US-Einflussnahme in Europa: Nicht Panik ist gefragt, wohl aber nüchternes Handeln
von Prof. Dr. Anton Latzo
[Erstveröffentlichung am 29.05.2021 auf RT DE]
In den Medien ist immer wieder der Hinweis zu lesen, dass im letzten Jahr die Mobilität der Menschen in Europa wegen Corona drastisch eingeschränkt, der Flugverkehr lahmgelegt, Arbeitsplätze beseitigt wurden. Aber ein Bereich hat, gegen den Trend, seine Mobilität stark erhöht: der militärische Bereich! Und das vor allem in Osteuropa, auf dem Territorium der ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten sowie ehemaliger Sowjetrepubliken, an den Grenzen zu Russland.
Dazu zählt ohne Zweifel das Großmanöver Defender-Europe 2021, ein Manöver der USA, an dem 25 europäische Alliierte und Partner der USA (etwa die Ukraine) teilgenommen haben und 28.000 Soldaten mit Panzern und Flugzeugen von Land zu Land gezogen sind. Außerdem findet die NATO-Übung Steadfast Defender 21 statt, an dem US-amerikanische und europäische Soldaten teilnehmen. Sie stellt den ersten groß angelegten Test für die beiden neuen NATO-Kommandos dar, dem Joint Support Command mit Sitz in Norfolk (USA) und dem Support Command mit Sitz in Ulm (Deutschland). Die Aufgabe dieses Kommandos „ist der Schutz der Atlantikrouten zwischen Nordamerika und Europa“, die – wie USA und NATO behaupten – durch russische U-Boote bedroht seien. Der EU ist dabei durch die USA auch eine wichtige „Mission“ zugedacht, d. h. eine Art militärischen Schengen-Raum zu schaffen, indem sie „die Infrastrukturen (Brücken, Eisenbahnen und Straßen), die nicht für das Gewicht oder die Größe schwerer Militärfahrzeuge geeignet sind“ entsprechend den militärischen Erfordernissen umbauen.
Damit wird aber Frieden und Sicherheit im globalen Maßstab bedroht, es werden die Interessen und die Souveränität der einzelnen Staaten in Ost- und Westeuropa untergraben und beseitigt und die gesamte euroatlantische Region wird in einen Vorbereitungsraum für Aggressionen umgestaltet.
Die USA nutzen die nach 1990 geschaffenen Bedingungen, um immer neue Instrumente zu schaffen, die der Sicherung ihrer Kontrolle über die politischen und gesellschaftlichen Vorgänge in den einzelnen Ländern und im gesamten osteuropäischen Raum dienen. Sie hoffen, diese Länder gleichzeitig sowohl gegen die konkurrierenden Bestrebungen der EU-Mächte als auch gegen China und Russland einsetzen zu können. Dazu gehören die militärischen Stützpunkte und Raketenstellungen in Polen und Rumänien, die Stützpunkte im Baltikum, der neue Drohnenflugplatz in Rumänien, die provozierenden militärischen Aktivitäten im Schwarzen Meer.
Dazu gehört aber auch, dass unter dem Deckmantel des Studiums infektiöser Krankheiten von den USA in diesen Ländern sogenannte wissenschaftliche Laboratorien betrieben werden, die vom US-Kriegsministerium, dem Pentagon, finanziert und kontrolliert werden. Russische Mikrobiologen und Politiker befürchten, dass in diesen Laboratorien, weit weg vom Territorium der USA und an den Grenzen zu Russland und China, an der Entwicklung biologischer Waffen gearbeitet wird, da diese zu den am wenigsten kontrollierten Massenvernichtungswaffen zählen. Der Mangel an Kontrolle hat dazu geführt, dass solche US-amerikanischen biologischen Laboratorien entlang der russischen Grenze in Osteuropa und im Kaukasus eingerichtet wurden. Die USA weigern sich, die 1972 abgeschlossene Konvention über das Verbot der biologischen und toxischen Waffen zu akzeptieren. Dafür bestehen und arbeiten ihre Labors in der Ukraine, in der Republik Moldawien, in Aserbaidschan, Armenien, Georgien, Kasachstan und Usbekistan.
Angesichts der COVID-19-Pandemie braucht man nicht unbedingt Mikrobiologe zu sein, um zu erkennen, dass diese Politik der USA, als Bestandteil ihrer anderen Aktivitäten, eine große existenzielle Gefahr nicht nur für die einzelnen Länder, in denen die Labors arbeiten, sondern für ganz Europa und sogar weltweit darstellt.
Auch an diesem Beispiel wird sehr deutlich, wie widersinnig, aber umso gefährlicher eine Haltung ist, die eine Gleichstellung der Politik der USA mit der Politik Chinas und Russlands vornimmt. Wer eine Position der Äquidistanz bezieht, erschwert sich selbst den Weg zu wirksamen Antworten auf die Gefahren und relativiert zugleich die Erfahrungen der Geschichte.
Eine „überparteiliche“ Taskforce, die vom Freedom House, dem Zentrum für strategische und internationale Studien (CSIS) und dem McCain Institute einberufen worden war, hat einen diesbezüglichen Bericht veröffentlicht. Darin entwickeln Führungskräfte, Experten und ehemalige Entscheidungsträger „praktische Empfehlungen für eine US-Strategie, die den Fortschritt der Demokratie und den Kampf gegen den Autoritarismus in den Mittelpunkt der amerikanischen Außen- und nationalen Sicherheitspolitik stellt“. Der Bericht soll laut den Autoren „sowohl ein Aufruf zum Handeln für die US-Führung als auch ein Fahrplan für einen praktischen, parteiübergreifenden Weg nach vorne“ sein. Darin entwickeln sie eine Sieben-Punkte-Strategie.
Punkt 1 verlangt, dass „verstärkte Unterstützung der Demokratie und Bekämpfung des Autoritarismus im Zentrum der US-Außenpolitik und der nationalen Sicherheit“ stehen soll. Punkt 2 fordert, „eine neue Führung in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte auf[zu]bauen und ein umfassendes Bündnis [zu] schaffen, um neue demokratische Allianzen zu stärken und aufzubauen“. Präsident Biden wird empfohlen, den Demokratiegipfel zu nutzen, um Verbündete zu rekrutieren, den Zweck zu definieren und Ambitionen und Ressourcen zu fördern.
Strategiepunkt 3 sieht vor: „Ausbau der Investitionen in die Säulen einer offenen, rechenschaftspflichtigen, integrativen und demokratischen Gesellschaft“. Als „Säulen“ werden „freie und faire Wahlen, unabhängige Medien und eine lebendige, aktive Zivilgesellschaft“ genannt. Neben verschiedenen Maßnahmen wird vorgeschlagen, in „einen großen Unternehmerfonds für unabhängige Medien“ zu investieren.
Viertens wird die „Führung bei der Entwicklung einer strategischen Agenda für die digitale Technologiepolitik für die demokratische Welt“ gefordert. Der „Wiederaufbau der internationalen Unterstützung für ein globales, offenes, sicheres und zuverlässiges Internet erfordert einen konzentrierten diplomatischen Fokus und eine starke US-Führung“. Neben inneren Maßnahmen sollen „demokratische Regierungen für eine gemeinsame Vision des offenen Internets, einen demokratischen Ansatz zur Regulierung digitaler Technologien und eine strategische Agenda für Technologiepolitik und Investitionen“ zusammengebracht werden. Fünftens wird verlangt, eine „Strategie“ zu entwickeln, „um das Vertrauen in die Informationsumgebung wiederherzustellen und der Verbreitung von Desinformation sowie Hass und Belästigung im Internet entgegenzuwirken“. Unter anderem sollten die USA dabei „eine globale Taskforce (…) einrichten, die gleichgesinnte Demokratien mit der Zivilgesellschaft und dem Privatsektor zusammenbringt“.
Sechstens wird zur „Bekämpfung von Korruption und Kleptokratie“ aufgerufen, „die zu Geschäftsmodellen für moderne Autoritaristen geworden sind“, die sich nach westlicher Sprachregelung natürlich vor allem in Osteuropa befinden und eine Politik verfolgen, die nicht den Ansichten der USA/NATO und der EU-Mächte entspricht. Das soll zu einer der „grundlegenden Säulen“ der Nationalen Sicherheitsstrategie gemacht werden.
Ein Blick auf die Außenpolitik von Präsident Biden in den ersten 100 Tagen zeigt, dass es sich in der Substanz um weniger Neues handelt, als manche es möchten. Kennzeichnend ist die Kontinuität in der Sache. Es geht darum, die Mechanismen zur Verwirklichung der hegemonialen Ziele im osteuropäischen Raum, den Eingriffsmechanismus, an die neuen Bedingungen (und Möglichkeiten) anzupassen, und dafür einen breiteren Werkzeugkasten zu schaffen. Es ist auch ein Plan, der auf verstärktes Heranziehen privaten Kapitals abzielt, um durch Intensivierung der neuen Medien und Manipulierung der Bevölkerung der einzelnen Länder aggressive außenpolitische Ziele zu erreichen. In den Ländern der Region sollen in nicht leicht zu durchschauenden Bereichen wie Bildung, Wirtschaft und Wissenschaft, in den Diensten aller bekannten und unbekannten Art, in der Justiz, aber auch in Politik und Medien solche Zustände geschaffen werden, die es ermöglichen, die Bevölkerung eines jeden Landes in jeder Situation zu manipulieren, damit sie „demokratisch“ Zielen zustimmt, die der Hegemonialpolitik der USA entsprechen. Im Grunde geht es darum, in den Ländern nach dem Vorbild der kolonialen Mächte zu handeln, dabei aber moderne technische und ideologische Mittel und Methoden in der ganzen Breite der Gesellschaft einzusetzen.
Die Länder der Region sollen als Plattform gegen Russland und China, die die USA ja nicht erst jetzt als Gegner bezeichnen, eingesetzt werden. Aber sie treffen dabei nicht nur auf die nationalen Interessen souveräner Völkerrechtssubjekte und ihrer nach Selbstbestimmung strebenden Bevölkerung, sondern auch auf die Interessen der EU-Mächte!
Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Link zur Erstveröffentlichung: https://de.rt.com/meinung/118049-usa-in-europa-nicht-panik-ist-gefragt-wohl-aber-ueberlegtes-handeln/
Bild: US-Soldaten des 2. Cavalry Regiment in Rancirov in der Tschechischen Republik, auf dem Wege zur Übung Saber Guardian in Ungarn, einem Teil des Manövers Defender 2021 (24. Mai 2021).
Foto: Ismael Ortega, Public Domain
Quelle: https://www.dvidshub.net/image/6661826/2d-cavalry-regiment-tactical-road-march