Warum blüht der Sumpf? – Die Wurzeln der Corona-Skandale
Nach den Masken sind es nun die Testzentren. Die ganze COVID-19-Pandemie entwickelt sich zu einer endlosen Kette finanzieller Skandale. Meist wird dann „Missmanagement“ kritisiert. Aber in Wirklichkeit ist es die logische Konsequenz jahrzehntelanger Politik.
von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 02.06.2021 auf RT DE
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn scheint ein Händchen dafür zu haben, die Tür für kriminelle Geschäfte zu öffnen. Die Regelungen zu den Bürgertestzentren, die in den letzten Tagen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten sind, sind ja beileibe nicht der erste solche Fall in den vergangenen 18 Monaten, seit Corona das Leben in Deutschland beherrscht. Davor kamen die diversen Maskenskandale, und davor wiederum die Meldungen über Kliniken, die sich an der Freihaltepauschale bereicherten. Viele Millionen Steuergelder wurden in Taschen gespült, für die sie nicht gedacht waren, und ein Ende ist noch lange nicht abzusehen.
Aber ist es wirklich nur Spahn, und ist es nur Corona? Ist es tatsächlich das Missmanagement einzelner Personen oder Ministerien? Die Liste solcher Vorkommnisse in den vergangenen Jahren ist lang, wie die der Beteiligten. Wer erinnert sich noch an den Beraterskandal einer Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen? An leerstehende Flüchtlingsunterkünfte, für die langfristige Mietverträge mit privaten Betreibern geschlossen wurden?
So eigenartig es klingt, hier muss man Spahn tatsächlich in Schutz nehmen. Denn die Entwicklung, dass sich an allen denkbaren und undenkbaren Stellen ein Sumpf der Korruption ausbreitet und Blüten treibt, ist das Ergebnis einer Politik, die über Jahrzehnte hinweg auf genau diesen Zustand hingearbeitet hat. Der ökonomisch (nicht sicherheitspolitisch) schwache Staat, den die neoliberale Politik angestrebt und geschaffen hat, ist es, der diesen Sumpf ermöglicht, ja ihn geradezu anlegt.
Nehmen wir das aktuelle Beispiel, die Testzentren. Flächendeckende Schnelltests kamen erst sehr spät zum Einsatz; im Frühjahr letzten Jahres waren sie – so damals die Begründung – nicht in ausreichender Menge verfügbar. Die vom Paul-Ehrlich-Institut erstellte Liste der zugelassenen Tests wird jedoch von chinesischen Herstellern dominiert, die mit Sicherheit bereits im vergangenen Jahr imstande gewesen wären zu liefern. Was allerdings damals noch nicht vorhanden war, ist ein reiches Geflecht an hiesigen Zwischenhändlern.
Diese Zwischenhändler beliefern jetzt die Testzentren, die ihrerseits je Test bis zu 18 Euro abrechnen können. Natürlich entstehen in den Testzentren nicht nur die Kosten für die Tests selbst; es braucht auch Personal, das die Tests durchführt und das ganze Verfahren mit der Kassenärztlichen Vereinigung abrechnet. Die wiederum erhält das Geld, das sie dafür dann bezahlt, vom Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS).
Nach Angaben des BAS, dessen Zahlen bisher nur bis zum 17. Mai reichen, unterscheiden sich die Bundesländer sehr in der Verteilung der Testzentren zwischen dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD), der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und Testzentren Dritter. In Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein dominiert die KV, in Nordrhein (ohne Westfalen) und Bayern der ÖGD und in Niedersachsen die Testzentren Dritter … Unter Letzteren finden sich die krimineller Methoden Verdächtigen.
Die Test-Infrastruktur wurde in aller Eile aus dem Boden gestampft, nachdem die Bundesregierung am 8. März plötzlich die „Bürgertests“ einführte. Am 9. März kommentierte die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg in einem Rundschreiben: „Das Bundesgesundheitsministerium hat zwar über die Medien über das Wochenende und auch gestern intensiv die kostenlosen Schnelltests für die Bevölkerung angekündigt. Die dazu erforderliche, ab Montag gültige Rechtsverordnung (…) wurde aber erst am Montag im Verlauf des späteren Vormittags auf Drängen der KBV vorgelegt (…). Für uns ist dieses Vorgehen völlig inakzeptabel.“
Also, nachdem uns Corona ein ganzes Jahr begleitet hatte, fiel dem Bundesgesundheitsministerium plötzlich ein, Schnelltests müssten für alle verfügbar sein, und es wird eine Verordnung übers Knie gebrochen, die dem Betrug Tür und Tor öffnet. Warum wurde nicht früher reagiert und geplant?
Weil offensichtlich in der ganzen Struktur des Bundesgesundheitsministeriums niemand mehr übrig ist, der imstande ist, wie ein Staat zu denken. Was in diesem Fall bedeutet hätte, sich nicht nur frühzeitig über die Notwendigkeit solcher Tests im Klaren zu sein, sondern ebenso, sie unter staatlicher Regie durchzuführen. Also nicht einfach staatliche Mittel oder Mittel der Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen zu nehmen und demjenigen auszuhändigen, der gerade „Hier“ schreit.
Natürlich wäre das nicht so einfach gewesen, wie es einmal war. Selbst der Staat Bundesrepublik hatte einmal drei Millionen Beamte, die – und das unterscheidet Beamte grundsätzlich von Angestellten – dazu hätten verpflichtet werden können, diese Tests durchzuführen (der andere deutsche Staat, die DDR, hätte die Organisation solcher Dinge ohnehin mit Leichtigkeit gewuppt). Inzwischen sind es nur noch 1,7 Millionen, und die sitzen in Strukturen, die meist unterbesetzt sind; sie stehen nicht mehr so leicht zur Verfügung, wie das noch in den 1970ern der Fall gewesen wäre.
Der letzte Fall einer großen Verschiebung von Beamten fand 2005 statt, als man die verbliebenen Beamten von Bahn und Post in die Jobcenter zur Arbeitslosenverfolgung kommandierte. Das ist kein positives Beispiel. Aber grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass Beamte immer auch eine Personalreserve sind, mit der kritischen Situationen begegnet werden kann, eben weil sie abgeordnet werden können; und dass ein Staat, der sich müht, möglichst wenige Beamte zu haben, immer auch eine seiner Krisenreserven abbaut.
Das verhält sich nicht anders als bei den Krankenhausbetten. Wenn Kliniken nach rein ökonomischen Kriterien gesteuert werden, also danach, im normalen Dauerbetrieb möglichst keinen Leerlauf zu haben, dann haben sie keine Reserven für gesundheitliche Krisen, sei es nun die Grippe, eine Massenkarambolage auf der Autobahn oder Corona. Die Vorsorge für Katastrophenfälle ist aber eine der grundlegenden Aufgaben eines Staates und die allererste unter denen, die Legitimität erzeugen, und ein Versagen des Staates bei ebendieser Aufgabe sorgt logischerweise für den größten denkbaren Verlust an Legitimität.
Der erste Punkt, an dem die Umsetzung der Idee eines „schlanken“ Staates schmerzhafte Lücken hinterlassen hat, ist bei der Verfügbarkeit möglichen Personals für überraschende, aber existenzielle Erfordernisse.
Der zweite Punkt ist die ökonomische Tatenlosigkeit. Welchen vernünftigen Grund gibt es denn, die Mittel, mit denen das Testmaterial erworben wird, über das Bundesamt für Soziale Sicherung zur Kassenärztlichen Vereinigung zu den Testzentren über die Zwischenhändler bis zu den (überwiegend) chinesischen Herstellerfirmen laufen zu lassen und an jeder dieser Stellen entweder zusätzliche Verwaltungskosten zu generieren oder Gewinne einstreichen zu lassen, wenn der Staat ebenso gut direkt mit den Herstellern in Kontakt treten und die Ware erwerben könnte?
Man erinnere sich an die erste Runde des Maskenskandals. Damals ging es um Bestellungen des Bundes, die zu völlig überhöhten Preisen getätigt wurden, immer schön über hiesige Unternehmen, die weit überwiegend aber gar nichts anderes taten, als die in China erworbenen Masken zu einem Vielfachen des Einkaufspreises weiterzureichen … Als wäre niemand im ganzen BMG imstande, die Webseite von Alibaba zu bedienen und dann selbst zu verhandeln. Oder, wenn man Wert auf einheimische Produktion legt, eben selbst eine solche aus dem Boden zu stampfen.
So etwas hat der Staat früher einmal getan, das konnte und durfte er. Es ist reine Ideologie, die den mächtigsten ökonomischen Akteur dazu verdammt, abseits zu stehen und noch die eigenartigsten Windungen privater Geschäftemacherei hinzunehmen. Diese Ideologie ist seit Maggie Thatcher so tief auch in die deutsche Gesellschaft eingedrungen, dass Politiker und Verwaltung selbst dann dieses Muster nicht mehr verlassen können, wenn es dringend erforderlich wäre.
Doch selbst, wenn nicht unmittelbar der Staat handelt, gibt es noch vernünftige Zwischenstufen. In einem Interview mit der Passauer Neuen Presse beschrieb der Geschäftsführer der Malteser, wie diese und das Rote Kreuz dort ihre Teststation abrechnen: Sie erheben feste Stundensätze für das Personal und für das verbrauchte Hilfsmaterial und erhalten die Tests von der Stadt. Bei diesem Verfahren sind jedenfalls keine Anreize zum Betrug gesetzt.
Gehen wir zurück zur „Freihaltepauschale“. Das waren Zahlungen, die an Klinken geleistet wurden, um ihnen Verluste zu erstatten, die dadurch entstanden, dass Betten für mögliche COVID-19-Patienten freigehalten wurden. Diese Pauschale führte bei einigen Klinken dazu, dass sie ihren Normalbetrieb fast einstellten und das Geld aus der Pauschale einstrichen; schließlich waren so die Gewinne höher.
Das war allerdings keine Folge irgendeines Naturgesetzes, sondern politischer Entscheidungen. Klinken wurden zu gewinnorientierten Unternehmen gemacht, sie müssen es nicht sein. Jahrzehntelang funktionierte das Gesundheitswesen in Deutschland überwiegend auf der Basis von Kostenerstattungen; was anfiel, wurde bezahlt. Dann machte sich der Glaube breit, nach privatwirtschaftlichen Kriterien betriebene Krankenhäuser seien effizienter und – hier der völlige Trugschluss – kostengünstiger. Ein Blick in die USA hätte damals schon genügt, das Gegenteil als wahr zu erkennen; das dortige Gesundheitswesen ist das teuerste weltweit …
Der Haupteffekt dieser Umsteuerung war, dass immer mehr Kliniken privatisiert wurden und das, was eventuell eingespart wurde, jetzt als Gewinn in die Taschen der Eigentümer läuft, statt die Aufwendungen der Kassen zu verringern, und dass die Qualität an vielen Stellen deutlich nachließ. Der Nebeneffekt war, dass die für Notsituationen erforderlichen Reserven gestrichen wurden. Wenn man nun die Tatsache berücksichtigt, dass die ganzen Maßnahmen, die uns im letzten Jahr den Alltag versüßten, damit begründet wurden, die Klinken dürften nicht überlastet werden, stellt man fest, dass die Bevölkerung schon mehrfach für den Aberglauben der privatwirtschaftlichen Effizienz bezahlt hat.
Damit man den Leuten erfolgreich einreden kann, eine private Lösung sei besser, schneller und wirtschaftlicher, wurden die alltäglichen Verfahren im öffentlichen Bereich langsamer und unwirtschaftlicher gemacht. Das Stichwort hier lautet „Ausschreibung“.
Eine öffentliche Stelle ist verpflichtet, Aufträge über einem bestimmten Schwellenwert europaweit auszuschreiben. Eine europaweite Ausschreibung ist ein mühsames Verfahren – die Ausschreibung selbst muss mehrsprachig erfolgen, dann dürfen sich Bewerber melden, natürlich ebenfalls mehrsprachig; die Anforderungen, die gestellt werden dürfen, sind eng begrenzt; selbst im günstigsten Fall dauert die Abwicklung einige Monate. In diesen Monaten ist noch nichts geschehen. Mit etwas Pech muss die Ausschreibung noch einmal wiederholt werden, dann ist man mühelos bei einem reinen Verwaltungsvorlauf von einem Jahr.
Ein privates Unternehmen hat dieses Problem nicht und kann allein deshalb mit der Abwicklung eines Auftrags schon fertig sein, während die öffentliche Stelle noch in der Vergabeschleife hängt. Da diese Vorgabe überall gilt, und zwar nicht erst seit gestern, und zudem gerade die planerischen Teile der Verwaltungen bis an die Grenze der Handlungsunfähigkeit geschrumpft wurden, ist die konkrete tägliche Erfahrung der Bürger die, dass öffentliche Stellen Aufgaben nur sehr langsam lösen und private Unternehmen toll effizient sind; es handelt sich dabei aber um eine gezielt aufgebaute Täuschung.
Wenn dann eine Situation eintritt, in der diese Regel aufgehoben werden muss, weil dringlich gehandelt werden muss, und die sogenannte Freihandvergabe zulässig ist, trifft sie auf Personal, das gar nicht mehr weiß, wie es damit umgehen soll, und in einem Moment, in dem die Stärke des Staates zum Zuge kommen könnte, nur mit äußerster Schwäche zu reagieren weiß. Dann schlägt – wie beim Maskenkauf – die Stunde der externen Berater, die natürlich dafür sorgen, dass das Ergebnis im Interesse ihrer (Konzern-)Kundschaft ausfällt.
Weitgehend verschwunden ist auch das Wissen um die härteren staatlichen Maßnahmen (außer im Umgang mit dem Bürger). Beschlagnahmungen und Enteignungen spielen kaum eine Rolle; wenn aus dringendem öffentlichem Interesse eine Immobilie benötigt wird, wird sie brav gemietet, und zwar zu dem Preis, den der Eigentümer gerne hätte. Natürlich hat ein Eigentümer bei einem Mietvertrag ein Interesse an einer möglichst langen Laufzeit, während er bei einer Beschlagnahmung daran interessiert wäre, sie möglichst bald wieder zu beenden – die Konsequenz daraus waren leere Flüchtlingsheime oder Corona-Klinken, die Millionen verschlangen.
Spahn ist zwar mit Sicherheit nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber an dem fortschreitenden Staatsversagen, das wir momentan erleben dürfen, haben viele Hände mitgewirkt. Von den ersten Anfängen unter Helmut Kohls „geistig-moralischer Wende“ bis zum heutigen Zustand brauchte es mehr als eine Generation. Inzwischen ist die staatliche Maschinerie derart abgewrackt, dass ihr selbst der Gutwilligste nur noch ein Stottern entlocken könnte. Corona bringt das Elend nur ans Licht.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Link zur Erstveröffentlichung auf RT DE: https://de.rt.com/meinung/118371-warum-blueht-der-sumpf-die-wurzeln-der-corona-skandale/
Bild: pixabay.com / leo2014 / Pixabay License