Missbrauchsskandal und Kollateralschaden
Die katholische Kirche in Zeiten der Wegwerfethik
Der Skandal um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche nimmt kein Ende; dazu tragen viele Faktoren bei. Dass die Kirche ein riesiger Konzern ist, beispielsweise. Aber die Folge dieses Skandals war auch eine Nivellierung der ethischen Debatte, die die Gesellschaft nicht besser machte.
von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 09.01.2022 auf RT DE
In wenigen Tagen soll ein neues Gutachten zu sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising vorgestellt werden. Seit dem Jahr 2010, also bereits seit über zehn Jahren, wird insbesondere die katholische Kirche dieses Thema nicht mehr los. Es hat ihr einen gravierenden Einflussverlust beschert. Dass sich die Politik heute auf Äußerungen eines obskuren Ethikrates beruft, ist eine der Spätfolgen dieses lang anhaltenden Skandals.
Das Gutachten über München und Freising erregt vor allem wegen eines ehemaligen Münchner Bischofs Aufmerksamkeit, der inzwischen der erste pensionierte Papst der Weltgeschichte ist – Joseph Ratzinger, später Benedikt XVI. Er hatte als Bischof mit einem der bekanntesten Fälle zu tun, in dem es um einen von Essen nach Bayern versetzten Priester ging, der über einen langen Zeitraum hinweg Knaben missbrauchte. Dieser eine Fall wurde gerade erst in der ZEIT ausführlich behandelt.
Die Missbrauchsopfer sowie kritische Katholiken beklagen den Umgang der kirchlichen Würdenträger mit dem Problem. Beispielhaft dafür sind Aussagen der Künstlerin Lisa Kötter, inzwischen aus der Kirche ausgetreten, die eine Reformbewegung mit dem Namen Maria 2.0 mitgegründet hatte: „Ich weiß nicht, was erschreckender ist: Die Empathielosigkeit gegenüber den betroffenen Personen, die hier zutage tritt oder die Schamlosigkeit, mit der immer von neuem verhindert wird, dass Unrecht benannt und so für die Geschädigten endlich so etwas wie Gerechtigkeit hergestellt werden kann.“ Zwar wurden inzwischen vielfach Entschädigungen an die Opfer gezahlt, weit mehr aber für Anwälte und Kommunikationsberater ausgegeben, wie etwa jüngst am Beispiel des Erzbistums Köln bekannt wurde. Das kommt weder bei den Opfern noch bei der Öffentlichkeit gut an.
Allerdings verhält sich da die Kirche so wie jeder andere Konzern. Das wird oft genug vergessen. Die Kirche wird als moralische Instanz betrachtet und beurteilt, und nicht als der Wirtschaftskonzern, der sie zweifellos ebenso ist. In Deutschland beschäftigt sie zwar nur noch 12.500 Priester, aber die Caritas hat mit ihren unzähligen Unterorganisationen fast 700.000 Beschäftigte. Unbekannt ist das genaue Ausmaß des Immobilienbesitzes; aber geschätzt besitzt die katholische Kirche 130.000 Wohnungen in Deutschland. Die Kirchensteuereinnahmen beliefen sich im Jahr 2020 auf 6,6 Milliarden Euro; das ist das Budget einer Millionenstadt, und die Umsätze der Caritas sind darin noch nicht enthalten.
Jede Struktur dieser Größe reagiert in gleicher Weise auf Anschuldigungen von außen. Sie wahrt zuallererst das eigene Gesicht. Auch Anwälte und Kommunikationsberater. Und die Linie zwischen innen und außen verläuft nicht zwischen der Gesellschaft und der Kirche, sondern zwischen dem Apparat, seinen Beschäftigten und den gewöhnlichen Mitgliedern. Das ist nicht einmal eine Frage bösen Willens; es ergibt sich aus den alltäglichen Abläufen. Die Vorstellung einer „Gemeinschaft der Gläubigen“ kollidiert gleich doppelt mit der Realität – einmal mit der Funktionsweise eines großen Apparats, der sich noch dazu über Jahrhunderte entwickelt hat, und ein weiteres Mal mit den schlichten ökonomischen Interessen.
Der Kirchenrechtsprofessor Norbert Lüdecke gab dazu in einem Interview mit der ZEIT einen entscheidenden Hinweis: „Die Entlassung aus dem Klerikerstand ist ja auch nur formal die Höchststrafe. Tatsächlich kostet sie das jeweilige Bistum schnell mehrere hunderttausend Euro für die Nachversicherung bei der Rentenkasse, und der Täter kann danach mit voller Rente ein selbstbestimmtes Leben führen.“ Bezahlt aus Kirchensteuern übrigens. Im Falle des ursprünglich von Essen nach Bayern versetzten Priesters hält Lüdecke die 2016 von einem Kirchengericht getroffene Entscheidung für klüger: „Das von Wolf gewählte Strafmaß ist für den Täter wie auch für den zuständigen Bischof im Vergleich dazu deutlich unangenehmer: H. ist nun rechtlich ein zwar völlig privatisierter Priester, der keinen kirchlichen Dienst mehr ausüben darf, er bleibt aber dem Bischof von Essen unterstellt, der damit nicht nur relativ frei über H.s Gehalt verfügen kann, sondern auch weiterhin in der Pflicht ist, ihn angemessen zu kontrollieren.“
Besagter H. ist darüber hinaus aber auch ein bereits regulär verurteilter Straftäter – eine große Ausnahme bei kirchlichen Missbrauchsfällen. Im Jahr 1986 verurteilte ihn das Amtsgericht Ebersberg wegen Missbrauchs in acht Fällen zu achtzehn Monaten auf Bewährung und einer Geldstrafe von 4.000 DM. Erst zwanzig Jahre später wurde eine Verhandlung gegen ihn vor dem Kirchengericht geführt.
Dass es dieses Sonderrecht überhaupt noch gibt, ist in diesem Zusammenhang ein Problem. Die Kirchen sind rechtliche Ausnahmezonen, mit eigenen Gesetzen und eigener Gerichtsbarkeit. Im Grunde ein Relikt des Mittelalters, als es kein einheitliches, allgemeingültiges Recht gab, sondern Territorialherren, Städte, Zünfte, auch Universitäten jeweils eigenes Recht und eine eigene Gerichtsbarkeit besaßen. Die Hälfte der oberitalienischen Universitäten ist aus Streitigkeiten um die Gerichtsbarkeit entstanden. Wenn die Stadt, in der die Universität saß, meinte, über einen Angehörigen der Universität urteilen zu dürfen, zog die ganze Universität in eine andere Stadt; wurde der Streit beigelegt, blieb ein Teil am neuen Ort zurück. Das geschah nicht nur einmal, sondern mehrfach.
Allerdings ist das Kirchenrecht, so archaisch es heute in unser Rechtssystem hereinragt, zugleich über Jahrhunderte hinweg das einzige auf einem großen Gebiet einheitliche Recht gewesen. Erst mit dem Code Napoleon entstand staatliches Recht, wie wir es heute kennen. Doch in einer Gesellschaft, in der inzwischen 40 Prozent der Bevölkerung keiner Konfession angehören und der Anteil der Katholiken auf nur noch 26,7 Prozent zurückgegangen ist (1995 waren es noch 35,4 Prozent), wird es zunehmend zu einem Fremdkörper, dessen Sonderstellung nicht mehr nachvollziehbar ist. Die meisten Deutschen dürften nicht einmal wissen, dass es existiert.
Das Gefühl einer tiefen Ungerechtigkeit, die der Umgang der katholischen Kirche mit den Missbrauchenden auslöst, entsteht zum Teil auch durch die Kollision der beiden unterschiedlichen Rechtssysteme. Der Täter eines Missbrauchs in der übrigen Gesellschaft wird weit härter bestraft; und nicht nur die Strafe selbst ist höher, auch die wirtschaftlichen Folgen kommen noch hinzu. Ehemalige Häftlinge finden schwer eine neue Arbeit oder Wohnung.
Verglichen damit verhält sich die Kirche ihren Tätern gegenüber äußerst fürsorglich. Auch der oben erwähnte H. wird nie unter einer Brücke schlafen müssen. Allerdings ist der Grund für diese Fürsorge, dass, wie es christlich formuliert wird, auf Reue gesetzt wird. Säkular formuliert, wäre das eine Betonung von Einsicht und Resozialisierung gegenüber der Strafe, und das ist eigentlich der menschlichere Ansatz. Wenn man sehen will, wie das in staatliches Recht umgesetzt wird, muss man zum Strafgesetzbuch der DDR greifen. Abseits der Frage von Imagepflege und Vertuschung (dem üblichen Konzernverhalten) und schierer Unachtsamkeit – einen menschlichen Ansatz als Ausgangspunkt des Rechts sollte man nicht zum Vorwurf machen; nicht einmal der katholischen Kirche.
Es gibt keinen einfachen Schritt, der das Missbrauchsproblem wirklich lösen könnte. In Frankreich entdeckte eine unabhängige Untersuchungskommission in der Zeit ab 1950 über 3.000 pädophile Priester. Die katholische Kirche ist von diesem Problem weitaus stärker betroffen als die protestantische, und die Ursache ist ebenfalls tief im Kirchenrecht verankert – es ist das Zölibat.
Sein ursprünglicher Zweck bei seiner Einführung unter Papst Gregor VII. war schlicht, zu verhindern, dass Priester Erben zeugen, die einen Teil des von der Kirche angesammelten Vermögens wieder privatisieren. Da machten vor allem die Bischöfe unangenehm auf sich aufmerksam, die meist aus aristokratischen Familien stammten und kirchlichen Landbesitz gern wieder unter die Kontrolle ihrer Verwandtschaft brachten.
Aber natürlich wurde das damals nicht ökonomisch begründet, sondern religiös, und seither dürfen katholische Priester keine Ehen mehr schließen. Weshalb heute zum einen nur noch schwer Interessenten zu finden sind, und zum anderen am ehesten jene diesen Beruf wählen, deren sexuelle Interessen darunter nicht leiden. Solange dieses Auswahlkriterium bestehen bleibt, bleibt auch das Problem erhalten.
Der Fall H. ging, das steht fest, im Jahr 1980 auch über den Tisch des damaligen Münchner Bischofs Joseph Ratzinger, da die Diözese Essen den Priester gern nach Bayern versetzt sehen wollte. Die Information über die Essener Missbrauchsfälle war auf jeden Fall Teil der Akte. Das wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl in ihrem Gutachten feststellen.
Das belegt, dass der pensionierte Papst mindestens ein unachtsamer Verwalter war. Und nicht nur er – der gesamte damalige Apparat wusste nicht oder wollte nicht wissen, wie groß der Schaden noch werden würde, den die unterlassene Fürsorge für die Missbrauchsopfer der Institution zufügt. Einen wirklich hilfreichen Umgang mit den Opfern hat die Kirche bis heute nicht gefunden; Entschädigungen von einigen tausend Euro sind keine wirkliche Lösung. Wenigstens die Übernahme der Kosten für erforderliche Therapien wäre angebracht; aber dem dürfte im Weg stehen, dass aus kirchlicher Sicht Psychotherapie eine Konkurrenz ist, die denselben Acker bestellen will.
Irgendwann wird der katholische Apparat auch diese Frage verdaut haben; schließlich hat er zwei gewaltige gesellschaftliche Umbrüche überstanden, von der Antike in den Feudalismus und von dort in den Kapitalismus, wenn auch stets mit Anpassungsschwierigkeiten. Aber der Kollateralschaden, der abseits der konkreten Missbrauchsfälle angerichtet wurde, ist enorm.
Manchmal wünschte ich mir, wenn wieder eine der Äußerungen aus dem Deutschen Ethikrat ergeht, dieser regierungsfreundlichen Ersatzkirche, irgendeinen bärtigen Franziskanerabt, der etwas vom Heiligen Franziskus und den Leprakranken murmelt und darüber, dass die Corona-Maßnahmen gegen die christliche Nächstenliebe verstießen. Oder auf Skandale wie Cum-Ex die Ermahnung erfolgt, dass Habgier eine Todsünde sei.
Aber nach der Arbeiterbewegung, die auch eine moralische Instanz war, sind nun eben auch die Kirchen entsorgt. Übrig bleibt eine Wegwerfethik, die nahtlos in eine Politik passt, die vor jedem oligarchischen Interesse in die Knie geht und deren Menschenbild so angepasst und verzwergt ist, dass jeder Hauch menschlicher Größe daraus entschwindet. Man sehnt sich nach einem Ausbruch von Menschenliebe.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Link zur Erstveröffentlichung: https://de.rt.com/meinung/129532-missbrauchsskandal-und-kollateralschaden-katholische-kirche/
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