Die Dimension des nächsten Waffengangs
In der Rubrik Tagesdosis wurde am 06.07.2021 bei KenFM der Beitrag „Die Dimension des nächsten Waffengangs“ von Willy Wimmer veröffentlicht.
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Die Dimension des nächsten Waffengangs (Tagesdosis vom 06.07.2021)
Ein Kommentar von Willy Wimmer
Der 22. Juni 2021 bot noch einmal die Gelegenheit, geradezu “in-sich-zu gehen”. Die Welt erinnerte sich an diesem Tag an den Angriff des Deutschen Reiches auf die damalige Sowjetunion vor achtzig Jahren. Es war eine Erinnerung an unsagbares Grauen, dessen Zündschnur von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges gewusst und gewollt in “Versailles 1919” gelegt worden war, um sich der beiden möglichen Rivalen – Deutschland und das bolschewistische Russland, die Sowjetunion – zu entledigen. Die Bestimmungen von “Versailles 1919”, die Deutschland ohne Not knebelten, wirkten wie eine Tagesordnung, die ein bewusst geförderter Adolf Hitler nur abarbeiten musste, um den nächsten Krieg, der gewollt angesteuert worden war, entfachen zu können. Die Perfidie wird in vielen Umständen der damaligen Zeit deutlich. Aber in wenigen Umständen so offenbar, wie in den zeitgleich zu den Verhandlungen in Moskau durch den damaligen deutschen Außenminister von Ribbentrop geführten Verhandlungen einer französisch-britischen Delegation. Sie sollte nichts zustande bringen. Aus diesem Grunde hatte London den britischen Verhandlungsführer ohne jede Vollmacht nach Moskau geschickt. Der russische Präsident Putin und sein französischer Kollege, Präsident Macron, tun gut daran, auch in der heutigen Zeit die historische Erinnerung an die damaligen Geschehnisse gleichsam “wachzuhalten”, weil das nächste Unheil heranrollt. Alexander Sosnowski und ich haben das in unserem Buch “Und immer wieder Versailles” in aller Komplexität angesprochen.
Das wurde in den letzten Wochen mehr als deutlich. Nicht nur in den gezielten Provokationen von NATO-Schiffen im Schwarzen Meer in Hoheitsgewässern der Halbinsel Krim, die zu Russland gehört. Kurz zuvor war im walisischen Cornwall das G7-Treffen der führenden westlichen Industrienationen durchgeführt worden, nicht ohne durch den US-Präsidenten Joe Biden und den britischen Gastgeber, Premier Boris Johnson, in den gewünschten historischen Kontext gestellt zu werden. Es wurde nicht an den 22. Juni 1941 und das globale Verhängnis erinnert, sondern an die angelsächsische Allianz der “Atlantik-Charta” aus eben dem Jahr 1941 erinnert. Darin waren die angelsächsischen Kriegsziele in diesem Weltkrieg festgelegt worden. Ein klares, politisch-historisches Statement der Präsidenten und des Premiers, das sich deutlicher als je zuvor von der Geschichts-Ignoranz der deutschen Bundesregierung und des deutschen Staatsoberhauptes, des Herrn Bundespräsidenten, unterscheidet. Es war in den Jahren besonderer historischer Relevanz national und international aufgefallen, wie intensiv das politische Berlin “Versailles 1919” ebenso totgeschwiegen hatte wie die Erinnerung an das die Welt umstürzende sogenannte “Sykes/Picot” Abkommen aus dem Jahre 1916 der damaligen Kriegsgegner Frankreich und Großbritannien mit nicht nur der kolonialen Gestaltung des uns bekannten Nahen Ostens.
Dieses Abkommen mit seinen Ausführungen zu einer “jüdischen Heimstatt” im damaligen Palästina hatte dramatischen Auswirkungen auf den Ablauf des Ersten Weltkrieges, wie in St. Petersburg Ende des Ersten Weltkrieges geöffnete russische Archive zeigten. Es ist nach diesen Erfahrungen geradezu “Dramatik pur”, wenn der russische Präsident Putin auf seine Bereitschaft hinweist, die russischen Archive der Welt zur Verfügung zu stellen, um ein zutreffendes Bild der damaligen Entwicklungen zu erhalten. Man muss im Westen den Eindruck haben, dass durch Aggressionen gegen Russland alles unternommen wird, um das Öffnen der Archive in Moskau wegen der Auswirkungen auf die heutige Welt und das gezimmerte Weltbild zu verhindern. Die deutsche Bundesregierung nimmt einen erheblichen Anteil an dieser westlichen, geschichtsfernen Haltung. Versailles und noch mehr wurden geradezu totgeschwiegen. Vermutlich deshalb, weil das im heutigen Deutschland eine neue Nachdenklichkeit über die eigene Entwicklung hätte hervorrufen können. Das ist nicht gewünscht, wie man – bezogen auf den Zweiten Weltkrieg – daran erkennen kann, wie die entsetzlichen und durch den deutschen Angriff verursachten Auswirkungen auf das, was damals die “Sowjetunion” genannt wurde, im Vergleich zu anderen Gräueln einer vergleichbaren Dimension nicht als Grundlage für eine politische Verhaltensweise Russland gegenüber herangezogen werden. Man macht Unterschiede wo es der menschliche und erst recht der politische Anstand verbietet, Unterschiede zu machen. In nichts wird das so deutlich wie in der Erklärung der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, aus Anlass des 22. Juni 1941 an diesem Gedenktag vor einigen Tagen. Die Auswirkungen auf das Empfinden der damals betroffenen Völker sind gravierend und unverzeihlich, weil das politische Berlin sich der Geschichte unter allen Aspekten verweigert. Und das unter Umständen, wo mit dem heutigen Russland und dem heutigen Frankreich ehemalige Kriegsgegner des Zweiten Weltkrieges sich dieser Geschichte verantwortlich stellen.
Das ist keinesfalls Historie, an die bei Gedenktagen erinnert wird, um keine Konsequenzen daraus zu ziehen. Das macht das ausdrückliche Gedenken an die “Atlantik-Charta” in Cornwall deutlich. Diese Diskrepanz wird in mehrfacher Hinsicht unsere unmittelbare und ferne Zukunft bestimmen. Beides geht auf diesem Globus nicht: als Konsequenz aus der Menschheitskatastrophe “Zweiter Weltkrieg” einerseits die Charta der Vereinten Nationen” hochzuhalten, andererseits im Rahmen dieser Charta den Siegeszug der “Atlantik Charta” auf dem Globus zu vollenden. Die Charta der Vereinten Nationen wollte vor dem Hintergrund der globalen Entwicklung des letzten Jahrhunderts bis zum Ende des Krieges gegen Japan im Sommer 1945 die Konsequenzen daraus ziehen, dass Krieg in der schrecklichsten Konsequenz Generationen bestimmte. Die Welt sollte so gesehen werden, wie sie bei allen Unterschieden nun einmal ist. Im Gewaltmonopol des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen manifestierte sich der Gedanke, Krieg auf dem Globus unmöglich zu machen. Von Menschenrechten bis hin zur Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln sollte alles unter dem einen, gemeinsamen Dach stattfinden. Kooperation und nicht waffenfähiges Verhalten sollte bestimmend sein. Diese Grundeinstellung wurde im Frühjahr 1999 mit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien zerstört und seither nicht wieder hergestellt. Die Atlantik-Charta mit ihrem angelsächsischen Dominanzverhalten, verbunden mit dem Commonwealth und der amerikanischen Fähigkeit, Zwangskoalitionen herzustellen, stoßen auf Mächte, die in sich bereits diese Fähigkeiten global unter Beweis stellen können und nicht bereit sind, fremde Interessen für sich verbindlich zu erklären. Anlässlich der Feierlichkeiten in Beijing zum einhundertsten Jahrestag der Gründung der chinesischen KP wurde diese Grundfrage als zentrales, globales Element manifestiert. Die russische Haltung entspricht dem ebenso wie das Verhalten Indiens in den letzten dreißig Jahren zu “shareholder value”. Wenn Deutschland nicht zu einer “Reste-Rampe an eigener Staatlichkeit” verkommen will, muss es einen Beitrag zur Vermeidung des nächsten Weltkrieges leisten. Das geht allerdings mit der Berliner Politstruktur nicht.
Willy Wimmer (CDU), ehem. Bundestagsabgeordneter
sowie Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung,
1994 bis 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)
Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
Link zur Erstveröffentlichung bei KenFM: https://kenfm.de/die-dimension-des-naechsten-waffengangs-von-willy-wimmer/
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