Kasachstan hat die Lizenz zum Unheil
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Die revolutionären Umtriebe auf den Straßen von Kasachstan strafen den Satz von Goethe Lügen. Danach ist es für die Hiesigen unbeachtlich, wenn sich noch jenseits der Türkei die Völkerschaften die Köpfe einschlagen. Kasachstan geht uns alle an. Das zeigt sich schon an den geographischen Dimensionen. Würde man an der westlichen Landesgrenze von Kasachstan hingehen und das Land auf der Landkarte umkippen, käme man aus dem Staunen nicht heraus.
Kasachstan würde bis kurz vor Hamburg sich erstrecken. Beim Beitritt der neuen zentralasiatischen Republiken nach dem Zerfall der Sowjetunion war es Kasachstan, über das die damalige “Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa” das Tor zu einer umfassenden Zusammenarbeit nicht nur mit Kasachstan aufstieß. Eine Zwischenlandung auf dem Flugplatz von Aktyubinsk, hart an der Grenze zu Russland, für die Sondermaschine der SAS mit einer Delegation der KSZE zur Aufnahme der zentralasiatischen Staaten in diese Organisation, war der erste Schritt in diese dem Westen völlig unbekannte Region. Die Vorsitzende der KSZE und schwedische Außenministerin, Baronin of Uglass, hatte diese Reise in die Hauptstädte der Region glänzend vorbereitet. Dennoch musste die Delegation zur Kenntnis nehmen, wie wenig man über das tatsächliche Leben in der Region wusste. Kein Wunder, dass man sich bei Buchara, Taschkent und Samarkand bestenfalls an „Tausend und eine Nacht“ erinnerte.
Das sollte politisch auch später so bleiben, als nach einigen Jahren der Neugier und einer beginnenden Zusammenarbeit für die deutsche Politik diese Großregion in einem „politischen Bermuda-Dreieck“ oder „schwarzem Loch“ verschwand. Das wird für Deutschland an einer Persönlichkeit mehr als deutlich. Als mit dem Ende der Regierung Kohl 1998 auch die Tätigkeit von Staatssekretär Horst Waffenschmidt als Aussiedlungsbeauftragtem der Bundesregierung beendet war, war gleichsam alles vorbei. Afghanistan ließ aufblitzen, welche Dimension Unheil annehmen könnte, aber das war noch weiter weg, um mit Goethe zu sprechen.
Dennoch ist Afghanistan nach dem amerikanischen Einmarsch 2001 ein Schlüsselfaktor für das Verständnis für die eruptive Gewalt, die in diesen Tagen in Kasachstan ausgebrochen ist. Vieles ist seither mantraartig mit dem “Kampf gegen den Terror” im westlichen Bündnis begründet worden. Bis zur heutigen Mali-Mission der Bundeswehr ist das der Fall und den NATO-Generalsekretär Stoltenberg kann man dazu nicht mehr hören. Er mag es für sich unterdrückt haben, was nach dem amerikanischen Einmarsch im nördlichen Afghanisatan geschah. Im usbekischen Teil Afghanistans mit der Kommandostadt von General Dostum, Sheberghan, wurden in endlos erscheinenden Containerreihen Taliban eingepfercht, um anschließend mit Maschinengewehrfeuer in den Containern massakriert zu werden. Ohne jede Folge hat das im Deutschen Bundestag, auch weil holländische Journalisten am Ball blieben, eine Rolle gespielt, ohne je Konsequenzen nach sich zu ziehen. Das hatten wir schon einmal, dass der Zweck die Mittel heiligte, diesmal für das NATO-Bündnis.
Zeitgleich geschah allerdings etwas anderes, das die Welt bis heute in Atem hält und nach Beobachtungen von deutschen Landsleuten auch für die Unruhen in Kasachstan festgehalten werden muss. Tausende von Taliban-Kämpfern wurden zeitgleich zu den genannten Massakern aus Nordafghanistan von der amerikanischen Luftwaffe ausgeflogen, um zwischen dem Persischen Golf und Nordafrika überall dort eingesetzt zu werden, wo es im westlichen Kriegsinteresse gewesen ist.
So verblüfft es niemanden, wenn jetzt in Kasachstan nicht nur von fremden Scharfschützen die Rede ist, die schon in Afghanistan oder Syrien eingesetzt gewesen sind. Man sollte sich in Erinnerung rufen, was aus dem amerikanischen Außenministerium Mitte der neunziger Jahre verlautete, dass die Taliban “our boys” sein würden und man Afghanen nicht “kaufen, aber mieten” könne. Es ist das fortdauernde Modell, das schon bei Adolf Hitler umgesetzt worden ist. Unter eigener Kontrolle werden diejenigen herangezüchtet, die man anschließend mit noch größerem Aufwand bekämpfen kann. So wird der “militärisch-industrielle Komplex” dauergeschmiert. Wir machen mit und wundern uns anschließend, dass unsere demokratische, politische, ökonomische und soziale Basis in diesen Dauerkriegen verpulvert wird.
In Kasachstan zeigt sich das drastisch-dramatisch. Natürlich kann man von außen und bestimmt auch derzeit von innen nicht feststellen, wo die “üblichen Verdächtigen” vorzufinden sind. Aber eines ist gewiss, wenn man sich vor allem mit den Präsidenten Nasarbajev und Tokajev beschäftigt. Wenn das von ihnen geschaffene System sein Ende finden sollte, ist der Kontinent in einer nicht lösbaren Lage. Gewiss, Nasarbajev und Tokajev hatten Stammesprobleme, weil sie nicht der “Großen Horde” als dem wichtigsten kasachischen Clan zugeordnet wurden. Sie stehen für ein System der “großen, offenen Taschen” für einige wenige, in diesem rohstoff-überreichen Land, das auch und gerade von US-Konzernen ausgebeutet wird.
Der ehemalige Präsident Nasarbajev steht mit seinem Nachfolger Tokajev für eine politische Glanztat, weil beide versucht haben, das potentielle Blutbad in Zentralasien zu verhindern.
Über dreißig Jahre war dieser Versuch von Erfolg gekrönt, weil Präsident Nasabajev versuchte, die Konzepte der friedlichen Konfliktlösung durch die KSZE von Europa auf Asien zu übertragen. Ungelöste Grenzfragen, Militärkonflikte nicht nur am Ussuri, bestimmten die Lage zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China. Auslösender Faktor war der Umstand, dass östlich und westlich des Trenngebirges Tien-Shan identische Völkerschaften lebten, die einen in der Sowjetunion, die anderen in der Volksrepublik. Der Wunsch nach nationaler Einheit war ebenso bei den Uiguren wie den anderen verständlich wie brandgefährlich für die gesamte Welt, wie heute der amerikanische Ansatz in dieser Region deutlich macht. Über die geduldige Tätigkeit von Präsident Nasarbajev gelang ihm, internationale Unterstützung für sein Konferenzprojekt der KSZA zu finden, um feststellen zu müssen, dass ausgerechnet die für die KSZE so hilfreiche Macht, die USA eben, alles unternahm, es nicht zu einer friedlichen Konfliktlösung in dieser Region kommen zu lassen. Gemeinsam mit dem damals noch jungen Diplomaten und heutigen Präsidenten, Herrn Tokajev, war man Zeuge der amerikanischen Bemühungen, nur ja kein asiatisches Modell der im Westen so erfolgreichen KSZE sich bilden zu lassen. Die amerikanischen Bemühungen waren vergeblich, wie die heutige “Shanghai Kooperationsgruppe” mit den Großstaaten China, Indien, Pakistan, Iran, Türkei und Russland neben Kasachstan und anderen zeigt.
Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem Gebiet des Clans “Große Horde”, der zwischen Urumchi in China, über Almaty in Kasachstan und Taschkent in Usbekistan siedelt wird schlagartig klar, dass jeder Versuch, den gerade dort so verachteten Präsidenten Tokajev mit seinem Vorgänger Nasarbajev zu beseitigen, der Versuch verbunden sein dürfte, auf eine grundsätzliche Änderung der auf Zusammenarbeit in schwierigsten Siedlungsfragen hinzuwirken.
Die USA wussten, warum sie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre Präsident Nasarbajev in seinem Verhandlungsansatz für die KSZA torpedierten. Jetzt muss man in der Summe dessen, was man weiß oder nicht weiß, davon ausgehen, dass jeder innenpolitische Zündfunken aus ganz anderen Gründen das Großfeuer ins Visier genommen wurde. Sollte Kasachstan in Flammen aufgehen, ist der gesamte Kontinent das Opfer. Man muss sich dazu nur die Landkarten ansehen.
Willy Wimmer (CDU), ehem. Bundestagsabgeordneter
sowie Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung,
1994 bis 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE
(Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)
Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
Es folgt ein weiterer Kurztext des Autors
Das gemeinsame Haus Europa sollte das Ziel sein
Anmerkungen zu den Gesprächen in Genf, Brüssel und Wien
von Willy Wimmer
Erstveröffentlichung am 11.01.2022 auf nachdenkseiten.de
Diese erste Arbeitswoche im neuen Jahr hat es in sich. Unser Schicksal liegt in Genf, Brüssel und Wien auf dem Tisch, wenn die Vertreter Russlands und der USA, Russlands und der NATO-Staaten sowie Russlands und der anderen Mitgliedsstaaten der OSZE zusammentreffen. Da wird es offenbar keine schnellen Lösungen geben, aber eine Verpflichtung für alle, genau zu bedenken, welche Zukunft wir in Deutschland und Europa haben wollen.
Anmerkungen zur aktuellen Lage in Europa:
Deutschland und Frankreich haben beim NATO-Gipfel 2008 in Bukarest klar gemacht, dass sie weder eine Aufnahme der Ukraine noch Georgiens in die NATO wollen. Der Konferenzbeschluss war die diplomatische Form der Ablehnung. Die USA sehen das anders und wollen gegen den Willen europäischer Staaten der Ukraine und Georgien zur Durchsetzung ihrer strategischen Interessen und gegen den Willen europäischer Staaten den Weg zur Mitgliedschaft offenhalten.
Deutschland und Frankreich haben 2015 nach dem Putsch in der Ukraine im Minsker Abkommen mit Russland und der Ukraine der Ukraine die Verpflichtung auferlegt, den Gebieten im Osten der Ukraine einen besonderen Autonomiestatus zu gewähren.
Die Ukraine unterläuft diese Verpflichtung und weigert sich, die Autonomie umzusetzen. Darin werden sie von den USA mittels Waffenlieferungen unterstützt.
Die Politik der USA in der NATO mit dem Ziel, ohne Bindung an den NATO-Vertrag die Mitgliedsstaaten der NATO auf die vertragswidrigen, globalen Ziele der USA zu verpflichten, haben extrem negative Auswirkungen auf die Rechtsgültigkeit der NATO-Politik seit dem Beschluss über das strategische Konzept der NATO aus dem April 1999 in Washington. Dieser Beschluss ist ein Bruch des NATO-Vertrages.
Die USA verfolgen erklärtermaßen das Ziel, Russland aus Europa herauszudrängen. Sie zerstören damit Geist und Inhalt der Charta von Paris vom November 1990. Damals wurde unter Einschluss der USA und der Sowjetunion der Weg zur Zusammenarbeit der Vertragsstaaten geöffnet. Das gemeinsame Haus Europa sollte das Ziel sein.
Die Sondierungsgespräche in diesen Tagen in Genf zwischen den USA und Russland machen deutlich, wie weit entfernt wir von der Charta von Paris sind und wie nahe wir uns an einer endgültigen Bruchlinie und einem möglichen Krieg in Europa befinden. Die Ereignisse in Kasachstan machen in Begleitung zu den Gesprächen in Genf klar, welche Auswirkungen es für uns alle hat, wenn eine Politik „auf des Messers Schneide“ betrieben wird. Der amerikanische Außenminister Blinken hat in diesen Tagen darauf hingewiesen, wie Staaten andere Staaten behandeln müssen, sollte der Frieden gewahrt bleiben. Die Welt stünde besser da, wenn die USA dem in den Jahrzehnten seit der Charta von Paris entsprochen hätten.
Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung auch dieses Beitrags.
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