiche andere Medien bis hin zur Neuen Zürcher Zeitung aufgegriffen wurde, unterscheidet sich von der Wortwahl und im Sprachduktus kaum von den westdeutschen Schmähschriften gegen die HVA aus den Zeiten des Kalten Krieges. Der Text ist gekrönt von einem Porträtfoto Großmanns, nach dem man in Fotoarchiven sicher sehr lange suchen musste. Denn selbst seine langjährigen Freunde hatten auf den ersten Blick Probleme, in dem finster und böse dreinblickendem Mann auf dem Foto ihren ehemaligen Chef wiederzuerkennen. Seine Kollegen und Bekannten kannten ihn nur mit freundlich-offenem Gesicht, das auch seine innere Einstellung widerspiegelte.

Aber für das Gros der in Bezug auf die DDR gehirngewaschenen westdeutschen Leserschaft von Spiegel und Co. entspricht dieses dpa-Foto sicherlich dem verbreitetem Vorurteil, wie ein böser Stasi-Offizier auszusehen hat. Großmann war jedoch das genaue Gegenteil. Er war der hochkompetente Chef eines der erfolgreichsten Nachrichtendienste der Welt. Zugleich hatte er eine typische DDR-Karriere, die im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden vom gelernten Maurer bis nach ganz oben führte. Aus der Arbeiterklasse kommend, wusste Großmann schon als Jugendlicher, auf welche Seite er gehörte. Er wurde Mitglied der FDJ und der SED. Von 1952 bis 1990 gehörte er dem Außenpolitische Nachrichtendienst (APN) bzw. der HVA an. In verschiedenen Dienststellungen, vom Mitarbeiter bis zum Leiter der Hauptverwaltung ab 1986, erzielte er persönlich und mit von ihm angeleiteten Kollektiven vorbildliche Ergebnisse.

Seine hohe politische und fachlich-operative Bildung und praktische Erfahrung in der Bearbeitung gegnerischer Objekte und Parteien führten zu außerordentlich wertvollen Kenntnissen über deren Pläne und Absichten. Unter seiner Anleitung gelang es, mit nachrichtendienstlichen Quellen bedeutsame Positionen einzunehmen, und mit deren Informationen konnte ein tatsächlicher Beitrag zur Erhaltung des Friedens und zur Entspannung geleistet werden. Dass die HVA unter den weltweit agierenden Nachrichtendiensten einen Spitzenplatz einnahm, ist auch mit dem Namen Werner Großmann verbunden.

Großmann war in seinen Dienststellungen ein geachteter, korrekter, fordernder Leiter, der sich durch Sachkenntnis, politisches Urteil und Konsequenz Anerkennung unter den Mitarbeitern und Leitern erwarb. Seine Beurteilung der Ergebnisse war durchaus kritisch, auch auf Leitungsebene hielt er mit seiner Meinung nicht zurück. Von seinen Kollegen und Untergebenen wurde er wegen seiner einfachen und direkten Art sehr geschätzt. Überheblichkeit und Anmaßung waren ihm fremd. Er führte und hörte kollegial zu und stand stets hinter seinen Leuten.

Nach dem Untergang der DDR galt seine große persönliche Sorge den verfolgten Agenten im ehemaligen Operationsgebiet und auch den Mitarbeitern der Zentrale in der DDR. Vielfältig waren seine Initiativen, sein öffentliches Agieren, sein Eintreten für Gerechtigkeit und gegen Hetze und Verleumdungen. In Interviews und Publikationen setzte er sich vehement für die Verbreitung der Wahrheit ein. Viele der ehemaligen Kundschafter verband in diesen Jahren eine enge Freundschaft mit Großmann. Anlässlich seines Todes schrieb uns z. B. einer von ihnen, Klaus von Raussendorff, folgende Zeilen:

„Ich bewunderte ihn für seine unerschütterliche, aufrechte Haltung, die immer zu spüren war, wenn er sich in der Öffentlichkeit zu Fragen unserer früheren Tätigkeit äußerte. Er war immer noch unser Chef. Man konnte zu ihm aufschauen. Das bestärkte uns in dem Gefühl, einem Nachrichtendienst angehört zu haben, der in einzigartiger Weise auf Solidarität und gemeinsamer Überzeugung beruhte, und wir können zu Recht sagen: ‚Wir haben der Sache des Friedens und des Sozialismus gedient.‘ Werner gab uns Rückhalt. Ich werde seinen stets heiteren, gelassenen Gesichtsausdruck nie vergessen. Seine Stimme war klar. Was er sagte, klang wie selbstverständlich. Er war ein außergewöhnlicher Mensch.“

Die von einschlägigen Kreisen immer wieder in den Medien platzierten Gerüchte, die Großmann aller möglicher Vergehen beschuldigten, erwiesen sich alle als hinterhältiger Rufmord. Selbst die westliche Generalbundesanwaltschaft konnte ihm nach akribischer Durchsuchung der DDR-Archive und Anhörung von Zeitzeugen keine Schweinerei zur Last legen.

Da sähe es mit dem BND ganz anders aus, wenn auch nur ein Bruchteil von dessen Akten an die Öffentlichkeit käme. Zur Erinnerung: Die HVA wurde aus gestandenen Antifaschisten gegründet, die aktiv entweder in russischer Uniform oder in Zivil im Ausland oder im Untergrund gegen die Nazis gekämpft hatten. Der BND war mit US-Hilfe aus einem Sammelsurium von Kommunisten- und Russenhassern, aus alten Nazis, Gestapo-Schergen und SS-Killern gegründet worden. Etliche diese Kriegsverbrecher tummelten sich noch in den 1970er-Jahren im BND.

Großmann konnte am Ende auf ein arbeitsames, erfolgreiches und erfülltes Leben zurückblicken, das wie überall auch seine Höhen und Tiefen hatte. Was die Tiefen betrifft, so teilten wir seine Trauer über das Scheitern unseres Versuchs, in der DDR dauerhaft eine florierende und gerechtere Gesellschaft ohne Ausbeutung und Kriegstreiber aufzubauen. Aber dieses Streben der Menschen nach einer solchen Gesellschaft ist mit dem Verschwinden der DDR nicht gestorben. Angesichts der in den letzten 30 Jahren gemachten Erfahrungen im entfesselten, real existierenden Kapitalismus kann weltweit beobachtet werden, dass das Pendel der historischen Entwicklung wieder zurückzuschwingen beginnt.

Lieber Werner, sei gewiss: Das war nicht das Ende der Geschichte!

Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes

Link zur Erstveröffentlichung: https://de.rt.com/inland/130734-nachruf-auf-den-letzten-chef-der-ddr-auslandsaufklaerung/


Bild: Generaloberst a. D. und Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung Werner Großmann im Jahr 2016
Foto: Memorie Lexikon, CC BY-SA 4.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Werner_Grossmann4.jpg
Bearbeitet von Ralf Lux