Deutschland nach der Wahl ’21
So viele offene Baustellen und kein Bauarbeiter weit und breit
Alle Parteien, die jetzt an Koalitionen basteln, beanspruchen für sich, zukunftsorientiert zu sein. Keine davon geht die wirklichen Probleme des Landes an. Und sie alle haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht, wenn sie davon ausgehen, die Machtverhältnisse auf der Welt blieben so, wie sie waren.
von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 28.09.2021 auf RT DE
Jeder kennt das Bild: abgesperrte Baustellen auf den Straßen, auf denen Maschinen stehen, aber weit und breit niemand arbeitet. Langsam, aber sicher verwandelt sich die ganze Republik in eine solche Baustelle. Und die jüngsten Wahlen werden nichts daran ändern.
Mehr noch – es werden neue Baustellen dazukommen. Die Bundestagswahl hat dafür die besten Voraussetzungen geschaffen. Man muss sich nur einmal vorstellen, die grünen Fantasien, die Kohlekraftwerke sofort abzuschalten und gleichzeitig auf Nord Stream 2 zu verzichten, würden Wirklichkeit. Obendrauf noch eine fette CO2-Steuer, und man kann im ersten kalten Winter Wetten abschließen, wann die ersten Schlagzeilen von in ihrer Wohnung erfrorenen Rentnern künden.
Nein, das ist jetzt weder Satire noch Scherz. Die deutschen Energieversorger beschaffen sich ein wenig Extraprofit durch Spekulation auf den Spotmärkten für Erdgas, und füllen die Speicher daher langsamer als üblich. Schließlich kann man ja mit Verweis auf diese Preise dann auch den Endkunden mehr abknöpfen. Dass das alles nicht stattfände, wenn die Energieversorgung öffentlich wäre und nicht privatisiert, interessiert in dieser Republik keinen mehr. Oder hat hier irgendwer lautstark die Wiederverstaatlichung der Gas- und Stromversorgung gefordert?
Weil es sich nicht mehr um eine öffentliche Versorgung handelt, gibt es diese Sonderabgabe für erneuerbare Energien. Die im Grunde eine Verbrauchssteuer ist, wie die CO2-Steuer auch, also eine Mehrwertsteuer auf Grün, und genauso sozial wie andere Verbrauchsteuern, nämlich gar nicht. Aber es muss ja Gewinn herausspringen, aus Windrädern und Solaranlagen. Wenn sie keinen Gewinn mehr bringen, werden sie stillgelegt. Hat sich schon jemand gefragt, wie viele Generationen lang man das Spiel betreiben kann, immer neue Betonsockel in Äckern zu versenken? Vier, fünf?
Aber das fällt ja nicht auf, weil dank Biogasproduktion die landwirtschaftliche Fläche dieser Republik längst nicht mehr zur Nahrungserzeugung genutzt wird. Dafür gibt es die Nachbarländer, genau wie für den Atomstrom, der gebraucht wird, um trotz der Schwankungen in der Wind- und Sonnenenergie die Grundlast noch sicherzustellen. Was, wenn die ganze glorreiche EU den Bach heruntergeht? Dann gibt es ein Land, dessen Bewohner dumm aus der Wäsche schauen. Dreimal dürft ihr raten…
Baustellen über Baustellen. Nehmen wir mal die Bildungspolitik. Seit vielen Jahren wird beklagt, dass es zu wenig Ingenieure und Naturwissenschaftler gäbe. Aber das sind typische Aufsteigerstudiengänge; die Bürgerkinder studieren eher Theaterwissenschaften oder Gender. Und die Aufsteiger gab es, als das BaFöG noch funktionierte, kein Kredit war und damit für Arbeiterkinder nutzbar. Bringt irgendwer in der Politik diese beiden Tatsachen miteinander in Verbindung? Aber sich darüber beklagen, dass die Patente, die in Deutschland eingereicht werden, abnehmen.
Wir konnten alle zusehen, die letzten zwei Jahre, was aus einer Wissenschaft wird, die vollends in die Hände der Konzerne geraten ist. Nicht nur durch die sogenannten „Drittmittel,“ die an die Stelle ordentlicher steuerfinanzierter Budgets getreten sind; auch durch die Gremien, die man über die Selbstverwaltung der Universitäten gesetzt hat, in denen Wirtschaftsvertreter entscheiden dürfen, welche Fächer überhaupt unterrichtet werden. Das Einwerben der Drittmittel ist zum karriereentscheidenden Faktor geworden; Aufstieg per Bückling, sozusagen, wie zu feudalen Zeiten. Unabhängigkeit der Forschung würde auch Unabhängigkeit gegenüber Konzerninteressen voraussetzen; genau das wurde in den letzten 30 Jahren konsequent geschliffen. Und ja, die meisten Forscher haben dabei willig mitgespielt; schließlich lockten ja Erträge aus Patenten.
Oder die Renten. Redet irgendwer dabei über das Thema Lohnentwicklung? Seit endlosen Jahren lassen sich bundesdeutsche Gewerkschaften Lohnzurückhaltung aufdrücken, und Leiharbeit, und Werkverträge… mit dem Ergebnis, dass die bundesdeutsche Lohnentwicklung im Vergleich zu jener der Nachbarländer um ein Drittel hinterherhinkt. Wäre dem nicht so, hätten die Rentenkassen ein Drittel höhere Beitragseinnahmen, und niemand könnte auch nur davon träumen, Rentenkürzungen zu planen. Stattdessen wird von jeder Bundesregierung weiter an den Renten geschnippelt.
Die ganze Wirtschaft wurde auf Export zugeschnitten; dazu diente es auch, die Löhne zu drücken. Jedes zweite in Deutschland produzierte Produkt wird exportiert. Solange alles gut geht, kann man das der Normalbevölkerung noch mit der Behauptung verkaufen, das sichere Arbeitsplätze. Aber was, wenn das nicht mehr gut geht? Mal abgesehen davon, dass die Bevölkerungsmehrheit davon keinen Nutzen hat – diese Exportquote ist völlig abhängig von der EU und diversen Freihandelsabkommen; ist das wirklich vernünftig?
Und was ist mit all den Kenntnissen, die verloren gehen und gingen, weil ganze Berufssparten jahrzehntelang kaum ausgebildet haben? Schon alleine daran würde eine zeitnahe Bewältigung des Wohnungsmangels scheitern. Letztes Jahr, als die Grenzen wegen der Corona-Maßnahmen tatsächlich weitgehend geschlossen waren, waren keine Elektriker oder Klempner mehr zu kriegen. Warum? Weil die alle plötzlich auf Baustellen arbeiteten, die sonst von auswärtigen Baukolonnen bearbeitet werden. Wer da einen kaputten Heizkessel hatte, oder einen verstopften Abfluss, sah mit dem Ofenrohr ins Gebirge, monatelang.
Wie ist das mit den E-Autos, die so groß beworben werden? In der Praxis hat sich längst herausgestellt, dass die Teile die Reichweite einfach nicht bringen, dass die Infrastruktur fehlt und auch nicht zu haben ist, weil es das Baupersonal nicht gibt. Und der gewaltige Strombedarf, der entstünde, würde das wirklich ein Hauptfortbewegungsmittel, mit Windrädern und Solarzellen garantiert nicht gedeckt werden kann.
Wie groß die Neigung zum Unfug ist, sieht man an den E-Bussen. Da gibt es eine Technologie, die tatsächlich vernünftig ist, aber sie ist eben alt; sie nennt sich Oberleitungsbus. Sie ist schon allein deshalb vernünftiger, weil ein solcher Bus keine zentnerschwere Batterie mit sich herumfahren muss. Und weil eine Energieübertragung ausfällt, und damit die Verluste geringer sind. Aber das ist eben nicht neu, das hatten schon unsere Großeltern, und darum…
Nochmal zurück zur Bildung. Die soll ganz toll inklusiv sein, aber nicht mehr kosten. Sie soll die exponentielle Entwicklung der Detailinformationen irgendwie einfangen, aber liefert kein Grundgerüst mehr, in das sich die Details sinnvoll einfügen ließen. Aber noch mehr Bruchstücke machen keine Bildung. Und man kann nicht gleichzeitig den Lehrstoff vereinfachen und auf gute wissenschaftliche Entwicklung hoffen. Wenn die Schülerschaft mehrsprachig ist, dann hilft nur wirklich guter Sprachunterricht von dafür ausgebildeten Lehrkräften, und wenn wissenschaftliches Denken gelehrt werden soll, braucht es dafür auch eine vernünftige Ausstattung in den Naturwissenschaften. Alles lange bekannt. Und was passiert real? Das Gegenteil.
Über die katastrophalen Zustände bei Gesundheit und Pflege muss man sich nicht länger auslassen, das dürfte inzwischen bekannt sein. Der Gipfelpunkt dabei ist das zunehmende Verschwinden von Geburts- und Kinderstationen. Und, wer von den vorhandenen Parteien wird daran wirklich etwas ändern? Die Fallpauschalen abschaffen, die Versorgung wieder auf öffentliche Basis stellen und das Pflegepersonal gut genug bezahlen, dass der Personalmangel wirklich gelöst wird, statt mal auf Pflegekräfte aus der Ukraine, mal auf welche aus Mexiko zu setzen?
Die einzige Partei, die bei der Verschrottung des Landes bisher noch nicht mitgewirkt hat, ist die AfD. Aber nicht mangels Willen, nur mangels Möglichkeit. Weil man sie noch nicht mitregieren ließ. Am Beispiel der Linken kann man sehen, wie schnell dabei ein Versuch entsteht, die Destruktion der anderen noch zu übertreffen.
Und dann diese NATO-Treue. Die inzwischen wichtiger ist als jedes soziale Problem, das haben die Grünen und die SPD schon vor der Wahl deutlich verkündet. Hauptsache, es wird weiter gerüstet und Krieg geführt. Dabei ist der große Bruder, dem man sich so vehement andient, gerade damit beschäftigt, seinen großen Absturz vorzuführen. Ein bisschen, ein kleines Bisschen strategischer Spielraum, sich umzuorientieren, statt ständig gegen Russland und China Front zu machen, wäre schon günstig. Weil die Zukunft dieses Landes, so es denn eine haben will, nicht an der Seite des stürzenden Hegemons liegen kann. Aber man pflegt lieber eigene Großmachtfantasien, statt zu versuchen, vielleicht doch mit Kooperation und Partnerschaft in andere Richtung irgendwie nicht mit in die Tiefe gerissen zu werden.
Irgendwie ist da nur noch Wahn und keine Wirklichkeit. Die ganze Industrieproduktion läuft auf „just in time“, also weitgehend ohne Lagerhaltung und mit viel ausgelagerter Produktion; aber ein Drittel der Autobahnbrücken ist marode, und da es nicht einmal das Fachpersonal für die Erneuerungen gibt, werden sie schrittweise gesperrt werden; LKW-Fahrer werden seit Jahren schon aus Polen, Tschechien oder sonst woher geholt, weil das ein wenig Lohn einspart; und das soll eine funktionsfähige Struktur sein?
Wenn man wirklich lachen will, muss man nur mal auf den Brenner-Basistunnel schauen. Der Anschluss auf deutscher Seite ist noch nicht einmal angefangen. Ein weiteres Beispiel, das an den Flughafen Berlin-Brandenburg erinnert.
Nur – wovon soll dieses Land leben, ohne Rohstoffe, mit einer ausgelagerten Nahrungsmittelerzeugung; wie soll eine Industrie funktionieren, ohne stabile Energieversorgung; was soll den gesellschaftlichen Reichtum bringen, wenn die reale Produktion verschwindet, und auch das Niveau der Forschung im Gegensatz zum lauten Geschrei von Exzellenz sinkt? Die Reichen des Landes schwimmen immer noch oben wie Fettaugen auf der Suppe, nur die Suppe selbst ist nur noch Wasser. Das geplante Modell, so, wie es am sichtbarsten die Grünen verkörpern, ist rein parasitär; das, was Margaret Thatcher in England vollzog, eine Abschaffung der Industrie und ihre Ersetzung durch einen gigantischen Finanzsektor, was auch in den USA in weiten Teilen passiert ist; nur – dieses Modell ist auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dann den andernorts erzeugten Reichtum abzupressen. Und für Otto Normalverbraucher sind allerhöchstens die Krümel von diesem Tisch vorgesehen.
Allerdings, als Thatcher die britische Industrie verschrottete, war der Westen auf dem Höhepunkt seiner Macht. Da war es noch vorstellbar, dass man die Kinder in Bangladesh für einen Hungerlohn arbeiten lässt und die Gewinne nach London verfrachtet. Wenn jetzt aber diese Länder durch die geopolitische Machtverschiebung in die Lage versetzt werden, die Erträge aus der dortigen Produktion im Land zu behalten, dann führt ein solches Erwerbsmodell nur noch ins Nirwana. Genau das ist der Grund für die stetig steigende Aggression Richtung China. Die Chinesen haben es eine Zeit lang zugelassen, die billige Werkbank zu geben und einen Großteil der Überschüsse abfließen zu lassen, um das zur Industrialisierung nötige Kapital zu bekommen. Das ändert sich gerade.
Und es ändert sich nicht nur in China. Von all den ungezählten offenen Baustellen ist das die größte. Ein ökonomisches Konzept, das auf der ungehinderten Ausplünderung anderer Länder beruht (und das gegenwärtige Deutschland schafft das sogar innerhalb der EU), wird sich nicht endlos halten lassen. Wenn es fällt, steigen die Rohstoffpreise, brechen die Lieferketten, und der Reichtum, der in einem Land erwirtschaftet wird, bleibt dort.
Aber hier wird fantasiert, man könne ja ökologisch sauberen Strom in Marokko produzieren. Oder durch das Verbot CO2-erzeugender Produktion die ärmeren Länder an der Entwicklung hindern. Vergesst es einfach. Diese Pläne sind bereits gescheitert.
Es gäbe viel zu tun mit diesen vielen, vielen Baustellen, bei denen es um das Wohl der Einwohner dieses Landes geht. Sich darum zu kümmern, würde zumindest den Aufschlag etwas abfedern, wenn das Modell des globalen Raubes untergeht. Aber noch ist niemand zu sehen, der auch nur einen Schritt in diese Richtung tut. Im ganzen Bundestag nicht, nicht im letzten und erst recht nicht im kommenden. Weit und breit kein Bauarbeiter. Aber viele Kalte Krieger.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Link zur Erstveröffentlichung: https://de.rt.com/meinung/124877-so-viele-offene-baustellen-und/
Bild: pixabay.com / geralt / Pixabay License