„Regelbasierte Ordnung“: Die Rückkehr der Kolonialherren
Wo vor einigen Jahren noch vom Völkerrecht und seiner Geltung gesprochen wurde, ist heute von der regelbasierten Ordnung die Rede. Der Ausdruck hat den Verweis auf das Völkerrecht nahezu völlig ersetzt. Aber was ist damit gemeint?
von Gert Ewen Ungar
Erstveröffentlichung am 18.07.2021 auf RT DE
Die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode den Begriff des Völkerrechts weitgehend durch die Rede von der „regelbasierten Ordnung“ ersetzt. Während der Begriff Völkerrecht konkret ist, bleibt der Begriff „regelbasierte Ordnung“ schwammig. Das Völkerrecht wurzelt in der Charta der Vereinten Nationen. Es gibt konkrete Institutionen, die die Einhaltung des Rechts überwachen und die Charta beständig auslegen. Daran angelagert ist daher eine Vielzahl von völkerrechtlich bindenden Verträgen und Resolutionen.
Was mit „regelbasierter Ordnung“ gemeint ist, bleibt dagegen unklar. Ist es die Gesamtheit der UN-Resolutionen? Sind es die Organe der UN? Sind es die völkerrechtlich bindenden Verträge? Sind es die transnationalen wirtschaftspolitischen Organisationen wie Weltbank, Welthandelsorganisation und IWF, die die Wirtschaftspolitik und Finanzpolitik ihrer Mitgliedsländer harmonisieren, koordinieren und Streit schlichten sollen? Ist es das kaum kodierte Gewohnheitsrecht der Staaten? Was ist mit „regelbasierter Ordnung“ gemeint?
Auch nach dieser Auskunft bleibt es weiterhin schwammig. Die völkerrechtlich bindenden Verträge sind mit dem Ausdruck „regelbasierte Ordnung“ jedenfalls nicht vorrangig gemeint.
Ein Problem des Völkerrechts und der sich daran anschließenden Vereinbarungen ist die Auslegung. Es gibt kein letztinstanzliches Weltgericht, das das Völkerrecht anwendet und auslegt. Die konkrete Auslegung ist die Sache der Staatengemeinschaft. Ein verbindliches Regelwerk, auf das sich die Staatengemeinschaft einigt, das Klarheit in Auslegungsfragen schaffen würde, wäre möglicherweise wünschenswert. Die Idee der regelbasierten Ordnung ist daher nicht grundfalsch. Was die Antwort der Bundesregierung auf die Frage Hunkos jedoch aussagt, so handelt es sich bei der regelbasierten Ordnung um die Erweiterung konkreter Regeln um einen moralischen Faktor, der aber schwer fassbar bleibt. Das ist problematisch und wenig hilfreich.
Aus dieser unscharfen und moralisch aufgeladenen Begriffsbestimmung ergibt sich gerade für Deutschland ein weiteres Problem. Denn während Deutschland unablässig die regelbasierte Ordnung als Rahmen anruft, verweigert sich gerade Deutschland der konkreten Ausformulierung dieser Regeln. Es bleibt absichtsvoll im Diffusen.
Aber eines muss natürlich auch klar sein: Will man eine Ordnung, die auf vereinbarten Regeln basiert, dann haben diese Regeln selbstverständlich für alle zu gelten. Aber genau das will die Bundesregierung allem Anschein nach nicht. Das wird einerseits deutlich am Umgang mit dem transatlantischen Partner USA. Gegen dessen Agieren, gegen die Bombardierung Syriens beispielsweise hätte die Bundesregierung ihre Auffassung von regelbasierter Ordnung deutlich machen müssen, denn das Bombardement verstößt klar gegen die bisherige Auslegung des Völkerrechts. Sie tat es nicht.
Auch im Hinblick auf Regelverstöße durch die östlichen Partner wie die Einschränkung der Pressefreiheit und die diskriminierende Sprachgesetzgebung in der Ukraine und im Baltikum schweigt die Bundesregierung beharrlich. Dabei sind hier fundamentale Rechte betroffen: die Presse- und Meinungsfreiheit sowie der Minderheitenschutz wie er neben der europäischen Menschenrechtskonvention auch im UN-Zivilpakt gefasst wird. Die Bundesregierung jedoch teilt ihren östlichen Partnern ihre Auslegung dieser völkerrechtlichen Verträge regelmäßig nicht mit und lässt sie gewähren.
Trotzdem wirken Deutschland und die EU nicht auf die EU-Mitgliedsländer im Baltikum ein, ihre Verherrlichung und Relativierung des Faschismus zu unterlassen. Nun mag man einwenden, dass Deutschland sich bei der Abstimmung beschämenderweise enthalten hat. Aber als von der Mehrheit angenommene Resolution müsste sich auch Deutschland für die Umsetzung stark machen, wenn es mit seinem Eintreten für eine regelbasierte Ordnung ernst genommen werden will. Die Bundesregierung tut das nicht. Die regelbasierte Ordnung gilt nur für die anderen.
Das ist nicht einfach nur einseitig. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, bei der Rede von der regelbasierten Ordnung gehe es weniger um die tatsächliche Ausgestaltung einer Ordnung unter gleichberechtigten Partnern als vielmehr um die Etablierung eines moralischen Arguments, um darüber harte Maßnahmen gegen andere Staaten zu legitimieren. Es geht um die Instrumentalisierung des Völkerrechts zur Ausdehnung der eigenen Einflusssphäre. Wenn die Bundesregierung „regelbasierte Ordnung“ sagt, meint sie Machtpolitik.
In diese Richtung deutet auch eine deutsch-französische Initiative mit dem Namen „Allianz für Multilateralismus“. Die Allianz ist ein offenes Netzwerk von Staaten, die ein Wertesystem teilen, erfährt man auf der Internetpräsenz des Auswärtigen Amts. Es ging beim letzten Treffen der Allianz am Rande der UN-Generalversammlung um Themen wie Gendergerechtigkeit und Klima, um die Herausforderungen der Digitalisierung und natürlich auch um die COVID-19-Pandemie und ihre Auswirkungen.
Die ist allerdings in der Krise und in zunehmendem Maße verantwortlich für Krieg, Flucht, Vertreibung, Ungleichheit und eine Verschärfung der sozialen Gegensätze in jenen Ländern, die sich den Liberalismus auf die Fahne geschrieben haben. Die liberale Weltordnung steht für westliche Dominanz und der Ausdruck steht in zunehmendem Maße auch für das Scheitern dieser Ordnung.
So weist der Leiter der steuerfinanzierten „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP), die die Bundesregierung berät, in einem Beitrag für die Süddeutsche darauf hin, dass auf internationalem Parkett der Begriff „liberal“ zu vermeiden sei, weil er jede Diskussion sofort töte. Er ist inzwischen derart unattraktiv, dass bei seiner Nennung das Interesse am Thema unmittelbar erlischt. Entsprechend findet er sich bei der „Allianz für Multilateralismus“ nicht.
Allerdings kann das kaum darüber hinwegtäuschen, dass es neben der Stärkung des Einflusses von Deutschland und Frankreich in der Generalversammlung auch darum geht, in den Ländern des Netzwerks der Allianz Mechanismen des Liberalismus zum Vorteil der beiden Länder zu installieren und zu stärken. Sogar die Vermeidung des Ausdrucks „liberale Ordnung“ ist inzwischen ein Hinweis auf den Versuch, sie durchzusetzen. Die Freiheit der Märkte und die Rede von der Demokratie sind gerade in der EU und dort vor allem in Deutschland derart miteinander verknüpft, dass sie gar nicht mehr voneinander getrennt gedacht werden können.
So bleibt der Verdacht erhalten, bei der Rede von der regelbasierten Ordnung ginge es lediglich um die Durchsetzung der Regeln des westlichen Liberalismus. Dieser Vorwurf ist nicht von der Hand zu weisen. Die regelbasierte Ordnung nach deutscher Lesart wirkt wie ein Instrument zur moralischen Disziplinierung nach völlig intransparenten Kriterien. Die deutsche Vorstellung von regelbasierter Ordnung etabliert asymmetrische Machtverhältnisse und dient der Durchsetzung westlicher Markt- und Kapitalinteressen. Es ist die Bundesregierung, die entscheidet, wer Regeln einhält und wer wegen Missachtung von Regeln zu bestrafen und zu sanktionieren ist. Es ist der Gestus des Kolonialherren, der über den Begriff der regelbasierten Ordnung in die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt ist.
Deutschland hat die Möglichkeit, einen Beitrag zur Stabilität der internationalen Ordnung zu leisten, aber die deutsche Politik muss sich dazu ehrlich machen. Sie muss dazu in einen echten Dialog eintreten und die Idee der eigenen Vormachtstellung aufgeben. Sie muss sich auch davon verabschieden, dass deutsche Außenpolitik zunächst der heimischen Wirtschaft zu dienen hat. Vor allem aber muss sie das Messen mit zweierlei Maß sein lassen, denn das moralische Argument ist angesichts der vielfachen Regelverletzungen des Westens und gerade auch Deutschlands für die Mehrheit der Weltgemeinschaft vor allem eines: durchsichtige Heuchelei.
Gert-Ewen Ungar, Jahrgang 1969, studierte in Frankfurt am Main Philosophie und Germanistik, lebt jetzt in Berlin und arbeitet als Pädagoge in der Sozialpsychiatrie.
Er ist regelmäßiger Autor bei RT DE.
Link zur Erstveröffentlichung auf RT DE: https://de.rt.com/meinung/120832-regelbasierte-ordnung-rueckkehr-kolonialherren/
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