Umfassende politische Desorientierung: Die Bundesrepublik Deutschland nach der Wahl
Die Bundestagswahlen 2021 stellen einen gravierenden Einschnitt in der Entwicklung der Gesellschaft in der BRD und in ihrer Innen- und Außenpolitik dar. Es sind jedoch nicht primär die Wahlergebnisse, die problematisch sind, sondern die langfristigen Prozesse, die einem Sorge bereiten sollten.
von Prof. Dr. Anton Latzo
Erstveröffentlichung am 30.10.2021 auf RT DE
Innenpolitisches Umfeld künftiger Außenpolitik
Die Wahlen zum Bundestag 2021 markieren einen gravierenden Einschnitt in der Entwicklung der Gesellschaft in der BRD und in ihrer Innen- und Außenpolitik. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik nur wenige Zeitabschnitte, in denen die Regierenden so massiv mit krisenhaften Entwicklungen konfrontiert waren. Das drückt sich zwar in einem regelrechten Absturz der Zustimmung der Wähler zur bisherigen Politik der regierenden Parteien, aber auch der linken Opposition aus.
Es sind jedoch nicht primär die zahlenmäßigen Ergebnisse der Wahlen, die die zunehmenden Probleme verursachen. Die künftige Politik wird durch die anhaltend krisenhafte wirtschaftliche, politische und geistig-kulturelle Entwicklung im Lande bestimmt. Es sind also nicht die kurzfristig zu lösenden Probleme, sondern die langfristigen Prozesse, die Sorge bereiten! Die Vorwahlzeit und die Wahlen widerspiegeln politische Desorientierung.
Die deutsche Wirtschaft muss – um die Profite zu sichern – auf Expansion, auf neue Märkte orientieren, die auch noch eine relative Sicherheit bieten, also politisch kontrollierbar sein müssen! Das dürfte die entscheidende Determinante für künftige deutsche Politik sein, sowohl für die Innen- als auch für die deutsche Außenpolitik.
Das dürfte auch entscheidende Triebkraft für die politischen Konstellationen der nächsten Zeit sein. Innenpolitisch wird die Krise als Vorwand in Anspruch genommen, um aus den Maßnahmen zu ihrer Überwindung eine langfristig wirkende Leitlinie für den reaktionären Ausbau des Herrschaftssystems zu entwickeln. Außenpolitisch ist der Konkurrenzkampf mit den Rivalen zur Stärkung der eigenen Position und zur Schwächung der Positionen der anderen kennzeichnend.
Günstige Bedingungen schaffen
Begünstigend könnte sich auswirken, dass – wie die Wahlen gezeigt haben – es in der Bevölkerung eine gewachsene Aufnahmebereitschaft für preußisch-deutsches nationales Gedankengut und davon bestimmte Politikansätze gibt. Es schwindet die Bereitschaft der Menschen zu einem kritischen Verhalten gegenüber der Verbreitung rechtsradikaler Ideologie und dazugehöriger Politik. Bemerkenswert ist, dass während der Wahlkampagne, und noch deutlicher in Auswertung der Wahlen, die AfD kritischen Analysen und Bewertungen durch Medien, NGOs und Parteien entzogen wurde!
Die Gesellschaft in der BRD wird zugleich und zunehmend von einem Prozess überzogen, in dem reale Demokratie für die Mehrheit des Volkes spürbar rückläufig ist. Die Widersprüche zwischen den Interessen der Monopole und denen der Mehrheit des Volkes vertiefen sich, was in einem Abbau der bürgerlichen Freiheiten und der sozialen und politischen Rechte mündet.
Es zeigt sich, dass die bürgerliche Demokratie immer weniger in der Lage ist, die Macht der Monopole abzusichern. Die führenden Wirtschaftskreise und Politiker gehen deshalb aktiv dazu über, die Gesellschaft mit politischen und juristischen Einschränkungen zu überziehen und durch Manipulierung den Grad der Verschärfung der Widersprüche zumindest zeitweilig in ihrem Interesse umzudeuten.
In diesem Zusammenhang wächst das Bedürfnis der Herrschenden und Regierenden, noch stärker Desinformation zur Täuschung der Menschen einzusetzen, die politische Urteilsfähigkeit des Einzelnen zu mindern, erhöhte Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft und Politik zu produzieren sowie kontrollierte Destabilisierung zu gestalten.
Das alles braucht man, um notwendige, neue politische Strategien, die eine progressive Entwicklung der Gesellschaft verhindern sollen, sowie den Frieden und die Sicherheit der Völker und eine gleichberechtigte Zusammenarbeit der Staaten gefährden, verwirklichen zu können.
Diese Prozesse, die bereits eingeleitet sind, hängen eng mit den Lebensfragen von Krieg und Frieden zusammen, die von den Regierenden (auch während der Wahlen) bewusst aus dem Blickfeld verdrängt wurden. Sie befürchten, dass Aufklärung zur Bewusstwerdung der Gefahren und auf diesem Wege zur Gegenkraft führen kann. Deshalb soll „Chaos“ verhindern, dass die tatsächlichen Gefahren im undurchdringlichen Gestrüpp und bei nachlassender politischer Beurteilungsfähigkeit nicht erkannt werden.
Eine offensive Außenpolitik wird angestrebt
Die künftige Außenpolitik der BRD wird – unabhängig von der Zusammensetzung der künftigen Regierung und von den sich gegenseitig durchkreuzenden Tendenzen der inneren und äußeren Bedingungen – durch eine konsequentere Verfolgung der Eigeninteressen der Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen und besonders in Europa gekennzeichnet sein.
Eine völlige Abkehr von den USA dürfte unrealistisch sein. Ein Prozess der Erosion wird aber bewusst gestaltet.
Erwerb und die Ausübung von Macht der BRD werden die Positionen und die Handlungen der Regierung in weit breiterem Maße bestimmen. Allerdings in einer intensiver von Konkurrenz gekennzeichneten Umgebung, in der sich die Kräfteverhältnisse schneller verändern und ein Machtgleichgewicht an Bedeutung gewinnt. Damit erhöht sich auch das Gefahrenpotenzial und die Berechenbarkeit wird schwieriger.
Zwei Komplexe dürften im Mittelpunkt stehen. Schon in dem im Vorfeld der Bundestagswahl von 2013 veröffentlichten Papier mit dem Titel „Neue Macht. Neue Verantwortung“ wurde fast drohend festgestellt: „Wenn Deutschland die eigene Lebensweise erhalten und schützen will, muss es sich folglich für eine friedliche und regelbasierte Weltordnung einsetzen; mit allen legitimen Mitteln, die Deutschland zur Verfügung stehen, einschließlich, wo und wenn nötig, den militärischen.“ Die Tendenz der Militarisierung wird sich offensichtlich verstärken!
In einem Strategiepapier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), das am Vorabend der Wahlen bekannt wurde, ziehen die Autoren die Schlussfolgerung, dass die nächste Bundesregierung die Wende zu einer offensiveren (!), risikobereiten Außenpolitik einleiten müsse. Das soll unter Bedingungen geschehen, dass „die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen“! Berlin müsse künftig bereit sein, „auch unter großer Unsicherheit Entscheidungen zu fällen.“ Das sind Vorstellungen, wie die Regierung der BRD gedenkt, „mehr weltpolitische Verantwortung zu übernehmen“ und „das Spektrum militärischer Mittel auszuschöpfen“ um die Bundesrepublik zur „Gestaltungsmacht“ zu machen.
Gleichzeitig dürfte die künftige Außenpolitik der neuen Regierung von Bemühungen gekennzeichnet sein, die Maßnahmen vieler Länder zu neutralisieren, die ihre Volkswirtschaft vor ausländischer Abhängigkeit schützen und die externen Einflussfaktoren minimieren wollen. Eine solche Politik – besonders der Missbrauch in Gestalt der Sanktionen – ist mit großen Schäden für die deutsche Volkswirtschaft verbunden, da die deutsche Wirtschaft, wie eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) feststellte, angesichts ihrer Exportfixierung wie kaum eine andere auf einen „freien“ Welthandel, niedrige Zölle und internationale Kooperation angewiesen ist. Laut genanntem Institut belief sich zum Beispiel die sogenannte Außenhandelsquote der BRD 2019 auf 88 Prozent, ein absoluter Spitzenwert im internationalen Vergleich! Die Außenhandelsquoten der anderen OSZE-Staaten beliefen sich im Schnitt auf 59 Prozent. Großbritannien und Frankreich hatten eine Quote von 64 bzw. 65 Prozent. Und bei Japan, ebenfalls „Exportweltmeister“, waren es nur 35 Prozent. Die Außenhandelsquote der USA beträgt gar nur 26 Prozent. Die BRD ist also auf Dauer am stärksten betroffen!
Alle Ursachen für Krieg und seine Folgen für soziale und und politische Destabilisierung werden, natürlich nach China und Russland, den USA zugeschrieben. Eine völlige Abkehr von den USA dürfte andererseits unrealistisch sein. Ein Prozess der Erosion wird aber bewusst gestaltet. Dabei kritisiert man die inneren Entwicklungen in den USA. Aber man spricht nicht darüber, dass in dieser Bundesrepublik die gleichen gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und auch die grundlegenden geistigen Verhältnissen bestimmend sind! Eine kritische Selbstbetrachtung fehlt vollkommen!
Durch Schüren von Feindlichkeit gegen Russland und China wird angestrebt, die Menschen auf Kommendes vorzubereiten. Sie sollen nicht erkennen, dass seit Bestehen des Imperialismus die Kapitalisten die Welt nicht aus besonderer Boshaftigkeit unter sich aufteilen, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration sie zwingt, diesen Weg zu beschreiten, um Profite und Herrschaft zu sichern. Dabei wird die Teilung nach dem Kapital, nach der Macht vorgenommen. Letztere wechselt aber mit der ökonomischen und politischen Entwicklung!
In diesem Sinne fordern die genannten Leitlinien der DGAP, dass „Deutschland den Charakter seiner Außenpolitik verändern“ muss: „weg von einer reaktiven ad-hoc Politik, die darauf bedacht ist, Schaden einzugrenzen; hin zu einer proaktiven Politik, die systematisch und begründet gestaltet und Chancen nutzt.“
Lehren der Geschichte
Vom ersten Tag ihres Bestehens haben die herrschenden Kreise der BRD ihre Außenpolitik darauf ausgerichtet, die nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen völkerrechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zumindest in Europa rückgängig zu machen. Mit der Niederlage des Sozialismus haben sie ein wesentliches Ziel erreicht.
Aber die Herstellung der Einheit von oben war schon wiederholt in der deutschen Geschichte Quelle für das Entstehen reaktionärer und aggressiver Linien in der deutschen Außenpolitik.
Das begann schon mit der bürgerlich-demokratische Revolution von 1848 in Deutschland. Weil die wichtigsten Aufgaben der Revolution ungelöst blieben, wurden auch die vorrevolutionären Bedingungen reproduziert. Das bot den Boden zur Restauration der inneren Reaktion und eröffnete eine Periode deutscher Außenpolitik, die sich als verhängnisvoll für die deutsche Nation und für die Völker Europas erwiesen hat. Das „Zuspätkommen“ des deutschen Imperialismus wurde zu einer Triebfeder der aggressiven Expansionspolitik Deutschlands.
Die daraus erwachsenden gesellschaftlichen Verhältnisse samt politischem System schufen die deutsche Einheit 1870/71 im Ergebnis eines aggressiven Krieges gegen das französische Volk. Das deutsche Reich sah in anderen europäischen Ländern Objekte für die Befriedigung der Bedürfnisse der im Bündnis agierenden deutschen aufstrebenden Monopole und Banken sowie der Junker. Dazu wurden entsprechende Theorien geschaffen, zum Beispiel die Theorie von der „mitteleuropäischen Mittelmacht“, die ja bis heute nicht nur die Historiker beschäftigt, sondern die Außenpolitik unmittelbar „inspiriert“.
Von der preußischen Theorie der „mitteleuropäischen Großmacht“ führt eine gerade Linie zur ideologischen Begründung expansionistischer Außenpolitik bei Friedrich Neumann, der Kriegsziele des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg theoretisch begründete, und über die Großraum-Politik schließlich zur Europa-Ideologie eines Franz-Josef Strauß und die Ostpolitik von CDU und SPD.
Dazu gehören aber auch die Notstandsgesetze. Nach deren Annahme erklärte Strauß die Zeit für gekommen, „endlich den Großraum Europa zu schaffen“ (8. Juni 1968). Dieser „Großraum Europa“ sollte schon damals zum Hegemoniebereich Deutschlands werden, und zu seiner Durchsetzung sollte eine neue „Verteilung der Kräfte“ in Europa erfolgen. Außenminister der SPD und der FDP haben den Staffelstab bis in die Gegenwart getragen.
Dazwischen lagen auch zwei von Deutschland ausgehende Weltkriege, die Mord, Leid, Zerstörung für die Menschheit brachten!
Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Link zur Erstveröffentlichung: https://de.rt.com/meinung/126210-deutschland-nach-wahl/
Bild: Reichstag in Berlin
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