Boris Palmer und die Impfpflicht: Mit Corona in den Bürgerkrieg?
Wie weit sind Politiker bereit zu gehen, um zur Impfung zu nötigen? Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat hier neue Maßstäbe gesetzt: Er ist bereit, dafür das Land in Brand zu setzen. Nicht nur die Verfassung bleibt als Kollateralschaden auf der Strecke.
von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 22.12.2021 auf RT DE
Es gab schon viele geistige und auch praktische Überschreitungen während dieser Corona-Zeit, aber die jüngsten Äußerungen des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer stellen alles Bisherige in den Schatten. Das ist besonders auffällig, weil Palmer bisher als sehr pragmatischer Politiker aufgefallen war, der nicht jede ideologische Kapriole seiner Partei nachvollzog; aber diese Aussage im Interview mit der Bild kann nur noch mit einem Wort bezeichnet werden: verfassungswidrig.
Zuerst spricht er sich mit Berufung auf die umstrittenen Londoner Zahlen für eine sofortige Einführung einer Impfpflicht aus. Und dann sagt er:
„Und falls jetzt jemand sagt, das kann doch niemand durchsetzen: Das geht sogar ganz einfach. Man könnte die Pensionszahlungen, die Rentenzahlungen oder eben den Zutritt zum Arbeitsplatz abhängig machen von der Vorlage eines Impfnachweises bis spätestens 15. Januar, dann wüssten alle Bescheid, und ich bin sicher, es gäbe dann kaum noch Impfverweigerer.“
Dieser Satz ist derart unglaublich, dass man ihn wirklich im Original hören muss, um zu fassen, dass er wirklich gesagt wurde. Denn er lässt sich übersetzen mit: Wenn du dich nicht impfen lässt, entziehen wir dir die Lebensgrundlage. Nichts anderes bedeutet es, wenn die Zahlung von Sozialleistungen und der Zugang zum Arbeitsplatz mit der Vorlage eines Impfnachweises verknüpft werden. Dieses Vorgehen unterscheidet sich von einer unmittelbaren physischen Bedrohung nur darin, dass jene mit größeren finanziellen Reserven sich ihr entziehen können.
Wie reagieren Menschen, wenn sie durch staatliche Maßnahmen in ihrer physischen Existenz bedroht werden und keinen Ausweg sehen, das abzuwenden? Die deutsche Literatur kennt die Geschichte des Michael Kohlhaas. Palmer schlägt vor, eine Zwangslage zu schaffen, die durchaus gewaltsam explodieren kann.
Das ist der eine Punkt, der daran erschüttert – man sollte eigentlich von jedem Politiker erwarten, zu wissen, wo die Grenze verläuft, ab der Handlungen tatsächlich die Existenz eines Staatswesens in Frage stellen, und solche Handlungen zu unterlassen. Gut, das war jetzt nur eine Meinungsäußerung, aber selbst die Meinungsäußerung signalisiert die Bereitschaft, die Grundbedingungen eines friedlichen Zusammenlebens aufzuheben. Da geht es nicht mehr um demokratisch oder undemokratisch, um rechtsstaatlich oder nicht rechtsstaatlich, Palmer erklärt für sich und seinesgleichen das Recht, über Sein oder Nichtsein der Bürger zu entscheiden.
Es gibt bestimmte Dinge, die einem Rechtsstaat untersagt sind. Auch Strafgefangenen und Insassen geschlossener Einrichtungen darf die Nahrung nicht entzogen werden. Ihr Leben darf nicht bedroht werden. Sicher, diese Grenze ist längst nicht mehr völlig stabil; immerhin gab es jahrelang im SGB II die Möglichkeit der vollständigen Leistungsstreichung, was tatsächlich einen Entzug der Lebensgrundlage darstellte und weit über das hinausging, was bei Strafgefangenen zulässig wäre. Und es ist schlimm genug, dass solche Regelungen jahrelang gültig waren und nicht von den zuständigen Gerichten gestoppt wurden. Die Verfechter dieser Überschreitung redeten sich damit heraus, wer Sozialleistungen beziehe, müsse Gegenleistungen erbringen. Und leider ließen sich genug Menschen ausgerechnet durch eine Neidkampagne gegen die Ärmsten irreführen, sodass ihnen diese Unmenschlichkeit nicht um die Ohren flog.
Aber Palmer spricht hier von Renten und vom Zugang zum Arbeitsplatz. Also von Dingen, auf die die Betroffenen einen Anspruch haben und die die Grundlage ihrer Existenz bilden.
In einem Rechtsstaat hat der Staat nur begrenzte Möglichkeiten, Bürger zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Er darf Handlungen unter Strafe stellen und jene, die dagegen verstoßen, in Gefängnisse sperren. Er muss ihnen aber selbst dort Menschenrechte zugestehen. Das betrifft nicht nur Nahrung und Gesundheitsversorgung, sondern auch Obdach, soziale Kontakte und die Möglichkeit, eine Arbeit zu verrichten. Der Staat kann auch für einfachere Verstöße Geldstrafen verhängen, die aber, wenn sie nicht geleistet werden können, auch „absitzbar“ sein müssen, und die Höhe der Geldstrafen muss sich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Betroffenen richten.
Sich nicht impfen zu lassen ist keine Straftat. Es wäre auch schwierig, eine Straftat daraus zu machen; schließlich sind die „Täter“ gesund und damit keine Bedrohung, schädigen niemanden. Gleichzeitig führt die Impfung eben nicht zu steriler Immunität, weshalb das Argument, nicht geimpft zu sein sei eine Bedrohung für alle anderen, nicht greift. Und Straftaten sind nichts, das sich durch Wahrscheinlichkeitsrechnung in die Zukunft projizieren lässt. Man hat jemanden verletzt oder eben nicht. Es ist nicht zulässig, jemanden zu bestrafen, weil er in der Zukunft vielleicht jemanden verletzen oder mit dem Auto überfahren könnte. Das Strafrecht geht von einer objektiv belegbaren Tatsache aus; das heißt, Ausgangspunkt ist eine Tat, deren Täter bestimmt werden muss. Es geht nicht von einem potenziellen Täter aus, zu dem man sich dann eine Straftat ausdenkt. Das wäre Willkür.
Die Bundesrepublik hat mit ihrer Gründung die Todesstrafe abgeschafft. Das war eine der tatsächlich gezogenen Konsequenzen aus den zwölf Jahren der Hitlerdiktatur, die äußerst großzügig Todesstrafen verteilt hatte, in Deutschland und auch außerhalb. Einen beträchtlichen Teil davon ohne jeden Bezug zu einer Straftat, schlicht wegen der Abstammung der Betroffenen. Ohne jedes Verfahren, ohne jede Einspruchsmöglichkeit, und vielfach schlicht durch Entzug der Lebensgrundlagen, wie im Warschauer Ghetto. Um solche Handlungen zu verhindern, war es Konsens der Autoren und Autorinnen des Grundgesetzes (eine Gruppe, die zwar die Zustimmung der westlichen Besatzungsmächte benötigte, aber im Gegensatz zur späteren Adenauerrepublik noch nicht von Nazis durchsetzt war), dem Staat solche Mittel nicht zu gewähren, sondern ihn an rechtmäßige Verfahren zu binden. An individuelle, gerichtlich überprüfbare Verfahren.
Was Palmer beschreibt, ist ein verwaltungsmäßiger Vollzug einer letztlich physischen Vernichtung ohne Vorliegen einer Straftat, ohne Gerichtsverfahren. Eine Überschreitung jeder im Strafrecht gesetzten Grenze im Bereich des Verwaltungs- und Sozialrechts, die nebenbei (das sagt Palmer nicht) zynisch darauf setzt, dass selbst einstweilige Anordnungen, die Lebensgrundlage und Wohnung retten könnten, in diesen beiden Zweigen der Gerichtsbarkeit dank der permanenten Überlastung nur sehr schwer zu erhalten wären.
Palmer ist intelligent genug, zu wissen, was er sagt. Er ist auch intelligent genug, die Widersprüchlichkeiten der Corona-Politik zu erkennen, und vermutlich kann er die Debatte um die Londoner Zahlen, auf die er sich bezieht, problemlos lesen und weiß daher sehr wohl, dass nur das pessimistischste Szenario berücksichtigt wurde. Er lässt diese Kenntnis sogar durchsickern, wenn er sagt, selbst bei milderen Verläufen würde Omikron die Kliniken überlasten; es ist ihm also bewusst, dass die Behauptung, diese Variante sei gefährlicher, nicht belegbar ist. Palmer weiß vermutlich sogar, dass eine frühzeitige Behandlung einer COVID-19-Erkrankung, die hierzulande nach wie vor nicht stattfindet, die Zahl jener, die überhaupt eine Klinik benötigen, deutlich verringern könnte. Und mit Sicherheit weiß er, dass eine Zulassung anderer Impfstoffe die Impfquote ganz ohne Zwang erhöhen könnte.
Dennoch redet er von Maßnahmen, die jeden rechtsstaatlichen Rahmen weit hinter sich lassen. Empfiehlt gelassen Handlungen, die noch über das schlichte Recht auf Leben hinwegrollen wie ein Panzer. Nachdem das Bundesverfassungsgericht alle Maßnahmen ins Belieben der Executive gestellt hat, liegt es so fern, anzunehmen, dass im Falle solcher Maßnahmen viele den Moment gekommen sind, sich auf Teile von Artikel 20 des Grundgesetzes zu berufen?
Wenn ein Pragmatiker wie Palmer sich bereits so weit von demokratischen Grundsätzen entfernt hat, dass er den Rechtsfrieden selbst in Frage stellt, belegt das, welche Folgeschäden die Zeit der Corona-Maßnahmen bereits hinterlassen hat. In den Köpfen der handelnden Politiker, die längst vergessen haben, dass die Schranken, die das Grundgesetz dem staatlichen Handeln setzte, die Folge bitterer Erfahrungen waren und dass es in der Geschichte, allemal der deutschen, weit schlimmere Übel gibt als eine COVID-19-Pandemie.
Die Legitimität jedes Staatswesens hängt davon ab, ob es zum Wohle seiner Bürger agiert, zumindest ansatzweise. All seiner Bürger, auch der nicht Geimpften. Es besteht die Möglichkeit, die erklärten Impfziele zu erreichen, ohne dabei irgendwelche Menschenrechte zu verletzen. Das Vorgehen, das Palmer vorschlägt, untergräbt diese Legitimität.
Noch sind Palmers Überlegungen nur das, Überlegungen. Würden die im Grundgesetz niedergelegten Rechte noch ernst genommen, Palmer müsste seines Amtes enthoben werden. Das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht passieren, obwohl kaum verfassungswidrigere Positionen möglich sind als solche, die unmittelbar in einen Bürgerkrieg führen. Noch bleibt die Hoffnung, dass nichts davon umgesetzt wird. Was aber auf jeden Fall bleibt, ist die Tatsache, dass große Teile der politischen Klasse inzwischen vergessen haben, wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat überhaupt funktionieren. Selbst wenn COVID-19 weit gefährlicher wäre, dieser Kollateralschaden ist zu hoch.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Link zur Erstveröffentlichung: https://de.rt.com/meinung/128788-boris-palmer-oder-mit-corona-in-den-untergang/
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