Weder Jelzin noch UdSSR
Über die Ergebnisse der Wahlen zur Staatsduma, die vom 17. bis zum 19. September in der Russischen Föderation stattfanden und von Freidenker Artur Leier aus Hamburg vor Ort im sibirischen Omsk beobachtetet wurden, veröffentlichen wir ein Interview mit dem liberalen Politologen Ilja Graschenkow. Obwohl einige Äußerungen des Interviewpartners manche Leser der Freidenker-Seiten befremden mögen, gibt das Interview einen interessanten Einblick in die Gedankenwelt des russischen Liberalismus.
Die Webredaktion
Weder Jelzin noch UdSSR
Kritisches Interview mit einem russischen Liberalen
Interview von Artur Leier mit Dr. Ilja Graschenkow
- Wie bewerten Sie das Resultat der russischen Parlamentswahlen und das schwächere Abschneiden von „Einiges Russland“?
Nach Umfragen russischer Meinungsforschungsinstitute hätte Einiges Russland bis zu 20% der Plätze verlieren müssen. Die Zustimmungswerte der Partei sind von fast 50% auf unter 30% gefallen. Doch im Wahlresultat verloren sie lediglich 5%. Die Gründe sind einfach: Den letzten Monat vor den Wahlen hat Putin sie durch seine aktive Beteiligung mit seinen hohen Zustimmungswerten gestärkt und das Ergebnis ist eher ihm zu verdanken. Auch die Beteiligung von zwei der bekanntesten Minister hat sich positiv ausgewirkt – Lawrow und Schoigu. Diese hatten weder mit der Rentenreform, noch mit anderen unbeliebten Maßnahmen zu tun.
- Wie sehen Sie die Entwicklung der russischen Opposition in den nächsten Jahren? Gerade vor dem Hintergrund, dass die KPRF nun mit Abstand stärkste Oppositionskraft ist.
Die Opposition konnte ihre Kräfte nicht vereinigen. Soziologen schätzten die Proteststimmung auf 30%, wovon aber ein Drittel verlorenging. Die KPRF versuchte das „strategische Wählen“ von Nawalny zu nutzen, wurde aber von liberalen Wählern nicht akzeptiert. Das Resultat der KPRF war gut, fast 20%, aber deutlich unter dem eigentlichen Potenzial. Außerdem hätte die Opposition die Wahlbeteiligung drücken und die Wahlen damit delegitimieren können. Stattdessen tat sie das Gegenteil und gewährleistete eine ausreichende Wahlbeteiligung.
- Die liberalen Kräfte in Russland scheinen vielfältig: Es gibt mit der Partei „Neue Leute“ nun eine neue, wirtschaftsliberale Kraft in der Staatsduma. Destruktive Akteure wie Nawalny sind vor allem medial aktiv. Welche politische Perspektive bieten die Liberalen der russischen Bevölkerung?
Wichtig ist der Einzug der Partei Neue Leute in die Staatsduma, welche dort seit 2003 erstmalig eine liberale Fraktion stellen. Dies lässt hoffen, dass sich nach dieser Legislaturperiode, bei den Wahlen 2026, die Tendenz zur „liberalen Wende“ der Duma verstärken wird. Nawalnys Angebot sind westliche Werte und der Liberalismus. Aber braucht die Mehrheitsbevölkerung das? Gerade in den Dörfern und Kleinstädten, in denen es keine Arbeit gibt und die Menschen von staatlichen Leistungen leben? Die Antwort lautet: Nein. Es gibt aber einen Wunsch nach Wandel. Darauf antwortet die Partei Neue Leute, die sagt, dass unser Land seit 10 Jahren auf dem falschen Weg ist. Aber wohin soll es gehen? Es braucht eine liberale Wende, in die Zeit vor 2014, als die Souveränität unserer Demokratie noch nicht bedeutete, dass wir uns mit der gesamten westlichen Welt streiten müssen.
- Wie bewerten Sie die Zerstörungen und den Raubzug am Volkseigentum, das Erstarken von Oligarchen und die Destabilisierung, die im Russland der 90er Jahre unter liberaler Flagge durch die Regierung Jelzin angerichtet wurden? Ist der Liberalismus in Russland damit für immer diskreditiert?
Natürlich, die Schocktherapie von Gaidar [Anm.: Jegor Gaidar, Wirtschaftsminister unter Jelzin] hat den Glauben in die Demokratie zerstört und dann hat Jelzin selbst das Parlament beschossen. Haben also Kommunisten 1991 und 1993 die Demokratie verteidigt? [Anm.: Russische Verfassungskrise vom 21. September bis 4. Oktober 1993] Ich erinnere auch an die Wahlen 1996, als Jelzin faktisch autoritär zum Präsidenten gewählt wurde. Und ja, die Jelzin-Oligarchen sind auch heute noch da. Selbst Putin ist eine Folge der Jelzin-Demokratie.
Aber auch die Rückkehr in eine Gesellschaft linker Ideen und Stimmungen ist eine ernsthafte Herausforderung. Heute versammeln sich einige Liberale hinter der KPRF und verschließen die Augen davor, dass sie unter dem Banner Stalins stehen. Doch was passiert wenn die KPRF siegt? Wird es eine Wiederholung der UdSSR geben, mit Einparteiensystem? Eine Rückkehr zum Eisernen Vorhang? Deshalb ist die Regierung – in Abgrenzung zu sozialistischen und sowjetischen Stimmungen – heute der oberste Liberale, muss sich aber verteidigen und baut als Folge einen Polizeistaat. Unser Land braucht eine Normalisierung und die Stärkung konstruktiver Kräfte. Wir brauchen eine Liberalisierung, aber ohne Putsch. Die Partei Neue Leute ist ein solcher Versuch, in die Welt der Normalität zurückzukehren.
Dr. Ilja Graschenkow ist Politologe und schreibt für das liberale Portal „Echo Moskaus“
Artur Leier ist Mitglied des Vorstandes des Landesverbandes Nord des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild: Ilja Graschenkow
Foto: TASS