Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Zivile Opfer der US-Kriegsmaschine (Teil 1 und 2)

von Rainer Rupp

Erstveröffentlichung am 11.11.2021 und 13.11.2021 auf RT DE

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Siehe auch: Teil 3


Teil 1: Die alltäglichen Kriegsverbrechen des US-Militärs

Da moderne Gesetze weniger zivile Opfer als noch vor hundert Jahren tolerieren, ist der moderne Krieg viel humaner. So lautet das von Washington erfundene, von den Medien verbreitete und in der westlichen Öffentlichkeit fest verankerte Narrativ. Doch die grausame Wirklichkeit sieht anders aus.

„Die Regierung der Vereinigten Staaten hält es für völlig vernünftig – oder zumindest für ’nicht unvernünftig‘ –, eine unschuldige Familie von Zivilisten zu töten.“ Diesen erstaunlichen, aber leider zutreffenden Satz konnte man am 4. November auf einer viel gelesenen Webseite eines der beliebtesten US-Finanzportale lesen, nämlich bei Yahoo Finance. Unter dem ins Deutsche übersetzten Titel: „Ein Drohnenangriff – Wieder einmal rechtfertigen die USA etwas, das durch nichts zu rechtfertigen ist“ erklärt der Autor Joel Mathis:

„Wenn das brutal klingt, bedenken Sie Folgendes: Eine Pentagon-Überprüfung des Drohnenangriffs im August (2021), bei dem zehn Mitglieder einer afghanischen Familie während des US-Abzugs aus Kabul zu Unrecht getötet wurden, ist zu dem Schluss gekommen, dass niemand im Militär für den Angriff diszipliniert werden sollte. Das Massaker, das General Mark Milley (der ranghöchste Offizier der USA) zunächst als ‚gerecht‘ bezeichnet hatte, war ausgesprochen ungerecht, aber die offizielle Überprüfung des Vorgangs ergab, dass der Prozess zur Entscheidung zum Angriff geführt hatte, in Ordnung war. Es ist das Resultat, das schlecht geworden ist.“

Und für das schlechte Ergebnis konnte natürlich niemand etwas. So zumindest lautete auch der Schluss des US-Luftwaffengenerals Sami Said, der die Untersuchung des vermeidbaren Massakers in Kabul geleitet hatte, bei dem Herr Zemerai Ahmadi und neun weitere unschuldige Mitglieder seiner Familie von einer US-Rakete in Stücke gerissen worden waren. Dabei handelte es sich nicht um einen Unfall, wie z. B. wegen eines Raketenirrläufers, oder einen tragischen Fehler aufgrund falsch eingegebener Zielkoordinaten.

Vielmehr wurde die Apartmentwohnung von Herrn Ahmadi samt Bewohnern aufgrund schlampiger nachrichtendienstlicher Aufklärung und eines Cowboy-Schnellschusses aus der Hüfte zur Zerstörung preisgegeben. Das ist das Resultat der im US-Militär herrschenden „Kultur“ der Straflosigkeit bei der Tötung von Zivilisten. Trotz der Existenz gegenteiliger Gesetze und entsprechender Pro-forma-Verhandlungen vor US-Militärgerichten bei schwereren Fällen sorgt diese im US-Militär tief verwurzelte „Un-Kultur“ dafür, dass die schuldigen US-Soldaten und Offiziere nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Dementsprechend fiel auch die Erklärung des US-Luftwaffengenerals Sami Said aus, als er gegenüber Associated Press zur Tötung von Familie Ahmadi Stellung nahm:

„Ich fand heraus, dass sie (also die Verantwortlichen, die das Ziel ausgewählt und die Killerrakete zum Abschuss freigeben hatten, Anmerkung das Autors) angesichts der Informationen, die sie hatten, und der Analyse, die sie gemacht haben, die falsche Schlussfolgerung gezogen haben, aber … War es vernünftig, auf der Grundlage dessen, was sie hatten, die Schlussfolgerung zu ziehen, die sie gezogen haben? Es war nicht unvernünftig!“, schloss der Generalleutnant der US Air Force und fügte hinzu: ‚Es stellte sich einfach heraus, dass es falsch war‘.“

Das hört sich an wie „Oh, dumm gelaufen, aber da kann man nix machen“. Angesichts der zehn Toten, die meisten davon waren Kinder, ist diese respektlose, schnodderige Art des US-Luftwaffengenerals Said dennoch typisch für den Umgang des Pentagons mit katastrophalen humanitären Folgen von vermeidbaren Fehlern. Allerdings kann General Said damit mit viel Verständnis und Sympathie rechnen, nicht nur beim US-Militär, sondern auch in breiten Bevölkerungsschichten des humanitären Vorbildstaates USA.

Es wäre eventuell noch nachvollziehbar, wenn Menschen versuchen würden, dieses Massaker an der Ahmadi-Familie mit dem in Kabul während des überhasteten US-Rückzugs herrschenden Chaos als bedauernswerten Unfall zu entschuldigen. Aber diese Vorgehensweise des US-Militärs ist kein Einzelfall, sondern vielfach eingeübte Routine. Selbst bei den als so sicher und präzise gelobten Drohnenangriffen ist es immer wieder zu katastrophalen Fehlern gekommen, die das Leben von vielen Tausenden unschuldiger Menschen gekostet haben.

Auch das bekannteste US-Drohnenmassaker bei einer Hochzeitsfeier in einem abgelegenen afghanischen Dorf, bei dem 53 Menschen getötet und viel mehr verkrüppelt wurden, blieb kein Einzelfall. Laut dem Londoner „Bureau of Investigative Journalism“ haben die USA im Zeitraum Januar 2004 bis Februar 2020 bei 14.040 Einsätzen von Killerdrohnen in Pakistan, Afghanistan, Jemen und Somalia auch immer wieder mal Hochzeitsgesellschaften angegriffen und bis zu 454 Kinder getötet.

Aber Folgen für die Täter gab es nie. Weder wurden die Drohnenpiloten vor ihren Video-Monitoren noch die Kriegsverbrecher an ihren Schreibtischen zur Verantwortung gezogen. Vor allem seit Beginn des hochkriminellen US-„Krieges gegen den Terror“ sind in den letzten zwei Jahrzehnten Massaker an unschuldigen Zivilisten, vor allem an Frauen und Kindern, zur alltäglichen Routine der US-Kriegsmaschine geworden.

Laut einer neuen Analyse von „Airwars“, einer US-Gruppe für die Überwachung ziviler Schäden durch US-Luftkriege, sind seit dem 11. September 2001 im Rahmen des „US-Krieges gegen den Terror“ bei US-Drohnen- und Luftangriffen mindestens 22.000 Zivilisten – und vielleicht sogar 48.000 – getötet worden. Diese Analyse basiert auf der eigenen Behauptung des US-Militärs, das seit 2001 fast 100.000 Luftangriffe durchgeführt hat.

Die „Airwars“-Gruppe räumt selbst ein, dass die Zahl der Todesopfer durch US-Luftangriffe ungenau ist, und merkt an, dass laut einer Erklärung des Pentagons das US-Militär nie versucht habe, die Gesamtzahl der zivilen Todesfälle zu zählen, die auf Aktionen des US-Militärs im Krieg gegen den Terror zurückgehen. In einer E-Mail-Antwort des Zentralkommandos (CENTCOM) des Pentagons an „Airwars“ hieß es, dass es keine Informationen über die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer durch Luftangriffe habe.

Auch hält die obere Zahl der Bandbreite der Airwars-Schätzung von 22.000 bis 48.000 getöteten Zivilisten einem Vergleich mit der weitaus umfassenderen Forschungsarbeit einer Gruppe an der US-amerikanischen Brown University nicht stand. Das „Costs of War Project“ der Brown University hat über die letzten zwanzig Jahre nicht nur die offiziellen Zahlen des Pentagons über vermutliche zivile „Kollateralschäden“ gesammelt, sondern auch in mühsamer Arbeit lokale Berichte aus den betroffenen Ländern über die US-Luftangriffe und ihre Folgen analysiert und kam so auf die Zahlen von schätzungsweise 387.000 getöteten Zivilisten. Aber wenn die Kläger kein Gehör finden, dann gibt es auch keine Angeklagten.

Wie viele andere große und kleine Massaker an Zivilisten durch die US-Streitkräfte wäre auch die Auslöschung der zehnköpfigen Familie von Herrn Ahmadi in Kabul vor der US- und Weltöffentlichkeit verborgen geblieben, wenn zu diesem Zeitpunkt nicht der Fokus der internationalen Medien auf dem Chaos des Abzugs der US-Armee und ihrer verbündeten NATO-Vasallen gelegen hätte. Der Drohnenangriff auf die kinderreiche Familie Ahmadi war einfach der gewesen, der plötzlich große mediale Aufmerksamkeit erregt hat.

„Es hat im Laufe der Jahre unzählige solcher Luftschläge gegeben und so viele absichtlich ungezählten Todesfälle, die im Schatten der Angriffe passiert sind“, kommentierte Matt Duss, der außenpolitische Berater des demokratischen US-Senators Bernie Sanders, am 3. November auf Twitter die Entlastung der verantwortlichen Täter durch die Top-Offiziere des Pentagons für die Tötung der Familie Ahmadi.

Diese seit Langem innerhalb der US-Streitkräfte gepflegte Kultur der Straffreiheit bei Massakern an Zivilisten erhöht bei den Verantwortlichen natürlich nicht die Neigung zur sorgfältigen Prüfung der Zielauswahl und Abwägung eventueller „ziviler Kollateralschäden“ in Form von toten Frauen und Kindern. Es ist dieser verantwortungslose, laxe Umgang des US-Militärs mit dem Wert des Lebens der Menschen der Gegenseite, egal ob Soldat oder Zivilist, der in der gesamten US-Militärgeschichte eine endlose Kette von Kriegsverbrechen aneinanderreiht.

Es begann mit dem Genozid an der nordamerikanischen Urbevölkerung. Die jeweils von höchster politischer und militärischer Führung gebilligte und teilweise sogar befohlene willkürliche Zerstörung von menschlichem Leben war dann auch im Amerikanischen Bürgerkrieg omnipräsent und manifestierte sich mit den Massakern an gefangenen Soldaten und Zivilisten der jeweiligen Gegenseite. Mit nicht minderer Brutalität wurden die ersten imperialistischen Abenteuer der USA bei der Eroberung der Philippinen durchgeführt.

Auch nach dem sogenannten „Guten Krieg“ gegen Nazideutschland und Japan hat das US-Militär auf Befehl der höchsten politischen Führung ohne militärische Notwendigkeit jeweils eine Atombombe gegen die Zivilbevölkerung von Hiroshima und Nagasaki eingesetzt. Auch im Koreakrieg ging das Massenmorden an der Zivilbevölkerung weiter, wofür beispielhaft das Massaker von Nogeun-ri steht, was später in Vietnam mit der Ermordung aller Einwohner von Mỹ Lai 1968 fortgesetzt wurde, wobei die Vorgehensweise der US-Soldateska in Mỹ Lai der der SS-Schergen bei der Vernichtung sämtlicher Einwohner des französischen Dorfes Oradour 1944 in nichts nachsteht.

Dabei sind sowohl Nogeun-ri als auch Mỹ Lai nur die Spitze des Eisbergs. Sie stehen stellvertretend für viele andere Dörfer, die samt ihrer Einwohner auf ähnliche Weise ausgelöscht wurden, deren Schicksal jedoch bis heute vor der westlichen Öffentlichkeit verborgen geblieben ist. Auch das Massaker von Nogeun-ri wurde erst knapp 50 Jahre nach der Tat im Herbst 1999 im Westen bekannt, und auch dort war es den meisten Medien – wenn überhaupt – nur eine Randnotiz wert.

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Teil 2: Zivile Opfer der US-Kriegsmaschine – Teil der DNA des US-Militärs

Im ersten Teil wurde die im US-Militär herrschende Un-Kultur der Straflosigkeit bei vermeidbarer oder gar absichtlicher Tötung von Zivilisten in besetzten Gebieten untersucht. Dieser zweite Teil zeigt, dass Gewalt gegen Zivilisten tief in der US-Militärtradition verwurzelt ist und für lange Zeit sogar als Teil der US-Kriegsführung explizit legalisiert wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Vereinigten Staaten von Amerika in die Fußstapfen des Britischen Imperiums getreten, das bereits im Jahr 1556 seine erste Kolonie in Irland etabliert hatte und in den folgenden Jahrhunderten die einheimische Bevölkerung mit brutaler Gewalt gnadenlos ausgebeutet hat. Insgesamt dürften im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte sogar Millionen irischer Zivilisten dem britischen Besatzungsregime zum Opfer gefallen sein. Denn wem es nicht gelang auszuwandern, wurde nicht selten vom Hungertod oder durch von Unterernährung hervorgerufene Krankheiten dahingerafft.

Auf der Höhe seiner unerbittlichen Herrschaft erstreckte sich das Britische Imperium mit seinem Netzwerk von Vasallen und Kolonien über den ganzen Globus. Das ausschließlich auf Ausbeutung und Profitmaximierung fokussierte Imperium dominierte eine Zeit lang alle Kontinente. Im Jahr 1920 bedeckte es rund 24 Prozent der gesamten Landfläche der Erde. Laut der englischen Dokumentation „Alle Länder, die wir jemals erobert haben: Und die wenigen, bei denen wir nicht dazu gekommen sind“ („All the Countries We’ve Ever Invaded: And the Few We Never Got Round To„) gibt es nur 22 Länder, die von den britischen Eroberungsgelüsten verschont geblieben sind. Von denen sind Schweden, Weißrussland, Luxemburg und der Vatikan die bekanntesten.

Die USA unterhalten aktuell auch nach ihrem Abzug aus Afghanistan immer noch fast 800 Militärstützpunkte in mehr als 70 Ländern und Territorien rund um die Welt. Die alten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich haben zusammen nur noch weniger als 30 ausländische Stützpunkte. Aber die USA halten viele Länder, auch ohne Militärbasen auf deren Territorium zu haben, mithilfe ihrer ökonomischen und finanzpolitischen Erpressungsmethoden unter ihrer politischen Kontrolle. Dennoch wird auch in diesen Fällen strukturelle Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angewandt. Denn infolge der US-geführten, neoliberalen Globalisierung und deren Folgen in Form von massenhafter Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten dieser Länder fordert diese Politik ganz ohne Militärinterventionen alljährlich viele Opfer.

Die Un-Kultur der Gewalt gegen Zivilisten im US-Militär geht auf den Amerikanischen Bürgerkrieg zurück, in dem dies legalisiert wurde. Zuvor hatten sich die Truppen der Vereinigten Staaten in den Indianerkriegen bereits durch besondere Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung der indigenen Stämme in eroberten Territorien hervorgetan. Diese Gräueltaten waren größtenteils von der jeweiligen militärischen und politischen Führung angeordnet, aber sie passierte noch in einer Grauzone ohne offizielle juristische Legalisierung durch den Staat. Erst durch das erste kodifizierte Handbuch zum US-Kriegsrecht wurde dieses Vorgehen legalisiert. Zugleich wurde in diesem Handbuch auch die Zivilbevölkerung des Gegners zu Feinden abstempelt. Diese sollten für ihre Sympathie und moralische Unterstützung der Soldaten ihrer Heimat einerseits bestraft und andererseits davon abgehalten werden, Widerstandskämpfern materielle Hilfe zu leisten.

Abraham Lincoln besucht Truppen bei Antietam, 3.10.1862
CC BY-NC 2.0, Quelle: flickr.com

Diese menschenverachtende Strategie des US-Militärs gegenüber der Zivilbevölkerung zieht sich wie ein roter Faden bis in die Gegenwart, angefangen mit dem US-amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) über die ersten imperialistischen Expansionskriege in Lateinamerika und den Philippinen und weiter über die unzähligen US-Kriege und Interventionen rund um die Welt im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart der US-Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Jemen usw. Die militärischen Methoden der angeblich humanitären Vorzeigedemokratie USA zur Bestrafung einer widerspenstigen Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten haben sich dabei nicht selten von denen der Nazi-Schreibtischtäter und ihrer Mörder in SS und Wehrmacht unterschieden.

Es war ein deutscher Einwanderer in die USA, der Jurist Francis Lieber, der zu Beginn des Amerikanischen Bürgerkriegs für die Unionstruppen der Nordstaaten das Handbuch über Kriegsführung und Besatzungsrecht geschrieben hat. Der nach ihm benannte „Lieber Code“ wurde mitten im Bürgerkrieg am 24. April 1863 vom damaligen US-Präsidenten Abraham Lincoln unterzeichnet und als „Militärische Anweisung des Präsidenten“ an die Truppen der Nordstaaten gegeben.

Der Lieber Code war damit das erste schriftlich fixierte, juristische Handbuch mit Vorgaben zur Kriegsführung in der Geschichte der Menschheit. Auch heute noch wird der Lieber Code von seinen intellektuellen Verteidigern in den USA als erstes Regelwerk zur angeblichen Humanisierung des Krieges gelobt, obwohl es sich dabei um das genaue Gegenteil handelte, wie wir sehen werden. Trotzdem blieb der Lieber Code für mehr als fünfzig Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, also bis zum Ersten Weltkrieg, das offiziell von der amerikanischen Armee erklärte Kriegsrecht für den Landkrieg. Später diente der Lieber Code als Basis für ein entsprechendes Field Manual (Handbuch) für die gesamten amerikanischen Streitkräfte und im Offizierskorps hat der Code offensichtlich Nachwirkungen bis heute, zumindest so weit das die verbrecherische Behandlung von Zivilisten betrifft.

Natürlich standen im Lieber Code an oberster Stelle der Prioritätenliste der eigene Sieg und die Vernichtung des Gegners. Und das Gebot, dass dieses Ziel – egal mit welchen Mitteln – zu erreichen sei, war durchaus zeitgemäß. Aber in Bezug auf die Behandlung der Zivilbevölkerung des Feindes stand der Lieber Code den bereits Mitte des 19. Jahrhunderts weit entwickelten philosophischen und juristischen Grundlagen zur humanen Behandlung von unbeteiligten Zivilisten bei militärischen Konflikten diametral entgegen. In Europa wurde damals bereits wie folgt argumentiert und weitgehend gehandelt:

„Ein Souverän führt gegen einen anderen Souverän Krieg und nicht gegen die unbewaffneten Bürger des anderen Landes. Durch die Eroberung bekommt die Zivilbevölkerung lediglich einen neuen Herrn. Der Eroberer beschlagnahmt die Besitztümer des Staates, das öffentliche Eigentum, während für unbeteiligte Privatpersonen die körperliche Unversehrtheit gilt und sie auch ihr Hab und Gut behalten dürfen. Auch sonst dürfen Zivilisten nicht grundlos bestraft werden.“

Daran haben sich z. B. die Truppen Napoleons in den eroberten Gebieten in der Regel gehalten, mit Ausnahme in Spanien, wo sie mit einer starken Guerilla über Jahre hinweg zu kämpfen hatten. Dagegen legalisiert der Lieber Code, dass der jeweilige Kommandeur aufgrund der „militärischen Notwendigkeit“, bzw. Zweckmäßigkeit, jederzeit nach eigenem Ermessen über Leben oder Tod von Zivilisten der Gegenseite, über Zerstörung oder Raub deren Eigentums entscheiden konnte. Laut Anweisung im Lieber Code steht die jeweilige „militärische Notwendigkeit“ als höchster Wert über allen anderen Werten. Zugleich indoktrinierte der Lieber Code die Soldaten der Nordstaaten, auch in der unbeteiligten Zivilbevölkerung des Gegners den Feind zu sehen, der bestraft werden musste.

Dr. Rotem Giladi von der juristischen Fakultät der Hebrew University of Jerusalem hat in einem Beitrag für die „International Review“ des Roten Kreuzes, Frühjahr 2012, unter dem Titel „A Different Sense of Humanity: The Francis Lieber Code“ (Ein anderes Verständnis von Menschlichkeit: Der Francis Lieber Code) die inhumane und verbrecherische Sicht Liebers auf die Rolle von unbeteiligten Zivilsten auf der Seite des Gegners herausgearbeitet. Laut Lieber ist demnach

„der Bürger oder Eingeborene eines feindlichen Landes ein Feind. Als Bestandteil des feindlichen Staates oder der feindlichen Nation ist er als solcher den Härten des Krieges auszusetzen“.

Aus der angenommenen kollektiven Verantwortung von Nichtkombattanten für den Krieg habe Lieber – so Giladi – die theoretische Grundlage für die moralische und juristische Rechtfertigung für das Leiden der Zivilisten abgeleitet. Zivilisten hätten kein individuelles Recht auf Leben oder physische Unversehrtheit oder auf den Schutz von Hab und Gut. Ihr Leiden sei demnach der jeweiligen „militärischen Notwendigkeit“ der Sieger unterworfen.

Weiter verweist Giladi darauf, dass laut Lieber „der Schutz der Person oder des Vermögens von Nichtkombattanten nicht nur der militärischen Notwendigkeit untergeordnet ist, sondern auch sonst ziemlich illusorisch erscheint“.

Laut Lieber ist der harmlose Zivilist der Gegenseite letztlich eine Geisel der „übergeordneten Forderungen einer energischen Kriegsführung“; Art. 23 des Lieber Codes. Und in Art. 27 werden sogar implizit schwerste Repressalien gegen zivile Geiseln legalisiert. Dort heißt es, dass für „zivilisierte Nationen die Vergeltung das strengste Merkmal des Krieges“ ist. Die Vergeltungsaktionen seien jedoch zulässig, um eine „Wiederholung von empörenden, barbarischen Aktionen“ gegen die eigene Seite auszuschließen.

Giladi verweist darauf, dass unter dem Lieber Code selbst unbewaffnete, am Krieg nicht beteiligte, inoffensive Zivilisten von den Besatzungstruppen keinen Schutz erwarten konnten. Denn für Lieber waren die Nichtkombattanten schon deshalb Feinde, weil sie allein durch ihre Zugehörigkeit zu der sozialen, staatlichen oder ethnischen Gemeinschaft des Feindes einen potenziellen moralischen oder physischen Beitrag zum Widerstand oder zur Fortführung des Krieges leisten konnten. Das Verhalten von Nichtkombattanten, so harmlos es auch sein mochte, reichte nach Lieber nicht aus, um ihnen Schutz zu gewähren.

Im Lieber Code wird also der „totale Krieg“ zur Norm erhoben, inklusive aller möglichen Arten von grausamem Verhalten gegen die Zivilbevölkerung, bis hin zur Zerstörung ihrer Existenzgrundlage, je nach „militärischer Notwendigkeit“. Der Code lieferte auch die Rechtfertigung, dass die Besatzungstruppen unschuldige Zivilisten zwecks Vergeltungsmaßnahmen für Überfälle von feindlichen Freischärlern als Geiseln genommen und gemäß des Ermessens des jeweiligen Kommandeurs verschleppt oder schlimmer bestraft werden.

Dementsprechend wurde die Strategie der „verbrannten Erde“ das Hauptmerkmal der Unionstruppen im Bürgerkrieg. Damit wurde das Ziel verfolgt, dass der Gegner nach dem Durchzug der Unionstruppen durch bestimmte Gebiete dort nichts mehr vorfinden konnte, was ihm irgendwie hätte helfen können, denn die Häuser waren zerstört, die Ernten auf den Feldern verbrannt, alle Tiere waren gestohlen oder getötet, die Brunnen waren vergiftet. Das Los der Zivilbevölkerung interessierte nicht. Nach der Plünderung und Brandschatzung ihrer Dörfer wurden die Einwohner, die ja als Feinde angesehen wurden, vertrieben, in der Hoffnung, sie durch Verhungern zu eliminieren oder so zu schwächen, dass sie für den Feind als Arbeiter nicht mehr von Nutzen sein konnten.

Man braucht keine große Vorstellungskraft, um zu verstehen, welche Leiden die Zivilbevölkerung in den besetzten Südstaaten in Gestalt der Unionstruppen heimgesucht haben. In der Landbevölkerung der am meisten vom Bürgerkrieg betroffenen Südstaaten der USA sitzt heute noch das Misstrauen gegen Washington tief.

Diese „Strategie der verbrannten Erde“, die durch den Lieber Code legalisiert wurde, wurde von dem berühmten und bis heute verehrten Nordstaaten-General William Tecumseh Sherman im Amerikanischen Bürgerkrieg mit vorbildlicher Gnadenlosigkeit durchgesetzt, nicht nur gegen gefangene Soldaten, sondern vor allem auch gegen Zigtausende von Zivilisten der Gegenseite. Davon zeugen zahllose Dokumente, einschließlich seiner eigenen Memoiren.

General Sherman war bei Weitem nicht der einzige Nordstaaten-General, der den Lieber Code in seiner brutalsten Auslegung, nämlich der „Taktik der verbrannten Erde“, im Bürgerkrieg gegen die Zivilbevölkerung der Südstaaten und später in den Indianerkriegen umsetzte. Aber wegen seiner damit erreichten „militärischen Erfolge“, vor allem mit seinem gewagten „March to the Sea“, wird Sherman auch heute noch vom US-Militär gefeiert. Unter anderem wurde der berühmteste Panzer der US-Armee im Zweiten Weltkrieg nach dem Kriegsverbrecher Sherman benannt.

Offensichtlich hatte der Lieber Code nicht nur damals das Denken der führenden Generäle der Nordstaaten im Bürgerkrieg maßgebend beeinflusst, sondern er scheint im US-Militär bis heute eine lang anhaltende Wirkung gezeigt zu haben. So konnte man z. B. 100 Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg im US-Krieg in Vietnam eine direkte Umsetzung der großflächigen Anwendung von Shermans „Strategie der verbrannten Erde“ sehen.

Laut damaliger Aussage der US-Militärführung bewegten sich die Verbände der vietnamesischen Freiheitkämpfer von Dorf zu Dorf „wie Fische im Teich“, denen man schlecht habhaft werden konnte. Also änderte das US-Militär seine Strategie und „ließ das Wasser aus dem Teich“: Es vertrieb die Einwohner, zerstörte die Dörfer, verbrannte die Ernten auf den Feldern und errichtete „freie Feuerzonen“, wo von Flugzeugen und Hubschraubern bei regelmäßigen Patrouillenflügen auf alles geschossen wurde, was sich am Boden bewegte.

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Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes

Links zur Erstveröffentlichung:
Teil 1: https://de.rt.com/international/126921-zivile-opfer-us-kriegsmaschine-teil/
Teil 2: https://de.rt.com/international/127059-zivile-opfer-us-kriegsmaschine-teil/

Siehe auch: Teil 3


Bild oben:  Am 15. Januar 2010 exekutierten US-Soldaten der Bravo Company, die in der Nähe von Kandahar stationiert waren, einen unbewaffneten afghanischen Jungen namens Gul Mudin im Dorf La Mohammad Kalay.
Public Domain, Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18651472