Zum Umgang mit Russland – Rückkehr zu bewährten Strategien
Auch wenn wir manchen Bewertungen des Autors zum Charakter der NATO oder der Vereinigung der Krim mit der Russischen Föderation nicht folgen, ist diese historische Darstellung der Grundsätze der Entspannungspolitik eine wichtige Stimme, die zur Vernunft mahnt, um der Mobilmachung gegen Russland Einhalt zu gebieten und die an den verpflichtenden Auftrag des Grundgesetzes erinnert, „das friedliche Zusammenleben der Völker zu fördern“.
Webredaktion
Zum Umgang mit Russland – Rückkehr zu bewährten Strategien
Ein Gastbeitrag von Frank Elbe, Botschafter a.D.
1990 war Deutschland wieder ein vereinter, voll souveräner Staat geworden. Die ehemaligen europäischen Satellitenstaaten des Warschauer Paktes erhielten ihre Unabhängigkeit zurück. Das Sowjetreich löste sich auf. Es entstanden neue, wirtschaftlich starke und an Rohstoffen reiche Staaten in Eurasien – Kasachstan, Aserbeidschan. Die deutsche Einheit wurde erreicht, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert wurde. Sie war keine Laune der Geschichte. Sie war das Ergebnis beharrlicher, diplomatischer Kärrnerarbeit – ja sogar Knochenarbeit, wenn ich auf meine eigenen Flugstunden schaue. Die Erfolge einer jahrzehntelangen konsequenten Strategie zahlten sich aus.
1967 stellte der sogenannte „Harmel-Bericht“ der NATO die Beziehungen zur Sowjetunion auf eine einfache Formel: „Ausreichende militärische Sicherheit einerseits und eine Politik der Entspannung, Zusammenarbeit und Abrüstung andererseits“. Dabei galt, dass zwischen beiden Element ein „Und“, kein „Oder“ zu stehen habe.
Das Ende der Geschichte?
1990 hatte niemand ernsthaft angenommen, dass mit der deutschen Wiedervereinigung das Ende der Geschichte gekommen wäre. Anders allerdings der amerikanische Diplomat Francis Fukuyama. Er vertrat in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ die These, dass die Welt nunmehr in eine „liberale, konfliktfreie Entwicklung“ eintreten würde. Rückblickend wird seine Erwartung allerdings plausibel, wenn er sich diese liberale, konfliktfreie Welt unter der Führung der USA vorgestellt und angestrebt haben sollte. Das Auswärtige Amt war vom Ende der Geschichte nicht beeindruckt. Uns schien es allerdings schon so, dass wir – um mit Bertolt Brecht zu sprechen – die „Mühen der Berge hinter uns hatten, nun aber die Mühen der Ebenen vor uns lagen“. Wenige Wochen nach der deutschen Einheit vereinbarten alle KSZE-Staaten die „Charta von Paris“. Sie sollte die Entfeindung zwischen früheren Gegnern einleiten und die Tür zu einer breiten Kooperation im Gebiet von Vancouver bis Wladiwostok aufstoßen.
Das sollte sich leider so nicht erfüllen. Nach 30 Jahren erleben wir Enttäuschungen und verspielte Chancen. Reale Bedrohung und absurdes, gefährliches Theater liegen nahe beieinander. Wir scheinen guten Geistern verlassen worden zu sein. Wir haben den langen mühsamen, aber erfolgreichen Weg verlassen, aus der Konfrontation über eine Politik der Zusammenarbeit, der Vertrauensbildung, der Abrüstung und Entspannung zu mehr Sicherheit zu gelangen, ja vielleicht einen „Zustand des Friedens in Europa zu erreichen.“ Die Aufbruchsstimmung, als der Londoner NATO-Gipfel 1990 der Sowjetunion „die Hand der Freundschaft“reichte, ist verflogen. In dem von Gorbatschow beschworenen „europäischen Haus“ ist kein Zimmer für Russland frei. Es gilt, dass Russland von einer „dauerhaften und gerechten Friedensordnung in Europa“ besser ausgeschlossen wäre. Wir befinden uns sicher noch nicht in der Vorphase einer militärischen Auseinandersetzung. Wir sind kurz davor.
In den Kalten Krieg zurück
In jedem Fall sind wir in Riesenschritten in den Kalten Krieg zurückmarschiert. Es wäre fahrlässig, diese Entwicklung ausschließlich an der Annexion der Krim, an Nawalny oder anderen festgestellten oder behaupteten Fehlentwicklungen der russischen Politik festzumachen, ohne auch die Verantwortlichkeit des Westens für den gegenwärtigen Zustand zu untersuchen. Die Politik, auf Distanz zu Russland zu gehen, hat nämlich viele schon viele Jahre früher eingesetzt, als Russland keinerlei Anlass für einen westlichen Paradigmenwechsel des Westens gegeben hat. Auf diesen Punkt werde ich noch ausführlich eingehen.
Zunächst ein Exkurs in das sicherheitspolitische Grundverständnis, das zwischen den USA und Russland besteht. Beide Staaten wollen sich gegenseitig nicht vernichten. Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Es gilt die Strategie der gegenseitig gesicherten Vernichtung, oder englisch „mutually assured destruction“ – abgekürzt MAD wie mad. Ein Angreifer soll davon abgehalten werden, einen gezielten nuklearen Vernichtungsschlag zu führen, weil er befürchten muss, dass der Angeriffene immer noch genügend nukleare Mittel auf Unterseebooten, in der Luft, auf mobilen Lafetten oder in Betonsilos hat, um einen tödlichen Gegenschlag auszulösen. Dieser Grundgedanke ist schlicht, und scheinbar zwingend. Vielleicht etwas zu schlicht, um das über Jahrzehnte währende Vertrauen gegenseitig gesicherte Vernichtung zu rechtfertigen. Diese kann nämlich nur funktionieren, wenn alle Beteiligten sich zu jedem Zeitpunkt rational verhalten. Das kann nicht vorausgesetzt werden. Schon gar nicht für den gegenwärtigen Zeitpunkt.
Nukleares Vabanque in Kuba-Krise
Die Kubakrise von 1962 zeigte deutlich Anfälligkeiten, sich von rationalem Handeln zu entfernen zu wollen. Russen und Amerikaner spielten nukleares Vabanque. Die sowjetische Seite stationierte heimlich Mittelstreckenraketen auf Kuba. Diese hätten als großen Städte und die Industriegebiete der USA erreichen können.
In unserer Erinnerung ist die Vorstellung eingefroren, dass die Sowjets das nun wirklich nicht hätten tun dürfen.Das war auch die leidenschaftliche politische Überzeugung des Studenten Frank Elbe, der 1962 gegen diese sowjetische Politik demonstrierte – die erste von nur wenigen Demonstrationen in seinem Leben. Mir – und auch wohl der Mehrheit der Menschen im Westen – war damals nicht vertraut, dass sich die Sowjets zu dieser Aktion animiert fühlten, weil zuvor die USA Mittelstreckenraketen vom Typ Jupiter in der Türkei stationiert hatten. Diese hätten Moskau und Industriegebiete in der Sowjetunion erreichen können. Amerikanische Militärs bedrängten nun den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, die sowjetischen Mittelstreckenraketen auf Kuba mit nuklearen Mitteln anzugreifen.
Es schien zunächst so, als sei der amerikanische Präsident mit diesem Vorgehen einverstanden gewesen. Damals galt noch die Doktrin der massiven Vergeltung. Kennedy brach aber das Gespräch mit den Generälen abrupt ab, als er erfuhr, dass die Militärs bei einer eventuellen nuklearen Eskalation mit etwa 80 Millionen amerikanischen Opfer rechneten. Er und sein Bruder Robert verwarfen die Angriffspläne auf Kuba und entschieden sich für eine Seeblockade – sehr zum Missvergnügen der Vereinigten Staatschefs. Robert Kennedy stellte über den sowjetischen Botschafter Dobrynin bei den Vereinten Nationen eine Verbindung zu Nikita Chruschtschow her. So konnte Kennedy mit dem sowjetischen Führer gleichzeitig über das Ende der Blockade und den Rückzug der sowjetischen Raketen aus Kuba verhandeln und – so ganz nebenbei – in einem Geheimabkommen den Rückzug amerikanischer Jupiter-Raketen aus der Türkei regeln.
Von Militärs über den Tisch gezogen
Bemerkenswert an diesen Gesprächen war folgendes:
- Kennedy und Chruschtschow fühlten sich von ihren Militärs über den Tisch gezogen.
- Kennedy führte ein von politischer Empathie geprägtes Gespräch.
- Sie erkannten die Notwendigkeit, die Nacktheit der Strategie der gegenseitig gesicherten Vernichtung aufzubrechen.
Was ist mit „Empathie“ und „Nacktheit“ gemeint? Kennedy suchte vor dem Gespräch mit Chruschtschow Rat bei dem englischen Militäranalysten Liddell Hart
Dieser riet ihm: „Sei stark, wenn möglich. Sei in jedem Fall beherrscht. Habe unbegrenzte Geduld. Treibe den Gegner nicht in die Ecke, hilf ihm immer, sein Gesicht zu wahren. Stell Dich in seine Schuhe, um die Dinge durch seine Augen zu sehen. Vermeide wie den Teufel Selbstgerechtigkeit – nichts kann Dich mehr blenden.“
So einfach ist politische Empathie
Die Nacktheit der Beziehung von „Kopf und Daumen“, wir sprechen vom Knopf, der den nuklearen Abschuss auslöst, und vom Daumen, der ihn drückt, wurde als kritisch erkannt und man wurde sich rasch einig, ein unmittelbares Kommunikationssystem einzuführen, das im Volksmund als “rotes Telefon“ bekannt war, aber in Wirklichkeit ein Fernschreiber war.
Geburtsstunde der Entspannungspolitik
Das war die Geburtsstunde der Entspannungspolitik. Die nächsten Schritte, die erfolgten, galten folgerichtig dem weiteren Abbau des Spannungsfeldes im Umgang mit nuklearen Waffen.Es folgten die Vereinbarungen über SALT, also die Reduzierung bestehender Nuklearwaffen, über START, die Reduzierung strategischer Waffen.
Es folgten politische Schritte, wie die Philosophie der NATO im Umgang mit Russland, sich von den Prinzipien einer ausreichenden militärischen Sicherheit einerseits und einer Politik der Zusammenarbeit, Entspannung und Abrüstung andererseits, leiten zu lassen.Der KSZE-Prozess wurde initiiert, die deutsche Ostpolitik hob den Alleinvertretungsanspruch gegenüber der DDR auf und erkannte im Warschauer Vertrag von 1970 die Ansprüche der Polen auf die nach Kriegsschluss erworbenen ostdeutschen Provinzen an.
Ein entscheidendes deutsches Industrieprojekt fand schließlich die Zustimmung der Amerikaner, nämlich die Lieferung von Stahlröhren an die Sowjetunion zum Bau einer Gasleitung nach Deutschland, wobei die Bezahlung im Wege eines Barter-Geschäftes durch die Lieferung von Gas erfolgen sollte.Alle Beteiligten waren sich über das Problem einer eventuellen Abhängigkeit von der Liefer- als auch von der Abnehmerseiten im Klaren, aber alle Beteiligten akzeptierten, dass eine solche wechselseitige Abhängigkeit eher stabilisierend wirken würde und die Grundlagen für eine wirtschaftliche Kooperation verstärken würde- wie es dann auch gekommen ist.
Wenn man diese Entwicklung bildlich sieht, so haben Ost und West nicht nur einen Puffer zwischen Daumen und Abzug geschoben, sondern ein Matratzenlager. Heute erleben wir, das eine Matratze nach der anderen weggezogen wird. Wir stehen etwas fassungslos vor der sich wiederum präsentierenden Nacktheit des Verhältnisses von Daumen und Abzug.
Als ehemaliger Verhandler in Fragen der Sicherheit, Abrüstung und der deutschen Wiedervereinigung verblüfft mich am meisten der Mangel der Einsicht in die Zwänge des nuklearen Komplexes. Ich habe den ‚Eindruck, als ob aktuelle Politiker in Deutschland – und ich nenne hier mal Norbert Röttgen, Annegret Kramp-Karrenbauer, Alexander Graf Lambsdorff, Annalena Baerbock und Heiko Maas – die Übersicht über die Komplexität des Umgangs mit der nuklearen Bedrohung verloren haben.Es wäre schon schlimm genug, wenn diese es einfach nicht begriffen hätten. Noch schlimmer wäre es allerdings, wenn sie auf der Basis ihrer Unkenntnis oder ihres bösen Willens eine vernünftige Außenpolitik torpedieren würden.
Die Kindlichkeit von AKK
Die Kindlichkeit von AKK darüber nachzudenken, welche nuklearen Optionen es im Verhältnis zu Russland geben könnte, verkennt völlig, dass hier eine Abkopplung stattfindet von der abschreckenden Wirkung strategischer Waffen. Kurzstreckenraketen und Mittelstreckenwaffen führen uns einem begrenzten Krieg näher in Mitteleuropa, dem Russland und die USA entspannt entgegenblicken können, weil sie keine ernstzunehmenden Vergeltungsschläge mit strategischen Mitteln zu befürchten haben. Solche Spinnereien, wie sie in der Bundeswehr und in NATO angestellt werden, weichen die bisher bestehende Abschreckungsdoktrin zwischen Ost und West auf. Obwohl ich keine Nähe zur CDU habe, hat mich vor 32 Jahren ein Spruch des ehemaligen CDU-Abgeordneten Alfred Dregger nahezu einen Freudensprung machen lassen. „Je kürzer die Reichweite, umso toter die Deutschen“.
Wir brauchen das Rad der Geschichte nicht neu zu erfinden. Es reicht eine Rückkehr zu bewährten Strategien und Zielsetzungen.Politische Logik gebietet unverändert die Pflege und den Ausbau transatlantischer Beziehungen. Es macht keinen Sinn, die Beziehungen zu den USA und den Fortbestand der NATO in Frage zu stellen. Europa ist keine Insel in der Welt – es ist vom Miteinander mit anderen Staaten und Regionen abhängig. Die EU und die USA unterhalten mit großem Abstand die wichtigsten Beziehungen zwischen zwei Kontinenten in der Geschichte der Menschheit. Sie sind die wirtschaftlich am stärksten miteinander verflochtenen Regionen weltweit. Europa braucht eine starke Partnerschaft mit den USA und umgekehrt. Eine NATO, die schon 1967 die Schaffung einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung forderte, bleibt aktuell, soweit sie ihren Zielsetzungen treu bleiben will. Das ausgewogene Gleichgewicht zwischen „ausreichender militärischer Sicherheit“ und einer Politik der Entspannung, Zusammenarbeit und Abrüstung – wie im Harmel-Bericht festgeschrieben – hat unverändert das wesentliche Instrument westlicher Sicherheitspolitik zu sein.
Nato als politisches Bündnis verstehen
Die NATO hat sich als politisches Bündnis zu verstehen. Dieses Verständnis ist in den zurückliegenden Jahren verwischt worden. Abschreckung allein kann keine Politik sein. Das Bündnis war nie eine reine Militärallianz und darf es auch in Zukunft nicht sein. Die NATO muss auch bei einer sich verändernden Sicherheitslage in Europa bereit sein, in einem neuen kollektiven Sicherheitssystem aufgehen zu können. Einige meinen, dass die damalige Ostpolitik heute scheitern würde, weil die aktuellen Probleme viel schwieriger seien.Es hat zu keinem Zeitpunkt – und sicher auch nicht heute – größere Bedrohungen für Europa gegeben als zur Zeit des Kalten Krieges. Auf beiden Seiten der Demarkationslinie durch Deutschland gab es ein präzedenzloses Massenaufgebot von Streitkräften, Panzern, Raketen, Kampfflugzeugen und Geschützen. Es hat die Politik nicht aufgehalten, Frieden nach Europa bringen zu wollen.Wir haben mit dieser Politik die Wiedervereinigung, den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Mitteleuropa und die Auflösung des Warschauer Paktes erreicht, bekanntermaßen nicht gegen, sondern mit der Sowjetunion.
Nicht allein die Annexion der Krim
Unsere Fähigkeit, Krisen bewältigen zu können, sollte lösungsorientiert auf die gegenwärtige, nun seit Jahren vor sich her dümpelnde Ukrainekrise und die Beziehungen zu Russland angewandt werden. Die gegenwärtige Krise kann nicht allein auf die völkerrechtliche Annexion der Krim zurückgeführt werden.
Sie ist auch die Folge eines außenpolitischen Paradigmenwechsels der USA, der schon vor mehr als einem Jahrzehnt eingesetzt hat.
Die traditionelle Doppelstrategie von ausreichender militärischer Sicherheit einerseits und einer Politik der Entspannung, Abrüstung und wirtschaftlichen Kooperation andererseits scheint für die USA nicht mehr verbindlich zu sein. Man kann aber einen so gigantischen Partner wie Russland politisch und wirtschaftlich nicht einfach abkoppeln. Die wirtschaftliche Entwicklung von Europa würde einbrechen. Es gibt Kreise in den USA, die dieses Ziel seit Jahren hartnäckig verfolgen. Sie wollen das wirtschaftliche Gewicht der Europäischen Union und Deutschlands reduzieren und verhindern, dass sich die billigen Arbeitskräfte und die Rohstoffe Russlands mit deutschem Kapital und deutscher Technologie „vermählen“.
Ein in CICERO veröffentlichtes Gespräch mit dem Chef des einflussreichen Think-Tanks STRATFOR, George Friedman, vermittelt hierzu interessante Einblicke. Aber die USA würden selbst erheblichen Schaden nehmen, wenn sie auf die Synergien verzichten würden, die sich bei voller Ausschöpfung der wirtschaftlichen Möglichkeiten im Kooperationsraum von Vancouver bis Wladiwostok einstellen. Die klassische amerikanische, inzwischen wieder vorherrschende Vorstellung, geht von einer durch die USA als einziger Supermacht bestimmten Weltordnung aus.
Zbigniew Brzezinski empfahl den USA 1997 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ den eurasischen Kontinent unter ihrer Kontrolle halten, und keinen Herausforderer aufkommen zu lassen, der Eurasien beherrschen und so eine Bedrohung für Amerika darstellen würde. Alle potentiellen Herausforderer der USA kämen aus dem Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok. Brzezinskis Ansichten versorgten die national-konservativen Amerikaner mit neuen Stichwörtern.
Geopolitische US-Interessen
Der Kalte Krieg erfuhr nun im Nachhinein eine veränderte Rechtfertigung: die Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion wurde mit geopolitischen Interessen der USA begründet.Das macht dann auch die merkwürdigen Ausführungen des bekannten amerikanischen Kolumnisten der New York Times, Tom Friedman, auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2008 verständlicher: „Wir erwarten von Euch Russen, dass Ihr Euch wie eine westliche Demokratie verhaltet, aber wir werden Euch behandeln, als wäret Ihr weiterhin die Sowjetunion. Der Kalte Krieg ist für Euch vorbei, aber nicht für uns“.
Die klassische, aber nach wie vor vorherrschende Vorstellung, geht von einer durch die USA als einziger Supermacht bestimmten Weltordnung aus. Die Sicherung eines globalen Führungsanspruchs der USA und eine Politik der Ausgrenzung Russlands haben unbestreitbaren Vorrang. Es wird Zeit, dass Europa aufwacht und die Illusionen aufgibt, dass die Amerikaner Europa lieben Sie lieben das Geschäft mit Europa und sie lieben den europäischen Markt. Aber europäische und amerikanische Interessen fallen auseinander.
Es wird keine Sicherheit gegen Russland, sondern nur mit Russland geben. Nur eine kontinuierliche, ernsthafte und vertrauensbildende Zusammenarbeit der Nuklearmächte USA und Russland bietet Europa Schutz vor nuklearen Katastrophen. Die Annexion der Krim hat die Entfremdung maßgeblich verschärft, auch wenn Russland seit Jahren die USA immer wieder vor den Folgen einer weiteren Verschiebung ihrer Einflusssphäre gewarnt hat – deutlich und eindringlich. Die Annexion der Krim war und bleibt ein Bruch des Völkerrechts, so wie die Annexion von Nordzypern durch den westlichen Bündnispartner Türkei Unrecht war und bleibt. Es ist auch rechtens gegen einen Bruch des Völkerrechts Strafsanktionen zu verhängen
Andererseits geht es nicht an, die realpolitischen Interessen der USA und Russlands, ihre Einflusssphären in der Region behaupten bzw. erweitern zu wollen, auszublenden. Henry Kissinger hat 2016 einen bemerkenswerten Gedanken entwickelt. Er wies auf eine jahrhundertealte Erfahrung Russlands mit Einmärschen fremder Armeen hin: Schweden, Polen, Franzosen und Deutsche. Er stellt fest: „Wenn seine Sicherheitsgrenze sich von der Elbe 1000 km in Richtung Osten nach Moskau bewegt, wird Russlands Auffassung von einer Weltordnung eine unvermeidbare strategische Komponente enthalten“. Darin liegt keine Rechtfertigung, wohl aber – wie er selbst ausführt – ein Bemühen, die gegenwärtigen Turbulenzen zu überwinden.
Geopolitische Aspirationen haben das Handeln von Mächten seit jeher bestimmt. Kaum eine Nation wird für sich beanspruchen können, in einem Glashaus zu sitzen. In einer modernen Weltordnung sind sie jedoch ein Störfaktor. Die Lösung der aktuellen Krise wegen der Krim ist nicht über eine Versteinerung über der Rechtsfrage zu erreichen. Das Ritual der EU, alle sechs Monate Sanktionen gegen Russland zu verhängen, ist bürokratisch, abgestumpft und peinlich. Es verhindert jedwede politische Lösung.
Stunde der Verantwortungsethiker
Dies ist längst nicht mehr die Stunde der „Gesinnungsethiker“, sondern der „Verantwortungsethiker“, wie Max Weber feststellen würde. Es geht darum, im Interesse unserer Sicherheit den politischen Dialog wieder aufzunehmen und die Stützpfeiler für die Beziehungen zu Russland wieder zu verstärken. Es besteht kein Anlass, im Umgang mit Russland neue Parameter zu definieren. Wem nützt es, wenn die Ausrichtung der amerikanischen Diplomatie nicht mehr verständlich ist, wenn infolgedessen die Krise in der Ukraine – der erste Stellvertreterkrieg auf europäischem Boden – keine Aussicht auf ein Ende hat, wenn sich Europa spaltet, der Zusammenhalt des nordatlantischen Bündnisses zerbrechen würde, wenn tiefe Risse zwischen Europa und Amerika entstehen und wir Europäer Russland und seine Menschen als Partner verlieren?
Die globalisierte Welt beruht auf Arbeitsteilung, wechselseitiger Abhängigkeit, Zusammenarbeit und gegenseitiger Anerkennung. Wenn Entwicklung, Wohlstand und Sicherheit nachhaltig Bestand haben sollen, muss das Prinzip gelten, dass wir Probleme nur gemeinsam lösen können und kein Staat sich anmaßen darf, es alleine schaffen zu wollen und anderen mitzuteilen, was für sie gut ist. Die Amerikaner haben uns Europa nicht als Lehen gegeben, und wir sind nicht ihre Vasallen. Es ist unser angestammter Kontinent, über den wir bestimmen wollen.
Ohne jeglichen Ehrfurchtsgestus müssen wir jetzt Amerika an seine politische Verantwortung erinnern. Wir haben Anspruch auf eine berechenbare US-Außenpolitik. Und die Amerikaner müssen verstehen, dass, wenn es gar nicht anders geht, es auch ohne sie gehen wird. Eine Politik die nicht auf Zusammenarbeit mit Russland, sondern auf Ausgrenzung abstellt, kollidiert mit unseren Wertvorstellungen. Sie wäre auch verfassungsfeindlich. Das Grundgesetz hat in Artikel 26 eine Verpflichtung verankert, das friedliche Zusammenleben der Völker zu fördern. Dies ist eine unmittelbar bindende Vorschrift unserer Verfassung; sie verpflichtet jedermann – staatliche Organe wie auch jeden Bürger.
Um es im Klartext zu sagen: Im internationalen Umgang unter Staaten ist Respekt, Berechenbarkeit und Klarheit erforderlich. Daran fehlt es in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen.
Über den Autor: Botschafter a. D. Frank Elbe, Rechtsanwalt, Publizist. 1971 bis 2005 im diplomatischen Dienst überwiegend mit Ost-West Beziehungen, Sicherheits- und Abrüstungspolitik befasst. 1987 bis 1992 Verwendungen als Redenschreiber für Außenminister Genscher, Leiter des Ministerbüros im Auswärtigen Amt, Teilnehmer bei den Zwei-plus-Vier- Verhandlungen über die Einheit Deutschlands, Botschafter zur besonderen Verwendung, Leiter des politischen Leitungsstabes und Leiter des Planungsstabes. 1993 bis 2005 Botschafter in Indien, Japan, Polen und der Schweiz. Seit 2006 Rechtsanwalt in Bonn – in Zusammenarbeit mit der Kanzlei Kubicki(kiel)
Dieser Text wurde als Vortrag vor Studenten am 16. 11. 2021 in Bonn gehalten.
Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Beitrags
Erstveröffentlichung: https://www.blog-der-republik.de/zum-umgang-mit-russland-rueckkehr-zu-bewaehrten-strategien-ein-gastbeitrag-von-frank-elbe-botschafter-a-d/
Bild oben: US-Präsident Gerald R. Ford und der Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew stoßen nach der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) an. (01.08.1975)
Foto: unbekannt, gemeinfrei
Quelle: commons.wikimedia.org