Arbeit & Soziales

Gendersprache: Placebo oder Kollaboration?

Sie ist das letzte Restchen, das vom einstigen Feminismus übrig geblieben ist, und seine Verfechterinnen laufen inzwischen Amok auf allen sprachlichen Ebenen. Als müsste die Wirklichkeit folgen, wenn man ihre Beschreibung in eine Richtung abändert. Nur, sie tut es nicht.

von Dagmar Henn

Erstveröffentlichung am 22.09.2021 auf RT DE

Ich war dabei, als die ganze Sache losging. Mitte der 1980er, also vor bald vierzig Jahren, war das ein Thema in Frauenzentren und unter Feministinnen, das Auftauchen oder Nichtauftauchen von Frauen in der Sprache. Damals gab es einige Sprachwissenschaftlerinnen, die zu dem Thema forschten, und reihenweise Beispiele brachten, wie Frauen aus der Wahrnehmung verschwinden konnten. Damals war es noch nicht lange her, dass die Berufsbezeichnung Krankenpfleger eingeführt wurde. Vorher hieß die Ausbildung Krankenschwester; aber kaum waren ein paar Männer unter den Auszubildenden, wurde die gesamte Berufsbezeichnung männlich.

Wir haben damals diese Dinge erfunden, das Zwischen-I beispielsweise. Oder damit experimentiert, wie Texte wirken, wenn nur noch weibliche Formen darin vorkommen. Aber – wir haben uns noch mit ganz anderen Fragen beschäftigt. Mit Gewalt in Beziehungen. Mit den Lebensbedingungen Alleinerziehender. Mit dem Paragrafen 218. Und mit dem Einkommensabstand zwischen Männern und Frauen. Dieses Sprachding, das war eher eine kleine Spielerei am Rande, ein Versuch, aufmerksam zu machen, indem man das gewohnte Denken etwas ins Stolpern bringt.

Und heute? Ist von all den Auseinandersetzungen, um die es damals ging und im Grunde noch heute geht, nur noch das Nebenproblem übrig. Nein, nicht in dem Sinne, dass alle anderen Fragen gelöst wären, mitnichten. Aber in dem, dass eine ganze Generation inzwischen völlig den Blick für die materielle Wirklichkeit verloren hat und sich darin ergeht, immer neue Varianten des Sprachspiels zu ersinnen, mit geradezu kabbalistischem Eifer. Als würde sich irgend etwas ändern, wenn man nur lange genug an den Worten schraubt.

Nur, damit klar ist, worüber wir reden, ein paar Zahlen. Selbst die Konrad-Adenauer-Stiftung gibt zu: „Zwischen Männern und Frauen unterscheiden sich die individuellen Nettovermögen deutlich. Männer verfügten 2012 über etwa 42 Prozent mehr Nettovermögen als Frauen. Diese Unterschiede entwickelten sich in den letzten zehn Jahren weitestgehend unverändert.“ Trotz Friede Springer, Liz Mohn und Susanne Klatten ist nur ein Drittel der Millionäre weiblich. Dafür sind es über 90 Prozent der Alleinerziehenden Frauen, und mehr als 40 Prozent davon leben in Armut.

Am Einkommensabstand zwischen Männern und Frauen haben die letzten vierzig Jahre nicht all zu viel geändert; der sogenannte Gender Pay Gap liegt in Deutschland immer noch bei 19 Prozent; 2018 war der Abstand zwischen Männern und Frauen in der gesamten EU nur in Estland höher. Vierzig Jahre beständigen Geredes von Gleichberechtigung haben nicht dazu geführt, dass diese Tatsachen, die immerhin den Alltag der allermeisten Frauen bestimmen, sich entscheidend geändert hätten.

Schlimmer noch. Die Erhöhung des Rentenalters ging vor allem auf Kosten der Frauen; bis zum Jahr 2000 lag das Renteneintrittsalter für Frauen noch bei 60, inzwischen wurde es auf 67 heraufgesetzt. Das heißt natürlich nicht, dass erst mit 67 in Rente gegangen wird; es heißt vor allem, dass Abzüge vorgenommen werden, die sich bei den niedrigeren Renten von Frauen noch deutlich unangenehmer bemerkbar machen. Immerhin liegt der durchschnittliche Rentenzahlbetrag bei Neurentnerinnen West nur bei 774 Euro, bei Neurentnerinnen Ost immerhin bei 1.058 Euro. Und selbst bei mindestens 35 Versicherungsjahren kommen die Frauen West auf nur 72 Prozent ihrer männlichen Kollegen. Dass es Rentnerinnen im Osten besser geht, ist ein Verdienst, aber nicht das der bundesdeutschen Politik.

Klar, für Akademikerinnen wurde es etwas besser, und vielleicht sind deshalb die Fans der Genderschreibung so blind für den sonstigen Zustand. Immerhin, über die Hälfte der Richter sind Frauen, auch wenn sie in den Bundesgerichten erst ein Drittel stellen. Mit rechtlichem Zwang wurde dafür gesorgt, dass sich auch in den Vorständen deutscher Unternehmen inzwischen mehr Frauen finden als in saudi-arabischen. Je nach Bundesland sind zwischen 20 und 31 Prozent der Universitätsprofessuren mit Frauen besetzt, allerdings eher die schlechter bezahlten Juniorprofessuren; bei den dauerhaften C4-Professuren sind es immer noch nur 11,4 Prozent.

Das ist der Zustand über hundert Jahre, nachdem Frauen in Deutschland allgemein zum Studium zugelassen wurden. Ich erspare den Lesern hier die Zahlen aus der DDR, das wäre endgültig zu peinlich.

Im Bundestag ist mittlerweile ein Drittel weiblich; auch das hat gedauert. Im allerersten Reichstag der Weimarer Republik waren es nämlich schon einmal acht Prozent; im Westen wurde dieser Wert erst 1980 wieder erreicht. Die Volkskammer der DDR hatte übrigens schon 1986 einen Frauenanteil von 32,2 Prozent.

Ja, das kann man sehr deutlich formulieren – die kleinen Verbesserungen, die es bezogen auf die Geschlechtergerechtigkeit in der Bundesrepublik gab, seit damals in den 1980ern, sind samt und sonders ein Erbe der anderen deutschen Republik, und in einigen Punkten, wie bei den Renten, auch nur auf diesem Gebiet real. Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik liegen die Dinge noch so, wie sie damals lagen, wenn man mal von den kleinen Fortschritten der akademischen Minderheit absieht.

Ob Sternchen oder Unterstrich oder Doppelpunkt, ob Islamist*innen oder Kriegsverbrecher*innen oder Nazi*innen – am liebsten würde ich allen, ja, beiden Seiten dieses dämlichen Spiels eins mit dem Knüppel auf den Kopf verpassen, wie der Kasper dem Krokodil. Nur, damit der Unfug endlich aufhört. Weil dieser Unfug gleichsam automatisch den Eindruck vermittelt, alles andere wäre kein Problem mehr. Weil er eine ganze Generation in einen Glaubenskrieg verstrickt, der für die wirkliche Welt etwa so bedeutend ist wie die scholastische Debatte, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz hätten, und gleichzeitig dafür sorgt, dass sich die künftigen Richterinnen und Professorinnen mit nichts weniger beschäftigen und identifizieren als mit dem Lebensalltag einer Verkäuferin oder alleinerziehenden Friseurin.

Klar, einige der derart Engagierten werden schon alleine deshalb hart auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen, weil sie sich eines Tages als alleinerziehende Mütter wiederfinden, und entsetzt feststellen, dass noch so viele Sternchen und Unterstriche nichts nützen, wenn das Geld wieder einmal nicht für die Kinderschuhe beim Aldi reicht. Dass sie beim besten Willen nicht das Einkommen erzielen können, dass sie für sich und die Kinder bräuchten, und der Unterschied zwischen den Männer- und den Fraueneinkommen auf einmal der zwischen einem unabhängigen Leben und dem regelmäßigen Antritt beim Jobcenter ist. Und dass sie die Grundsicherung im Alter schon fest gebucht haben, weil sich die Armut durch das weitere Leben durchzieht und die Rentenansprüche nicht ausreichen werden.

Und sie werden feststellen, dass die ganze Spielerei ganz nebenbei dafür sorgt, dass es keinerlei Anerkennung dafür gibt, wenn es ihnen trotzdem gelingt, ihre Kinder gut aufzuziehen. Weil alles, wirklich alles weiter oben auf der Liste der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit steht als dieses Hauptrisiko eines weiblichen Lebenslaufes, und ihnen die Sprachkapriolen sogar den Anspruch auf das Wort „Mutter“, das diese Leistung noch irgendwie abbildet, abgesprochen haben.

Unter all den Fantasien über Geschlecht als Konstruktion und völlig willkürlich wählbare Identitäten liegen immer noch harte Tatsachen, die sich dem individuellen Willen ganz entziehen. Die Schufa kennt keine Transfinanziellen, und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bemessen sich immer noch in Euro und Cent. Und an den kritischsten Punkten wird sichtbar, dass die extreme Form der Gendersprache, die tatsächlich das grammatikalische Geschlecht auslöschen will, in einer Gesellschaft, die real von sehr großen Unterschieden geprägt ist, nur eine Folge hat: dass diese Unterschiede nicht mehr benannt werden können.

Das konnte man schon miterleben, als die Alleinerziehenden, die auf Sozialhilfe angewiesen waren, plötzlich hinter dem Etikett „Langzeitarbeitslose“ verschwanden, weil dieses Etikett nun einmal auf dem ALG II klebte, das die Sozialhilfe ablöste. Wie soll man noch über diese Nöte, über die gesellschaftliche Schande dieser Nöte sprechen, wenn es nur noch „enz Elter“ gibt?

Die Hysterie der Sprachdebatte nahm in dem Ausmaß zu, in dem die Wahrnehmung für die wirklichen gesellschaftlichen Zustände abnahm. Sie ist bestenfalls ein Placebo, kein Heilmittel. Schlimmstenfalls ist sie ein Akt der Kollaboration mit der realen Ungleichheit, die damit vom Unausgesprochenen zum Unaussprechbaren wird.

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

Link zur Erstveröffentlichung: https://de.rt.com/meinung/124448-gendersprache-placebo-oder-kollaboration/


Bild: Aufkleber auf einem Hinweis­schild in Kiel an der Hörnbrücke (2015)
Foto:
Coyote III – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39411941